Читать книгу Forschen, aber wie? (E-Book) - Martin Kahle Ludwig - Страница 7
1.2 Von der Idee zur Fragestellung
ОглавлениеWie kommen Sie zu Ideen? Das ist die grosse Frage. Am besten beginnen Sie bei sich selbst: Was interessiert Sie besonders? Worüber möchten Sie mehr erfahren? Welche Fertigkeiten möchten Sie in die Tat umsetzen?
Verwenden Sie zur Ideensuche Kreativitätstechniken wie Brainstorming, Mindmapping, Clustering, Strukturbaum und Analogierad (vgl. Esselborn-Krumbiegel 2017, S. 37 f.[3]). Nützliche Hinweise bieten auch die Webseite maturaarbeit.net (Corthay et al.[4] 2018) und der Online-Leitfaden von Amnesty International, Greenpeace und Helvetas, der für Berufsfachschulen konzipiert wurde (2018).
Nehmen wir an, mithilfe der einen oder anderen Kreativitätstechnik sei bei Ihnen ein Thema in den Vordergrund gerückt, zum Beispiel das folgende: Auch in der Schweiz gab es früher verbotene Stadtteile, allerdings nicht wie die kaiserliche Residenzstadt in Peking, sondern riesige eingezäunte Industrieanlagen wie in Winterthur, Zürich, Baden und in vielen anderen Städten. Das Areal der Maschinenfabrik Sulzer AG Winterthur war abgeriegelt und nur für Angestellte zugänglich.
Daraus könnte zum Beispiel das Thema «Der Wandel von der umzäunten Industrieanlage zum trendigen Stadtquartier» gewählt werden, falls Sie diese Entwicklung interessiert. Dieses Thema ist aber sehr weitläufig, und deshalb muss es eingegrenzt werden.
Abbildung 1.1: Sulzer-Areal aus 100 Meter Höhe, 1934, Foto Walter Mittelholzer (1894–1937)
Alle betreuenden Lehrpersonen verlangen eine Eingrenzung des Themas. Von Ihnen wird das vielleicht eher als schmerzlicher Prozess erlebt. Die Notwendigkeit zur Konzentration auf eine eng begrenzte Fragestellung hat zum einen damit zu tun, dass Sie limitierte Ressourcen haben – zeitlich und finanziell.[5] Und zum andern möchte die Lehrperson Sie in eine echte Forschungssituation hineinführen. Denn wenn es Ihnen gelingt, auf eine spezifische Fragestellung zu fokussieren, dann ist die Chance gross, dass Sie erstens einen Prozess durchmachen, wie er sich in der «echten» Forschung ergibt, und dass Sie zweitens einen Mosaikstein zum Wissen und Verstehen innerhalb des gewählten Themas beitragen können.
Eine gute Zwischenstation bei der Themenfindung ist die Beantwortung von einigen «W-Fragen»: Was genau möchte ich machen? Wo möchte ich in die Tiefe gehen, wo möchte ich etwas ausloten? Warum tue ich es genau so und nicht anders? Je nach Forschungsgegenstand helfen weitere W-Fragen, das Thema einzugrenzen: Wann? (untersuchter historischer Zeitraum); Wie? (Methode, fachliches Verfahren) (vgl. ebenda[6], S. 63).
Die Fragen nach dem «Was?» und dem «Wann?» drängen im Beispiel «neues Stadtquartier» zur Entscheidung, ob der Niedergang der Maschinenindustrie oder die ersten Schritte zum Aufbau eines neuen Stadtteils im Zentrum stehen.
Mit der Antwort auf die Frage nach dem «Wo?» bestimmen Sie, ob zum Beispiel Sulzer in Winterthur, Escher-Wyss in Zürich oder Brown, Boveri & Cie. in Baden zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden soll. Wenn Ihr Wohnsitz in einer dieser Städte liegt oder in einer Stadt, die ähnliche Grossindustrieanlagen hatte, dann wird die Entscheidung leichter, denn je näher Sie sich an den Wissensquellen zu Ihrer Fragestellung befinden, desto einfacher kommen Sie an Informationen heran (Untersuchungsgegenstand, Archive, Personen und so weiter).
Das Thema in die Nähe rücken
Ihre Chancen, zu nützlichen Informationen zu kommen, sind grösser, wenn Sie lokale oder personelle Bezüge knüpfen können. Klären Sie ab, ob Ressourcen wie Archive, Laborräumlichkeiten oder Expertinnen und Experten zugänglich sind.
Im Bereich der Naturwissenschaften gibt es manchmal noch eine weitere Möglichkeit, ein komplexes Thema zu erarbeiten.
In vielen Entwicklungsländern wird den Menschen empfohlen, das mikrobakteriell verschmutzte Wasser, das ihnen häufig als einziges Trinkwasser zur Verfügung steht, in PET-Flaschen abzufüllen und diese Flaschen auf einem heissen Wellblechdach einige Stunden an die pralle Sonne zu legen (vgl. Wikipedia, Stichwort «SODIS»).[7] In diesem Zusammenhang könnte es für Sie vielleicht interessant sein, die antibakterielle Wirkung der UV-Bestrahlung auf einen bestimmten Krankheitserreger zu untersuchen.
