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Großmut
ОглавлениеDer Mutige ist verpflichtet, auch großmütig zu sein.
(Marcus Tullius Cicero)
Ich habe immer schon viel und gern gelesen: Abenteurergeschichten, Heldendramen, Minnelyrik und Racheepen. Vor allem diese hatten es mir als ungestümer Jugendlicher angetan, weil es darin stets wild und hoch herging, wenn jemandes Ehre verteidigt, jemandes Recht wiederhergestellt oder (ganz allgemein) der Kampf zwischen Gut und Böse ausgetragen wurde.
Mit wohligem Schauer erinnere ich mich an eine Gewitternacht, die ich als Internatsschüler alleine auf der Krankenstation wegen eines wenig edlen Durchfalls verbringen musste. Mein Bett stand direkt am Fenster, wogegen der Regen heftig prasselte, und ich sah aus den Augenwinkeln, wie die Nordkette im Blitzlicht gespenstisch aufleuchtete. Damals las ich, passend für diese Szenerie, die Erzählung „Das Fass Amontillado“ von Edgar Allan Poe, deren Anfangszeilen mich in ihren Bann schlugen:
„Die tausend Ungerechtigkeiten Fortunatos hatte ich, so gut es ging, ertragen, doch als er mich zu beleidigen wagte, da schwor ich Rache. Sie kennen mich und werden mir deshalb glauben, daß ich auch nicht eine einzige Drohung gegen ihn ausstieß. Eines schönen Tages würde ich mich schon rächen, – das stand felsenfest; und meine Rache sollte so vollkommen sein, daß ich selbst nicht das mindeste dabei zu wagen hatte. Ich wollte nicht nur strafen, sondern ungestraft strafen. Ein Unrecht ist nicht gesühnt, wenn den Rächer wiederum Strafe ereilt – der Beleidiger büßt nicht, wenn er den Rächer nicht kennt.“ 4
Sofort ging meine Phantasie mit mir durch. Ich malte mir kleinweise aus, wie ich mich an Lehrern, von denen ich mich im Unterricht ungerecht behandelt fühlte, und an Mitschülern, mit denen ich in Feindschaft bzw. im Raufhändel lag, rächen könnte, und wie ich selbst dabei ungeschoren davonkäme.
Es gäbe hier kein gutes Bild von mir ab, wenn ich ganz ehrlich aufschriebe, was mir in jenen durchwachten Stunden alles eingefallen war, welche Grobheiten und hinterlistigen Methoden, um an mein fragwürdiges Recht zu kommen. Aber so viel sei an dieser Stelle doch verraten: Ich kam zu gar nichts, weil ich obendrein ein rechter Feigling war und meinen eigenen Racheplänen kein Stück weit traute.
Gott sei Dank, möchte ich heute sagen, denn mit den Jahren habe ich erfahren dürfen, was einem im Leben besser tut, als Rache zu nehmen, nämlich Vergebung zu schenken. Und, wenn letztlich alles gelingt, sogar Versöhnung zu erlangen.
Aber von Anfang an: Wie sich mittlerweile wohl denken lässt, war ich während meiner Kindheit und Jugend sowohl ein übermütiger Heißsporn als auch ein kleiner Duckmäuser, was zusammengenommen eine schwierige, weil nicht leicht einzuschätzende Mischung darstellte, weswegen sich mein Umfeld bald fragen musste: Wie ist dieser Bengel zu erziehen? Antworten gab es in dieser Zeit viele, nur keine richtige, weswegen ich u. a. eine Strafe nach der anderen bekam, wodurch mein Widerstand und Unwille jedoch größer und stärker wurden und die Situation schließlich unerträglich für alle Beteiligten, auch für mich selbst. Also beschlossen meine Eltern und Lehrer (ad ultima ratio), mich zum Herrn Pfarrer, mit dem ich mich bestens verstand, zu schicken, damit er mir auf gut Katholisch die Leviten las.
Zum vereinbarten Zeitpunkt ging ich in den Dom und dort in die Sakristei, wo das Treffen stattfinden sollte. Da ich etwas zu früh dran war, wartete ich allein in dem großen Hinterzimmer und fing an, mich zu langweilen. Neugierig wie ich war, schaute ich in alle Kästen und Schubladen, schob die Alben der Messdiener wie schwere Vorhänge auseinander, um dahinter blicken zu können, und fand in einem vergessenen Winkel eine alte, sehr abgegriffene Münze aus der Jahrhundertwende, die ich kurzerhand einsteckte. Anschließend setzte ich mich auf einen knarzenden Sessel und spielte das Unschuldslamm.
