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Kleinmut
ОглавлениеNichts macht uns feiger und gewissenloser als der Wunsch, von allen Menschen geliebt zu werden.
(Marie von Ebner-Eschenbach)
Es mag Zufall oder Fügung gewesen sein, dass ich dieses Buch an genau dem Tag zu schreiben begonnen habe, als Papst Franziskus auf dem Petersplatz in Rom ebenfalls über Mut gesprochen hat, genauer gesagt, er in der Generalaudienz vom 13. Juni 2018 den Kleinmut zum Thema seiner Predigt gemacht hat, indem er davor warnte: „Der schlimmste Feind sind nicht die konkreten Probleme, so ernsthaft und dramatisch sie sein mögen. Die größte Gefahr für das Leben ist ein schlechter Geist der Anpassung, der nicht Sanftmut oder Demut ist, sondern Mittelmäßigkeit, Kleinmut.“2
Damit hat der Heilige Vater sein Augenmerk auf ein Problem gerichtet, das uns alle etwas angeht, weil es für unsere Zeit so typisch ist, auch wenn es dem ersten Anschein nach nicht so wirken mag, wenn man etwa die häufig aufflammenden Kampagnen der globalen Empörung und des epidemischen Ereiferns über so manche Nichtigkeit in den sozialen Netzwerken bedenkt.
Aber ist es tatsächlich mutig, im anonymisierten Raum und in der Großgruppe (vermeintlicher) Gleichgesinnter aufzubegehren, einzufordern, Widerstand zu leisten? Oder ist es nicht viel mehr kleinmütig, weil man in den alles übertönenden Chor miteinstimmt, egal welche Melodie dieser singt, oder gar nur stumm die Lippen dazu bewegt, um nicht aufzufallen und ein Bekenntnis darüber ablegen zu müssen, was man persönlich und ganz bei sich im Stillen über dieses und jenes Geschehen tatsächlich denkt?
Dasselbe gilt für die reale Welt, wo man heute nur dann dazugehört bzw. dazugehören darf, wenn man nicht eine Meinung hat, sondern die Meinung, welche scheinbar mehrheitsfähig und daher aktueller Mainstream ist. Dahinter lässt sich gefahrlos der starke Mann/die starke Frau markieren und jeder Fehler unter erneutem Wehklagen kleinreden, weil ihn ja die große Masse begangen hat und nicht das für sich selbst stehende Individuum, das für sein Handeln viel unmittelbarer zur Verantwortung gezogen werden kann.
Es ist also ein Wesenszug des Kleinmütigen, keine direkte Verantwortung übernehmen zu wollen, sondern diese abzugeben, weil er die Konsequenzen (gleich welcher Art) fürchtet. Kleinmut ist somit gleichbedeutend mit Feigheit, einer Feigheit allerdings, die sich geschickt zu kostümieren weiß und ihren Auftritt meist unter anderen Namen hat: Vernunft, Vorsicht, Zurückhaltung, Bedenken usw. usf. In Wahrheit ist der Kleinmut aber nichts von alledem, sondern letzten Endes nur der bedauernswerte Ausdruck des eigenen Unvermögens, über sich und den allgemeinen Durchschnitt hinauszuwachsen.
Insofern ist der Kleinmütige ein Sicherheitsfanatiker im Demutsgewand, das ihm jedoch zu groß ist und höllisch auf der Seele kratzt. Denn mit Demut hat Kleinmut nichts zu schaffen. Diese ist nämlich eine Art des Dienstes an etwas oder jemand Größerem (wie noch zu zeigen sein wird), während der Kleinmut ein Zaudern und Zurückschrecken vor der höheren Verantwortung bzw. der größeren Herausforderung ist.
Dagegen lässt sich nun einwenden, dass es ja nichts Schlechtes sein kann, die eigenen Grenzen zu kennen und Aufgaben danach auszuwählen, ob man sie bewältigen kann oder nicht. Gewiss, aber um seine Grenzen auch wahrhaftig zu (er-)kennen, muss man sie erst einmal ausloten und das immer wieder tun, weil sie sich nicht selten verschieben. Man muss also den Mut aufbringen, an einer Vorgabe zu scheitern, ein Ziel nicht zu erreichen und eigene Schwächen und Makel einzugestehen, vor sich selbst und coram publico. Das mag im ersten Moment zwar eine schmerzhafte und vielleicht niederschmetternde Erfahrung sein, wird aber nach genauerer Betrachtung und Einschätzung den Charakter bilden und stärken. Und es ist ebendiese innere Stärke, die wir brauchen, um mutig zu sein.
