Читать книгу Einmal Zwillinge, bitte - Martin Niklas - Страница 6

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Das Alpenpanorama mit blühenden Bergwiesen und steilen Felshängen begleitete uns, seit wir Garmisch-Partenkirchen hinter uns gelassen hatten und über eine breite Umgehungsstraße direkt auf die Karwendelspitze zufuhren. Ich kurbelte das Seitenfenster herunter, um den kühlen, würzigen Landduft hereinzulassen, der aus dem breiten Isartal links der Straße aufstieg.

Die Fahrt war anstrengend gewesen, noch anstrengender, als wir sie uns vorgestellt hatten. Vermutlich war es richtig gewesen, daß unsere Mütter uns entsetzt davor gewarnt hatten, mit drei Monate alten Babys in Urlaub zu fahren. Wir hatten unsere Strapazierfähigkeit einfach überschätzt – und die der kleinen Zwillinge auch. Erst jetzt, kurz vor dem Ziel, waren sie eingeschlafen.

Die Pension Tannenblick fanden wir über dem alten Obermarkt am Hang, direkt gegenüber der Karwendelspitze, die sich majestätisch über der Geigenbauergemeinde erhob. Die Fahrt durch die Gassen Mittenwalds hatte uns Dutzende von Häusern mit bunter Lüftlmalerei und einen hübschen Ortskern gezeigt.

Christina stellte befriedigt fest, daß die Straßen breit genug für ihren Zwillingskinderwagen waren.

Das Schild ›Pension Tannenblick‹ über dem Eingang war relativ unscheinbar und hatte bereits ein wenig Rost angesetzt. Das ganze Gebäude schien schon sehr alt zu sein. Das Holz der drei übereinanderliegenden Balkone machte einen ungepflegten, vernachlässigten Eindruck. Während vor den Fenstern der Nachbarhäuser üppig blühende rote Geranien leuchteten und fast alle Gebäude vom Boden bis zum Dachfirst deftige, alpenländische Ursprünglichkeit ausstrahlten, wirkte unsere Pension geradezu lieblos.

Der Eindruck verstärkte sich noch, als ich in der sogenannten Empfangshalle stand und mich umschaute, bis Frau Kirchbichl kam. Alles sah aus wie in den fünfziger Jahren.

Auch Frau Kirchbichl sah so aus. Sie war mittelgroß, hager, mit einer Art Dutt versehen und einem knochigen Gesicht samt Pferdegebiß, das die gleiche Farbe hatte wie ihr gelbblond gefärbtes Haar. Das einzig Bajuwarische an ihr war ihre weißblau karierte Schürze. Später sollte ich erfahren, daß sie ihren bayerischen Namen durch eine unglückliche Heirat erworben hatte und als Preußin in der Nachbarschaft höchst unbeliebt war.

»Sie kommen zwar ein bißchen zu früh, weil Anreise normalerweise erst nach siebzehn Uhr ist, aber dennoch willkommen in unserem schönen Werdenfelser Land!«

Sie hielt mir eine sehr kräftige Hand hin, die nach Zwiebeln roch. Ihr fester Händedruck ließ vermuten, daß sie im Leben nicht zimperlich war.

»Wir würden gerne gleich unser Zimmer sehen«, sagte ich, »damit meine Frau die Kinder ins Bett legen kann. Sie sagten am Telefon, Sie hätten ein Gitterbett...«

Frau Kirchbichl nickte, während sie sich zur Treppe umwandte.

»Wir haben es heute morgen extra für Sie aufgestellt. Es ist ein sehr traditionsreiches Bett. Darin hat schon mein Schwiegervater gelegen als kleines Kind.«

Es war ein folgenschwerer Fehler, daß ich bei diesem Hinweis nicht sofort stutzig wurde.

Ich nahm Katharina auf den Arm, und Christina trug die immer noch schlafende Stefanie. So folgten wir Frau Kirchbichl die schmale dunkle Treppe zum ersten Stock hinauf, wo ein abgetretener und fadenscheiniger Teppich für eine wenig einladende Atmosphäre sorgte.

Die Familiensuite, von der am Telefon die Rede war, entpuppte sich als ein schätzungsweise fünfzehn Quadratmeter großer Raum mit angrenzender halber Kammer, wie sie in den meisten Hotels als Wäscheraum benutzt wird: nur ein winziges Dachfenster sorgte darin für etwas Licht.

Das einzig Freundliche an dem größeren Zimmer war das breite Fenster mit Ausblick auf Mittenwald. Nicht weit von uns entdeckten wir die grüne Turmspitze der alten Kirche.

