Читать книгу Einmal Zwillinge, bitte - Martin Niklas - Страница 8
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ОглавлениеFrau Hollenbachs segensreiches Wirken führte dazu, daß wir von nun an Stefanie und Katharina öfter in ihre Obhut gaben. Nicht nur, daß Frau Holle sichtlich unter dieser Aufgabe aufblühte – auch die Babys schienen sie zu mögen. Vielleicht hatte die pensionierte Kinderschwester eine besonders angenehme Art, ihnen Windeln anzulegen. Sie hatte inzwischen auch ausgiebig mit meinem Vater telefoniert und gemeinsame Erinnerungen aufgefrischt. Vater hatte sie davor gewarnt, sich von uns im Urlaub ausbeuten zu lassen, aber Frau Hollenbach hatte darauf bestanden, daß sie die Kinder täglich wenigstens ein paar Stunden betreute – meistens vormittags – , damit Christina und ich ›ein bißchen Farbe um die Nase bekamen‹.
Am vierten Tag unseres Aufenthaltes in der Pension Tannenblick kam es beim Frühstück zu einem Eklat mit Frau Kirchbichl. Zu einem sehr lautstarken Eklat sogar.
Ich hatte mir soeben Honig auf mein Brötchen geschmiert – fingerdick, wie ich zugebe –, als Frau Kirchbichl sich mit zusammengekniffenem Mund von ihrem Beobachtungsposten an der Küchentür löste und auf unseren Tisch zukam. Sie sprach aber nicht mich an, sondern Christina. Der reichlich genossene Honig war höchstwahrscheinlich nur Auslöser ihres aufgestauten Ärgers.
»Ich muß mit Ihnen doch einmal über Ihre Kinder sprechen«, sagte sie so laut, daß alle anderen Gäste im Frühstücksraum auch aufmerksam wurden. Einen Tisch weiter saß Frau Hollenbach und las in der Zeitung.
»Über unsere Kinder?« fragte Christina erstaunt.
»Die liegen friedlich oben im Zimmer und schlafen«, sagte ich. »Was gibt’s da groß zu besprechen? Oder haben die Schlawiner schon wieder heimlich ihr Gitterbettchen verlassen und hier im Haus rumgetobt?«
»Herr Roggenkämp, machen Sie sich nicht lustig über mich! Mir ist es sehr ernst. Ich habe mir...« Bei diesen Worten zog Frau Kirchbichl einen Zettel aus der Dirndljacke. »...ich habe mir hier genau notiert, wann Ihre Kinder schreien. Allein in den letzten zwei Tagen fünfmal. Fünfmal, Herr Roggenkämp! Das ist doch nicht normal!«
»Darf ich Ihre Liste mal sehen?« fragte Christina mit scheinbar ruhiger Stimme. Aber ihre Augen funkelten bereits kampflustig.
»Ich kann Ihnen die Zeilen vorlesen«, antwortete Frau Kirchbichl. Sie setzte ihre häßliche alte Brille auf und las:
»Gestern um 7 Uhr dreißig bis 7 Uhr sechsunddreißig, 16 Uhr neunzehn bis 16 Uhr neunundzwanzig, 18 Uhr fünf bis...«
Ich unterbrach sie abrupt.
»Ach das meinen Sie! Das war nur der Schock!«
»Welcher Schock?«
»Als die Babys merkten, in was für einem popeligen Zimmer sie ihren ersten Urlaub verbringen müssen. In dieser Situation hätte jeder von uns geschrien.«
Frau Kirchbichl lief dunkelrot an.
»Herr Roggenkämp – ich verbitte mir derartige Anspielungen! Wir sind seit fast dreißig Jahren eine Familienpension...«
»Was für Familien erwarten Sie denn? Stumme? Kinder und Erwachsene, die auf Museumspantoffeln durch Ihr Haus schleichen?«
»Als Museum wäre dieses Haus zu heruntergekommen«, warf Christina ein. »Gerade heute Morgen hat mein Mann fast eine halbe Stunde lang mühsam ein Sesselbein anschrauben müssen, das abgefallen war. Außerdem müßten Ihre Gardinen nach dreißig Jahren langsam mal gewaschen werden.«
An einem der Frühstückstische lachte jemand zustimmend. Das schien Frau Kirchbichl endgültig aus der Fassung zu bringen.