Das Thema «Wasserreinigung durch UV-Bestrahlung» durchläuft anschliessend den gleichen Prozess der thematischen Fokussierung durch die «W-Fragen». Bei der Frage nach dem «Wie?» liegt es auf der Hand, dass Sie als Erstes mit Ihrer Biologielehrperson in Erfahrung bringen, ob ein derartiges Untersuchungsvorhaben mit den Mitteln, die Ihnen in der Schule zur Verfügung stehen, überhaupt durchführbar ist. Weiter gilt es abzuklären, ob Sie eine Chance haben, von einem speziellen Forschungsinstitut unterstützt zu werden, beispielsweise von der eawag aquatic research.[8]
Betreuende Lehrperson und Forschungsinstitute anfragen
Gemeinsam mit der betreuenden Lehrperson finden Sie die passende Kombination der anzuwendenden Verfahren, und vielleicht kann sie Ihnen − falls gewisse Untersuchungen nicht im Schullabor durchgeführt werden können − den Weg zu einem Forschungsinstitut ebnen.
Noch bevor Sie die genaue Fragestellung formulieren oder das Ziel festlegen, das Sie mit Ihrer technischen Produktion erreichen möchten, empfiehlt es sich, den Blick nochmals zu weiten. Das wird anhand des folgenden Beispiels erklärt.
Die Sängerin Joan Baez setzt sich in ihren Liedern und in ihren politischen Aktivitäten pointiert gegen die Rassendiskriminierung und für den Pazifismus ein (vgl. ihre Webseite: www.joanbaez.com und die Anleitung im Literaturverzeichnis unter Baez, Joan).
Falls Sie nun als Maturaarbeit einige ihrer Lieder auf pazifistische Aussagen hin analysieren wollen, dann müssten Sie sich die Frage stellen, ob Sie die Haltung von Joan Baez zuerst breit zu erfassen versuchen, damit Ihnen kein wichtiger Aspekt entgeht, oder ob Sie schon gezielt auf einige Songs eingehen wollen. Eine anfängliche Breite und eine Fokussierung erst im zweiten Schritt ist in den meisten Fällen vorzuziehen.
Abbildung 1.2: Joan Baez 2018
Sie gehen vom Kern Ihrer Idee aus und fragen sich, welche Bereiche Sie unbedingt einbeziehen müssen und welche Sie vorerst weglassen können. Dieses sorgfältige Abwägen des Untersuchungsbereichs bewahrt Sie einerseits davor, etwas zu vergessen, das unabdingbar zu Ihrer Idee gehört, und andererseits davor, sich in Nebenthemen zu verlieren.
Nach dieser Ausweitung und der anschliessenden Eingrenzung kommt nun eine zweite Fokussierung, in der Sie die Fragestellung formulieren. Die Fragestellung ist Ihr Kompass während der ganzen Arbeit. So wie Sie sich auf einer Trekkingtour nur mit Kompass oder GPS ausgerüstet in ein grosses Waldgebiet hineinwagen, brauchen Sie auch für Ihre Forschungsarbeit eine zentrale Fragestellung, damit Sie nie vom Weg abkommen und das Ziel sicher erreichen (vgl. Alagöz-Bakan, Knorr & Krüsemann 2015, S. 74).
Arbeiten des Typs «Untersuchung» haben immer eine Fragestellung. Bei Arbeiten des Typs «technische Produktion» übernimmt ein Anforderungskatalog diese Funktion.
Nun geht es darum, die Fragestellung in einer These oder Hypothese zu konkretisieren. In den Wissenschaften, in denen Erfahrungen der Menschen und ihre Werke im Zentrum stehen, beispielsweise in der Geschichts-, Literatur- und Kunstwissenschaft, spricht man von einer These im Sinn einer Ausgangsbehauptung, die im Verlauf der Forschungsarbeit untermauert wird. In den Sozialwissenschaften wie Psychologie, Soziologie und Pädagogik wird – je nach Ansatz – der Begriff «These» oder auch «Hypothese» verwendet, in den Naturwissenschaften spricht man durchwegs von einer Hypothese.
Nach dem Abschluss dieses Konkretisierungsschritts unterziehen Sie Ihr bisheriges Gerüst einer SMART-Analyse. Die Abkürzung umfasst die fünf folgenden Ansprüche (vgl. Umbach 2014, S. 8, und Wikipedia, Stichwort «SMART»).
Spezifisch | Sind Ihre Fragestellung und Ihre (Hypo-)These (Maturaarbeitstyp «Untersuchung») oder Ihr Ziel (Maturaarbeitstyp «Technische Produktion») präzise und eindeutig formuliert? |
Messbar | Können Sie am Schluss eindeutig feststellen, ob Ihre Fragestellung beantwortet ist, ob Ihre (Hypo-)These zutrifft oder verworfen werden muss oder ob Sie mit Ihrem Produkt das Ziel erreicht haben? |
Akzeptiert/Ansprechend | Wird Ihr Konzept von der betreuenden Lehrperson akzeptiert? Halten Sie das Thema für wissenschaftlich interessant, und liegt es Ihnen wirklich am Herzen? Erreichen Sie das Bestmögliche, indem Sie die Anforderungen der Schule, Ihr persönliches Interesse und Ihre Leistungsbereitschaft miteinander kombinieren? |
Realistisch | Sind Sie realistisch, und haben Sie Ihre Zielsetzung Ihren Fähigkeiten, Ihrer Ausrüstung und Ihrem Zeitrahmen entsprechend gewählt? |
Terminiert | Haben Sie den Erstellungsprozess der ganzen Arbeit vom Abgabetermin her rückwärts geplant und sich Meilensteine (Zwischenziele) gesetzt? |