Das war aber auch schon die einzige Attraktion in diesem Zimmer. Christina und ich blickten uns sprachlos an. Das konnte nicht wahr sein!

Alles war so unsagbar lieblos in diesem Raum, die durchgelegenen Ehebetten mit Metallrahmen ebenso wie der klapprige Schrank, die zwei kitschigen Bilder mit Gebirgsbächen und die sogenannte Sitzecke, die Frau Kirchbichl offensichtlich mit Hilfe ausrangierter Möbel zusammengestellt hatte.

Das Beste hatte sich unsere Wirtin aber bis zuletzt aufgespart. Mit selbstzufriedener Miene zog sie aus einer Ecke das Kindergitterbett hervor.

»Das ist das gute Stück«, sagte sie stolz. »Über siebzig Jahre alt. Also eine richtige Antiquität.«

Die Antiquität bestand aus einem fast quadratischen Zwergenbett samt alter Matratze und einem Dutzend wackliger, fast armdicker roher Holzstäbe, deren Patina verdächtig nach Schmutz aussah. Wahrscheinlich hatte das Kinderbett auf dem Speicher gestanden, seit der Herr Schwiegervater als Kind seine ersten Schritte unternommen hatte. Ich bemerkte, wie Christina sich innerlich schüttelte bei dem Gedanken, unsere kleinen Lieblinge dort hineinlegen zu müssen.

»Dann lasse ich Sie jetzt am besten allein«, sagte Frau Kirchbichl, »damit Sie es sich etwas bequem machen können. Ich hoffe, Sie sind zufrieden mit ihrem Zimmer.«

»Wir hatten eigentlich...« begann ich, in der festen Absicht, aus unserer Enttäuschung keinen Hehl zu machen.

»Sakra!« rief Frau Kirchbichl plötzlich aus. »Ich hab’ ja den Herrn Pfarrer vergessen! Der wartet schon seit einer halben Stunde in der Küche auf mich! Wegen unserer Wallfahrt nach Altötting. Also machen Sie sich’s bequem bei uns, und wir sehen uns dann spätestens morgen früh. Ach... wo ist eigentlich der Hund, von dem Sie sprachen?«

»Noch im Auto. Ich hole ihn erst, wenn wir die Koffer ausgepackt haben... Aber Frau Kirchbichl, was unser Zimmer betrifft...«

»Ich muß jetzt leider! Und wenn Sie Fragen haben – jederzeit, gell?«

Damit war sie verschwunden. Ich erstickte fast an meinen Flüchen. Christina legte die Babys vorsichtig auf unser Ehebett, aus dessen beiden tiefen Kuhlen sie unmöglich herausfallen konnten.

»Ich hab’ mir eben überlegt, daß es Quatsch wäre, wenn wir uns nur wegen des Zimmers den Urlaub verderben ließen«, meinte sie mit müdem Gesicht. »Wir wären ja nicht die ersten, die auf die großen Versprechungen eines Preisausschreibens hereingefallen sind.«

»Du willst doch deine Kinder wohl nicht in diesem... Käfig schlafen lassen?« fragte ich entsetzt.

»Natürlich nicht. Wir kaufen morgen einfach ein zusammenklappbares Reisebett... So was brauchen wir früher oder später sowieso.«

»Wir werden uns rächen«, sagte ich grimmig. »Ich werde die Zwillinge bitten, jede Nacht zu brüllen. Bis Frau Kirchbichl die letzten Gäste weglaufen. Oder ich rufe bei diesem Babynahrungshersteller an und mache einen Skandal. Wozu bin ich eigentlich Journalist?«

»Spar dir dein Adrenalin.«

Ich öffnete das Fenster und ließ beste Mittenwalder Luft herein. »Wenn das Wetter so herrlich bleibt, sind wir sowieso mehr draußen als drinnen.«

Auch in diesem Punkt irrte ich gewaltig.

Bereits am Abend setzte ein heftiger Regen ein, der uns ans Zimmer fesselte. Da wir keine Lust hatten, unten im Aufenthaltsraum die Gesellschaft von Frau Kirchbichl zu suchen, schmuggelte ich aus einer benachbarten Gastwirtschaft eine Flasche Rotwein in unsere Pension, so daß wir uns mit dem Rest unseres Reiseproviants und mit zwei nagelneuen Krimis einen gemütlichen Abend machen konnten. Wenigstens die Leselampen waren funktionstüchtig. Zu unseren Füßen ruhte Flecki, den Kopf auf seinen Pfoten, und träumte von seinem herrlichen Revier in unserem Garten. Mir persönlich wäre es allerdings lieber gewesen, er hätte sich intensiv damit beschäftigt, wie er als Hund Rache an Frau Kirchbichl nehmen konnte.