»Sie... Sie... haben den Aufenthalt in meinem Haus ja nur gewonnen, nicht einmal bezahlen tun Sie dafür!«
Ich zuckte mit den Schultern und lächelte sie an.
»Sie wissen doch, wie das ist, Frau Kirchbichl – einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. – Dürfen wir jetzt zu Ende frühstücken? Wir sind hier nämlich im Urlaub.«
Sie blickte noch einmal wütend von einem zum anderen, drehte sich um und ging mit geballten Fäusten, die sie beim Laufen an ihren Dirndlrock schlug, in die Küche zurück.
Plötzlich beendete die freundliche, aber nachdrückliche Stimme von Frau Hollenbach das peinliche Schweigen nach diesem Frühstücksschauspiel.
»Frau Kirchbichl – Sie haben Ihre Baby-Schrei-Liste vergessen! Im übrigen muß ich den jungen Leuten recht geben – sehr gemütlich ist es wirklich nicht bei Ihnen. Und ich zahle dafür.«
Die Wirtin hielt für Sekunden in ihrem zornigen Ausbruch inne, ohne sich umzudrehen, aber sie ertrug es wohl nicht, der alten Dame nach diesem vernichtenden Urteil über die Familienpension Tannenblick in die Augen zu schauen, zumal niemand der Gäste Frau Hollenbach widersprach. Frau Kirchbichl stürzte in die Küche und schlug die Tür hinter sich zu.
Danach frühstückten alle fröhlich weiter, als sei nichts geschehen. Es war aber doch etwas geschehen. Nämlich ein Wunder.
Von Stund an begegnete uns Frau Kirchbichl zwar höchst reserviert, aber doch sehr viel höflicher. Sie vermied alles, was neue Konfrontationen hervorrufen konnte.
Wir verrieten ihr auch nicht, daß wir uns schon am vierten Urlaubstag ausgesprochen erholt fühlten. In den Bergen merkt man das an zwei auffälligen Veränderungen: Abends fällt man schneller ins Bett, als man ›Schlaftrunk‹ sagen kann, und bei den Mahlzeiten ertappt man sich dabei, daß einem selbst drei üppige Gänge bayerischer Küche gerade als gut genug für den ersten Hunger erscheinen. Von zwei ordentlichen Maß Bier zum Essen ganz zu schweigen.
Erholung bedeutet auch, an nichts anderes als die Gegenwart zu denken. Doch in diesem Punkt war ich noch nicht so weit.
Immer wieder ging mir das Bild der romantisch gelegenen Holzhütte durch den Kopf. Eigentlich könnten wir jetzt unserem Wunschtraum so nahe sein. Und was taten wir? Wir redeten einfach nicht mehr darüber. Eines Vormittags, während Christina ein paar Sachen einkaufte und ich mit Flecki draußen auf sie warten sollte, nutzte ich die Zeit, um von der Post aus heimlich ein wichtiges Telefonat zu führen.
Ich rief Max von Schlipp an, einen meiner besten Freunde, den ich schon seit Studienzeiten kannte und der mein Finanzberater war, seit ich im vergangenen Jahr eine größere Summe von einem Onkel geerbt hatte. Max war Juniorpartner in der Firma ›Von Schlipp & Meppenröder‹, die zum größten Teil seinem Cousin gehörte, der ein namhafter Börsenmakler war. Mäxchen selbst zählte zum verarmten Adel. Seine eigene Karriere als robuster Börsenmakler – er hatte ursprünglich mit mir zusammen Literatur studiert – schien zwar nicht unbedingt vorgezeichnet; dazu war er eigentlich viel zu sensibel. Aber irgendwie schien er sich in dem knallharten Finanzgewerbe durchzuschlagen. Jedenfalls war er in den vergangenen Monaten schon erheblich smarter geworden.