Während der Pfarrer mit mir sprach, konnte ich allerdings an nichts Anderes denken als an die gestohlene Münze in meiner Hosentasche. Ich spürte ihr verräterisches Gewicht und sorgte mich, dass ihre runde, flache Form durch den Stoff zu erkennen wäre. Aber nichts geschah. Hochwürden war freundlich wie eh und je, stellte Fragen und bot Lösungen an. Meine Probleme schienen ihn tatsächlich zu interessieren.
Da meldete sich mein schlechtes Gewissen: Wie konntest du das tun? Er ist so nett zu dir, und du nimmst von ihm weg, was dir nicht gehört! Der Vorwurf traf mich wie ein Faustschlag, und der Schmerz, welchen er in mir auslöste, brachte mich zum Weinen. Ich heulte Rotz und Wasser, meine Schultern bebten und mein Brustkorb flatterte vor wilder Erregung. Ich wollte gestehen. Also sagte ich es, zog die Münze hervor und zeigte sie ihm.
Zu meiner Überraschung schimpfte der Pfarrer nicht mit mir. Ganz im Gegenteil, er lobte mich für meine Ehrlichkeit und schlug mir vor, die Münze als Erinnerung an unser Gespräch zu behalten. Ich bedankte mich bei ihm, ohne jedoch zu verstehen, wie ich dazu gekommen war, und bewahrte seither die Münze wie einen Schatz auf, bis heute.
Warum erzähle ich davon? Mittlerweile ist mir klar geworden, was ich damals noch nicht verstanden habe: Der Pfarrer hat mich nicht wirklich für meine Ehrlichkeit belohnt, sondern zeigte sich großmütig, indem er mir einen Fehler (manche würden sagen: eine Sünde) nachsah, wodurch er mir aber mehr beigebracht hat, als wenn er mich dafür bestraft oder geschimpft hätte. Er hat in mir nämlich keinen kleinen Dieb gesehen, sondern einen Buben, der mit sich und seiner Umwelt einige Probleme hatte und dem eines mehr wahrscheinlich weiter schaden würde. Also lehrte er mich durch seine Geste der Vergebung stattdessen Großmut, der mich einmal fähig machen sollte, Verletzungen, Kränkungen und Enttäuschungen zu verzeihen, wenn der richtige Tag dafür gekommen wäre.
Leider kann ich nicht behaupten, ich wäre schon so weit, denn mein Groll gegenüber manchen Personen und Geschehnissen aus meiner Vergangenheit ist noch nicht ganz verschwunden. Trotzdem empfinde ich keine (kleinlichen) Rachegefühle mehr oder hege den geheimen Wunsch, jemandem etwas zurückzuzahlen, für das, was er/sie mir angetan hat.
Die Theologin und Ordensschwester Melanie Wolfers SDS schreibt dazu passend: „(…) es ist ein Irrtum zu meinen, dass Vergeltung dauerhaft entlastet. ‚Rache ist süß‘ mag ein momentaner Effekt sein, doch der Nachgeschmack ist anders: Mit meiner rächenden Attacke habe ich den anderen zwar verletzt, aber dadurch ist meine eigene Verletzung noch lange nicht geheilt! Das, was ich schmerzlich schlucken musste, stößt mir bald wieder auf und die alte Bitterkeit vergällt mir den Geschmack am Leben.“5
So viel wenigstens habe ich bisher verstanden, und es hat mein Leben verändert, weil ich mich paradoxerweise durch die Kraft des Vergebens nicht weiter als Opfer fühle, sondern gestärkt wurde in meinem Lebensmut. Damit will ich sagen, dass die Annahme der eigenen seelischen, psychischen, vielleicht auch körperlichen Verletzungen, welche wir durch andere erfahren mussten, uns auf zwei Wege führen kann: den Weg der Rache, der nur zu weiterem Unglück und letztlich ins Verderben von mehreren Leben führt, und den Weg der Vergebung, der eine erlittene böse Tat zwar nicht ungeschehen machen kann, aber zumindest dem Opfer seine innere Stärke zurückgibt und zum Weitermachen bzw. Weiterkämpfen ermutigt.
Der Großmut ebnet uns diesen Weg der Vergebung, er hilft uns über Hindernisse der Persönlichkeit hinweg und baut Brücken über Gräben, die so tief wie Wunden sind. Aber zu vergeben heißt nicht nachzugeben. Im Gegenteil: Wer großmütig sein kann, ist kein Feigling in dem Sinne, dass er Konfrontationen scheut, vielmehr ist er tapfer, weil er eine tiefgehende Verletzung nicht nur annimmt, sondern sich der Tat und somit dem Täter selbst stellt, indem er diesem (unverdient oder nicht) vergibt, wie etwa Papst Johannes Paul II. es gegenüber Mehmet Ali Ağca, dem Attentäter vom 13. Mai 1981, getan hat.