Das Frühstück am nächsten Morgen entsprach voll und ganz unseren Erwartungen – es war mager und knapp bemessen. Als ich das zweite Mal um Konfitüre bat, runzelte Frau Kirchbichl sorgenvoll die Stirn. »Wenn Sie unbedingt wünschen...«

Vom Nachbartisch beugte sich eine alte Dame zu uns herüber.

»Machen Sie sich nichts draus«, sagte sie lächelnd, »ich bin jetzt eine Woche hier und habe mich fast schon daran gewöhnt.«

Sie sah sehr sympathisch aus, wie eine richtige Märchenbuch-Großmutter. Ihr rundes rosiges Gesicht strahlte Zufriedenheit und mindestens siebzig Jahre Lebensweisheit aus.

Wir kamen ins Gespräch.

Sie reiste allein und war pensionierte Kinderschwester. In Mittenwald schien sie inzwischen bereits jeden Spazierweg, jeden Pfad zu kennen.

»Beginnen Sie doch mal mit einer kleinen Wanderung zum Lautersee«, riet sie uns. »Da kommen Sie auch mit Kinderwagen problemlos hin. Übrigens – darf ich mich vorstellen: Irene Hollenbach.«

»Roggenkämp«, sagte ich.

Sie blickte mich interessiert an.

»Roggenkämp? Ich kannte mal einen Arthur Roggenkämp aus Frankfurt.«

»Mein Vater heißt Arthur. Und er lebt in Frankfurt.«

»Ja so was!« rief Frau Hollenbach entzückt aus. »Wir haben im selben Stadtteil gewohnt, in Sachsenhausen. Und wir sind ein paar Jahre zusammen zur Schule gegangen, bis ich nach Stuttgart gezogen bin...« Es war ein unglaublicher Zufall, aber nach allem, was die alte Dame erzählte, mußte sie meinen Vater früher sogar sehr gut gekannt haben. Sie schien uns zu mögen, denn als wir vom Frühstückstisch aufstanden, meinte sie, einem plötzlichen Einfall folgend:

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wissen Sie, mir fällt das gar nicht so leicht, hier alleine herumzuspazieren. Ich weiß auch, was es für junge Eltern bedeutet, mit zwei so kleinen Kindern unterwegs zu sein. Wenn Sie mögen, springe ich hin und wieder als Babysitter bei Ihnen ein, damit Sie mal unbeschwert etwas unternehmen können. Und ich liebe Kinder!«

»Aber das können wir Ihnen doch nicht zumuten«, sagte Christina.

Ich merkte, daß sie insgeheim gerne von dem Angebot Gebrauch machen würde. Nach der Geburt der Kinder hatte sie sich eigentlich noch immer nicht richtig erholen können.

Frau Hollenbach schüttelte energisch den Kopf.

»Von Zumutung kann wahrhaftig keine Rede sein. Im Gegenteil – die Enkelkinder von Arthur Roggenkämp sind etwas ganz Besonderes für mich.«

»Ich werde mich mit Vaters Telefonnummer bei Ihnen revanchieren«, versprach ich. »Und dann kommen wir vielleicht irgendwann auf Ihr Angebot zurück...«

»Haben Sie keine Scheu. Einfach nur Bescheid sagen, wenn wir uns beim Frühstück sehen.«

Mit diesen Worten nahm sie ihre dunkelblaue Wanderjacke vom Haken neben der Tür, klappte die Kapuze über ihre weißen Haare und verschwand mit einem freundlichen, herzerwärmenden Lächeln auf der Straße im Nieselregen. Unser erster Urlaubstag verlief eher gemütlich. Ich hatte gleich nach dem Frühstück Frau Grünlers Kaktus in einem Haus neben der Kirche abgeliefert, ein Kinderreisebett gekauft und mir in der Kurverwaltung eine Wanderkarte besorgt. Erst im Laufe des Vormittags schob ein leichter, warmer Wind die Regenwolken beiseite, und die Sonne kam heraus. Das Tal zwischen Karwendelspitze und Wettersteingebirge leuchtete wie auf einer bunten Kitschpostkarte. Auf den hügeligen Wiesen weidete das Vieh; die Lärchen und Kiefern, die den Hang zur Korbinianhütte und zum Hohen Kranzberg bewaldeten, dufteten in der Sonne besonders intensiv.