Der Kleinmut hält uns vor dieser Entwicklung zurück und hemmt uns im Sprung auf die nächsthöhere Stufe, indem er die Angst vor der Herausforderung größer aufbauscht, als die Herausforderung selbst groß ist. Dadurch bleibt der Kleinmütige immer hinter dem zurück, was tatsächlich seine Befähigung wäre. Und niemals wird er sich als vollwertiges Individuum erkennen können, solange er nicht auch seine Fehler und Unvollkommenheiten entdeckt, durch den Mut zu scheitern und dennoch weiterzumachen bzw. auf dem Lebensweg zu stürzen und sich erneut aufzurichten. In der zuvor erwähnten Ansprache von Papst Franziskus heißt es dazu sinngemäß: „Wie gelangt man von der Jugend zur Reife? Wenn man beginnt, die eigenen Grenzen anzunehmen. Man wird erwachsen, wenn man sich selbst relativiert und sich bewusst wird, was noch fehlt.“
Persönlich kann ich ein Lied davon singen, ein Klagelied, über mich selbst und meinen allzu großen Kleinmut, der mich mein ganzes Leben hindurch beherrscht hat. Das ist kein Widerspruch, denn umso kleiner der Mut in manchen Lebenslagen ist, desto größer können seine negativen Auswirkungen sein, auf einen selbst sowie auf das direkte Umfeld.
An dieser Stelle erscheint es mir notwendig, ein paar Zeilen über Zivilcourage bzw. ihr häufiges Fehlen zu schreiben. Und dabei fällt mir sofort auf, dass zwar in der Theorie viel darüber schwadroniert, aber schon viel seltener von realen Fällen berichtet wird, in denen jemand mutig eingreift anstatt schnell wegzuschauen.
Der Sozialpsychologe David F. Urschler von der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, der sich eingehend mit dem Verhalten von Menschen in Notsituationen befasst hat, vergleicht dieses Verhalten mit dem Aufstellen einer Kosten-Nutzen-Rechnung: „Das passiert innerhalb weniger Millisekunden – welche Kosten kann ein Eingreifen haben und welchen Nutzen? Nutzen sind zum Beispiel die eigene Stimmung zu erhöhen, etwas für das Selbstbewusstsein zu tun, Dankbarkeit oder Anerkennung zu bekommen. Kosten können unter anderem mögliche Verletzungen, ein verpasster Termin oder ein Blamieren vor anderen Passanten sein.“3
Nun ist zweifellos nicht jeder Mensch ein Held, aber andererseits weiß jeder vergleichsweise gebildete Mensch, was Recht und Unrecht ist, oder kennt zumindest die überlaute Stimme seines Gewissens, welche ihm zuruft, wann Hilfe bzw. ein beherztes Einschreiten (unabhängig von Vor- und Nachteilen) gefordert ist. Wenn dem nicht so ist, meine ich, müssen wir von Kleinmut in seiner schlimmsten Form sprechen, nämlich als Feigheit, das Richtige zu tun, noch dazu in Begleitung von eitlen Beweggründen wie etwa die Furcht vor dem Verlust des Ansehens.
Ich wünschte, ich könnte frank und frei behaupten, mich diesbezüglich nicht schuldig gemacht zu haben, aber das wäre einerseits eine glatte Lüge und andererseits ein wiederholter Anflug von Kleinmütigkeit. Aber gerade diese will ich ja ablegen, und das hat nur eine Aussicht auf Erfolg, wenn man sich die eigene Schwäche, nicht gehandelt, nicht eingegriffen, nicht aufbegehrt zu haben, vor Augen führt und das nächste, übernächste und überübernächste Mal dagegen hartnäckig ankämpft. Denn man kann den Kleinmut, der das Herz für die Nöte der anderen, aber auch für die eigenen Bedürfnisse eng und hart macht, nur mit ganzem, uneingeschränktem Mut besiegen. Weshalb? Weil Kleinmut nichts weiter ist als Angst, die uns feige werden und die Dinge nicht tun lässt, durch die wir besser werden könnten, da sie uns die Möglichkeit bieten, über uns selbst hinauszuwachsen oder unsere Grenzen kennenzulernen, was uns zwar demütig, aber niemals kleinmütig werden lässt. Darum müssen wir mutig gegen unseren Kleinmut angehen, um diese lähmende Angst für immer zu vertreiben, aus unseren Köpfen, aus unseren Herzen und aus unserem Leben. Oder mit den Worten des US-amerikanischen Theologen, Philosophen und Schriftstellers Ralph Waldo Emerson ausgedrückt: „Wer nicht täglich eine Furcht überwindet, hat die Lektion des Lebens nicht gelernt.“
2Vatican News, Generalaudienz, 13. Juni 2018
3Vice Media, Artikel von Hanna Herbst, 3. September 2016