Melanie Wolfers SDS erinnert in diesem Zusammenhang an die Lehre von Jesus, der sagte: Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dann halte auch die linke hin, und schreibt dazu: „Die Gewaltfreiheit, die Jesus predigt und lebt, ist keine Botschaft für Angsthasen und Leisetreter. Denn Aggression und Beleidigung sollen nicht stillschweigend hingenommen werden. Dem gewalttätigen Gegenüber die andere Wange hinzuhalten ist vielmehr eine gewaltlose Provokation, die ihm die eigene Aggressivität bewusst machen will. Damit traut Jesus dem anderen zu, dass er erkennen kann, was gut und recht ist. (…) Die Gewaltfreiheit Jesu ist also keine feige Unterwerfung, sondern kommt aus einer inneren Stärke, die den Gewalttätigen zum Nachdenken und zur Umkehr veranlassen will.“6
Leichter gesagt, als getan, möchte man daraufhin entgegnen und hat nicht einmal ganz unrecht damit, denn: Um wieviel schneller schmieden wir Rachepläne, als dass wir Frieden schließen mit unseren Feinden und leider auch mit uns selbst? Die Menschen sind so, lautet dafür eine beliebte Erklärung, die sich aber fast wie eine Entschuldigung anhört, wenn wir abermals und lautstark Wie du mir, so ich dir! rufen und jemandem mit barer Münze heimzahlen, was wir an Schlechtem von ihm erfahren haben. Das ist jedoch keine (Wieder-)Gutmachung, wie wir meinen, sondern nur verdoppeltes und vervielfachtes Leid, das wir auf diese Weise anrichten.
Wenn die Verletzungen auf unserer Seele tatsächlich heilen sollen, so wird uns das nur mit Großmut gelingen, dem großherzigen Mut zur Vergebung.
Postskriptum: Anfang August 2018 kam die Nachricht aus dem Vatikan, dass Papst Franziskus eine Neuformulierung des Absatzes 2267 im Katechismus der Katholischen Kirche angeordnet hat: „… im Licht des Evangeliums lehrt die Kirche, dass die Todesstrafe unzulässig ist …“.7 Vielfach wurde ich darauf angesprochen, wobei einerseits Verwunderung darüber herrschte, dass ein klares Nein zur Todesstrafe bis dato nicht bestanden hatte, und andererseits Aufregung deswegen, weil Schwerstverbrecher nicht ihre gerechte Strafe bekommen würden: den Tod.
Nun stelle ich mir die Frage, wie man als Christ (vielleicht als Mensch überhaupt) die Meinung vertreten kann, dass der angeordnete Tod eines Verbrechers den Ausgleich für dessen Tat, wie zum Beispiel einen Mord, bieten kann?
Die am häufigsten gegebene Antwort darauf lautet: Wiedergutmachung bzw. ausgleichende Gerechtigkeit. Entgegnet man wiederum mit Vergebung, hört man oft: sich nicht versöhnen und/ oder nicht vergessen können.
Dabei müssen die drei Begriffe streng getrennt voneinander betrachtet werden: Vergeben schließt weder Versöhnung noch Vergessen ein. Zwar ist es eine notwendige Vorbedingung für beides, allerdings folgen weder Versöhnung noch Vergessen direkt aus dem Vergeben einer Tat. D. h. „ich kann jemandem vergeben, ohne dass ich mich mit ihm versöhne. Doch umgekehrt kann ich mich nur ehrlichen Herzens mit ihm versöhnen, wenn ich bereit bin, ihm zu vergeben.“8
Auch Jesus hat mit seiner Ermahnung Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein! zwar Vergebung für eine gefallene Person (Ehebrecherin; Joh 8,2–11) eingefordert, aber mit seiner nachfolgenden Weisung Geh hin und sündige nicht mehr! eine Art Erinnerungskultur und nicht das Vergessen der Schuld verlangt, sowohl von der Sünderin selbst als auch von ihren Anklägern, Richtern und Beinahe-Henkern, die einsichtig ihrer eigenen Sündhaftigkeit keinen Stein geworfen haben.
Vergeben passiert also auf Selbsteinsicht, Selbstkritik, Selbsterkenntnis usw., ohne zwingend sich versöhnen oder vergessen zu müssen. Gegen die Todesstrafe zu sein, ist also auch der tieferen Einsicht geschuldet, dass wir selbst Sünder sind, die ihrerseits auf Vergebung hoffen müssen.
4Edgar A. Poe, Gesammelte Schriften, Bd. 4, Grausige und humoristische Erzählungen, S. 88–99
5Melanie Wolfers, Die Kraft des Vergebens, S. 29
6Ebd., S. 136f
7Vatican News, 2. August 2018
8Melanie Wolfers, Die Kraft des Vergebens, S. 45