So roch Urlaub in den Bergen. Und über dem Ganzen, wie ein musikalischer Zuckerguß, das ferne Gebimmel von Kuhglocken...

Daß man nach einem Tag in den Bergen abends müde ins Bett fällt, ist in eintausend Meter Höhe nichts Ungewöhnliches. Aber daß man mit schmerzenden Muskeln und zerschundenen Knien zurückkommt – und zwar ohne vorher die Karwendelspitze im Alleingang bewältigt zu haben –, das mußte schon besondere Gründe haben.

Schuld hatte mein Verantwortungsgefühl als Familienvater. Es passierte auf dem Rückweg vom romantisch gelegenen Lautersee. Christina hatte auf dem Waldweg die aus dem Boden ragende Wurzel einer Kiefer übersehen und war mit dem Zwillingswagen dagegen gerammt, so daß beide Vorderräder abfielen und selbst mit größtem Geschick nicht mehr zu befestigen waren. Also heraus mit den Babys, auf den Arm der Mutter, während der schwitzende Vater sich den breiten Kinderwagen irgendwie auf den Buckel wuchtete und sich damit hinab nach Mittenwald quälte. Ich hatte keine Ahnung, wie viele scharfe Ecken und Kanten so ein Wagen besaß; dauernd stieß mir eine Stange in die Nieren oder in noch wichtigere Körperteile. Katharina und Stefanie brüllten während des ganzen Rückweges aus vollen Kräften und machten so die anderen Leute auf uns aufmerksam. Einige gaffende Flegel lachten sogar amüsiert, besonders als ich einmal auf einem abschüssigen Pfad stürzte und mir weh tat.

Folglich hatten wir den Nachmittag damit verbracht, Ersatzräder für den Kinderwagen aufzutreiben, Pflaster für meine Knie zu kaufen und in der Nähe das Geigenbaumuseum sowie die Barockkirche ›Peter und Paul‹ zu besichtigen. Außerdem besorgte ich noch ein paar Flaschen Rotwein als Schlechtwetter-Vorrat für die nächsten Tage.

Das Ganze schleppte ich dann bergauf zur Pension Tannenblick. Als ich abends todmüde das Licht über unserem Bett ausknipste, sagte ich nachdenklich:

»Sollten wir morgen nicht doch auf Frau Holle zurückgreifen?«

»Sie heißt Hollenbach«, verbesserte Christina mit schläfriger Stimme.

Ich widersprach. »Da sie mir so gerecht und gütig wie eine Märchenfigur erscheint, ist sie für mich Frau Holle. Warum machen wir ihr nicht die Freude und lassen sie morgen mal ein paar Stündchen den Kinderwagen schieben? Kinder mögen Omas.«

Christina knipste das Licht wieder an und richtete sich im Bett auf. »Ist das dein Ernst? Das würdest du machen?«

»Ich glaube schon. Vater hat mir ja vorhin bestätigt, daß er mit ihr zur Schule gegangen ist und daß sie schon damals sehr zuverlässig war. Warum also nicht? Es wäre ja nur mal zur Probe...«

Ein glückliches Lächeln huschte über Christinas Gesicht.

Erleichtert ließ sie ihren Kopf auf das rot karierte Kissen fallen. »Und ich dachte schon, ich bin eine Rabenmutter, weil ich seit heute nachmittag den gleichen Gedanken hatte... Einmal mit dir allein in die Berge... nur für ein paar Stunden!«

Ich küßte sie zärtlich auf den Mund.

»Eine schöne Rabenmutter – die schönste die ich kenne.«

»Einmal einen Tag ohne Katastrophen – das wünsche ich mir.«

»Morgen. Morgen wird so ein Tag, das verspreche ich dir. Frau Holle sei Dank.«

»Schaust du bitte noch mal nach, ob Stefanie und Katharina gut zugedeckt sind?«

»Aber ja.«

Ich stand auf und ging in die kleine Kammer, in der unsere Babys tief und friedlich schlummerten. Sie waren unter ihren Decken warm eingepackt.

Befriedigt ging ich zurück ins Wohnzimmer, öffnete das Fenster weit und ließ die Nachtluft herein. Auch sie roch nach Wald und Wiesen. Hochoben, in der Bergstation der Karwendelbahn, flimmerte ein einsames Licht in der schwarzen Felswand.

Tief sog ich die Luft ein und war plötzlich gar nicht mehr so unzufrieden mit unserem Hauptgewinn.

Einmal Zwillinge, bitte

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