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Vorwort

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Den Mutigen gehört die Welt.

(Sprichwort)

Als Kind kannte ich die unterschiedlichsten Formen von Mut und zumindest ebenso viele Arten, ihn zu erproben. Meine Brüder und ich waren wahre Meister darin, uns gegenseitig herauszufordern – Du traust dich dies nicht, du traust dich das nicht! –, und erfanden manchmal unterhaltsame, manchmal grausame, manchmal gefährliche und manchmal unaussprechliche Spiele, um die Vermutung, die Feigheit des anderen wäre größer als die eigene, unter Beweis zu stellen. Da hieß es zum Beispiel, man müsse eine Packung Kaugummi stehlen, ohne Fahrschein mit dem Bus fahren, zu einem älteren Buben frech sein und damit Prügel riskieren, alleine bei Nacht über den Friedhof schleichen, mit hinter dem Rücken verschränkten Armen vom Fünf-Meter-Brett köpfeln oder vor versammelter, unverhohlen kichernder und saublöde Witze reißender Mannschaft ein hübsches Mädchen ansprechen, das sein Desinteresse bereits mehrfach signalisiert hatte und angesichts des überforderten Galans eine eindeutige Ekelschnute zog. Kurz: Man musste Dinge tun, die jeder 10- bis 14-Jährige schon getan hatte, die sich jedoch jedes Mal so anfühlten, als wäre man der Erste, der diese Mutproben zu bestehen hat.

Es war eine herrliche, weil unbeschwerte Zeit. Keiner von uns musste etwas befürchten. Das Schlimmste, was uns damals hätte passieren können, war, dass wir uns vor Freunden lächerlich machten, eine kleine Abreibung bekamen oder von einem Erwachsenen ausgescholten wurden, weil wir etwas gemacht hatten, das nicht in Ordnung, leichtsinnig oder unverantwortlich war. Ich erinnere mich etwa an die Herausforderung meines Bruders, mit Dartpfeilen, die wir auf dem Dachboden in einer verstaubten Holzkiste gefunden und mit auf den Spielplatz genommen hatten, möglichst nahe aneinander vorbeizuschießen. Ziel der Übung war es, sich dabei keinen Millimeter zu bewegen, egal wie unausweichlich der Pfeil auf einen zuflog. Wer es dennoch tat, hatte verloren und musste wenigstens einen Tag lang den Hohn und Spott der anderen über sich ergehen lassen. Rückblickend ist es ein Wunder, dass keiner von uns dabei ein Auge ließ, sondern wir nur mit leichten Kratzern an Wangen und Oberarmen nach Hause zurückkehrten.

Später in meinem Leben hätte mich nichts und niemand dazu gebracht, wieder in ein solches Spiel einzuwilligen. Ich war älter und vernünftiger geworden, ja, hatte gewissermaßen das Fürchten gelernt wie der Jüngling im gleichnamigen Märchen der Gebrüder Grimm.1 Plötzlich meldete ich Bedenken an, hatte Zweifel um die Machbarkeit, Angst mich zu verletzen und Sorge um meinen Versicherungsschutz. Ähnliches konnte ich bei meinen Brüdern und unseren einst ebenso furchtlosen Freunden beobachten: Alle hatten zusehends ihren Mut verloren, die kindliche Sorglosigkeit, Dinge anzupacken, ein Abenteuer zu wagen oder der Gefahr mit Verwegenheit zu trotzen. Mit anderen Worten: Das Erwachsenwerden hatte uns den Schneid abgekauft. Wir waren keine kleinen Helden mehr, die ihre Schrammen und Blessuren stolz wie Abzeichen trugen, sondern um Sicherheit bemühte und zur Vorsicht rufende Erwachsene geworden.

Wenn ich heute darüber nachdenke, rebelliert es in mir. Als wollte mein jüngeres Ich mir zurufen, dass ich mein letztes Restchen Mut doch zusammennehmen und den Sprung vom Felsen in den bitterkalten Bergsee endlich machen soll, dass ich aufhören muss, zu hinterfragen und zu analysieren, sondern es einfach ausprobieren und egal sein lassen soll, weil nur der freie Fall dem Wunsch zu fliegen am nächsten kommt.

In diesem Buch möchte ich mich also auf die Suche machen nach dem Mut in meinem Leben und dem Mut in seinen verschiedenen Erscheinungsformen, die einmal laut und großartig, einmal zurückhaltend und bescheiden und einmal sich als das zeigen, was sie in meiner Kindheit waren: die ganze Welt.

1Jakob und Wilhelm Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Bd. 1, S. 18–30

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