»Max? Ich brauche deinen Rat.«
»Ach, du bist es, Stefan! Seid ihr wieder zurück?«
»Nein, ich rufe aus Mittenwald an...«
»Moment mal, Stefan...« Er wandte sich vom Telefon ab und rief nach hinten in sein Büro: »Nein, Frau Wedebusch, sieben Komma fünf Millionen, aber erst wenn der DAX wieder gefallen ist!«
»Max...«
»Da bin ich wieder, Stefan. Heute ist wieder der Teufel los bei uns...« Erneut brüllte er genervt nach hinten: »Frau Wedebusch – das ist der Wunsch des Kunden! Bitte – dann fragen Sie Herrn Dr. Meppenröder. Ich habe hier ein wichtiges Telefonat! – Stefan? Dieser Job bringt mich noch mal zur Verzweiflung. Habt ihr gutes Wetter?«
»Die Sonne scheint. Es ist wirklich schön hier.«
»Na toll! Also – dann mach’s gut. Und schöne Erholung noch...«
Bevor er, schon wieder in Gedanken, auflegen wollte, sagte ich schnell: »Max! Ich muß doch noch etwas mit dir besprechen!«
»Ach so, ja, entschuldige. Worum geht’s?«
»Wir haben eine traumhafte alte Holzhütte gefunden, die zu verkaufen wäre. Natürlich müßte man sie noch umbauen... Meinst du, wir könnten uns das leisten?«
»Ja, warum denn nicht?« Er schien zu staunen, daß ich überhaupt daran zweifelte.
Ich überlegte, ob ich ihm von der Kündigung unserer Wohnung erzählen sollte, ließ es dann aber.
Auch als ich ihm die Summe nannte, die der Bauer Alois Zapf für seine Hütte erwartete, zuckte Max nicht zusammen. Ich hörte ihn in irgendwelchen Papieren blättern. Dann sagte er:
»Die Wertpapiere aus deiner Erbschaft haben sich in der letzten Zeit fabelhaft entwickelt. Aus meiner Sicht wäre der Kauf okay.«
Skeptisch wollte ich wissen, ob ich denn auch so rasch über das Geld verfügen konnte. Ich hatte gelernt, daß man solche Papiere manchmal nur mit Verlust auf die Schnelle verkaufen konnte. Doch auch hier tröstete mich Max.
»Am nächsten Montag läuft ein Devisengeschäft aus, das wir für dich getätigt haben. Du stehst blendend da, Mann! Sag mir nur, wohin ich das Geld für dich überweisen soll.«
Erschrocken von seinem Realitätssinn, bremste ich erst einmal.
»Wir haben uns ja noch gar nicht entschieden. Wir spielen nur mit dem Gedanken. Ehrlich gesagt, Christina zögert mehr als ich. Mittenwald ist weit weg von uns – und dann die Umbauarbeiten. Das Ding ist ja sozusagen im Rohzustand...«
»Mein ganzes Leben ist im Rohzustand«, klagte Mäxchen. »Wie ich dich beneide! Erfolgreich als Journalist, Familie, nicht unvermögend... Und ich? Du weißt gar nicht, was das heißt, der Sklave des Geldes anderer Leute zu sein.«
»Ich ahne es«, sagte ich zynisch. »Ich weiß ja, was ihr an mir verdient.« Er ging einfach über meine Bemerkung hinweg.
»Außerdem entpuppt sich mein Cousin in der Firma zunehmend als Diktator...«
»Ist zwischen Antje und dir wenigstens alles in Ordnung?«
Mit Antje, einer gutaussehenden Medizinstudentin, hatte er sich erst kürzlich verlobt.
»Sie ist momentan der einzige Lichtblick für mich«, seufzte er. »Sonst nur Wolken.«
»Ich muß Schluß machen Max, mein Geld ist alle...«
Es knackte und das Gespräch war zu Ende.
Nachdenklich ging ich auf die Straße zurück und wartete, bis Christina mit drei Einkaufstüten in der Hand zurückkam.
»Du Armer«, sagte sie mitleidsvoll, »hast so lange warten müssen!« Erst als sie Flecki streichelte, merkte ich, daß sie den Hund meinte. Frauenkenner wissen, daß diese Reaktion typisch war. Bei einem Mann mit Hund gehört der verliebte Blick einer Frau immer zuerst dem Vierbeiner.
Ich beschloß, nicht länger um den heißen Brei herumzureden.
»Ich habe gerade mit Max telefoniert. Er läßt dich schön grüßen...«
»Habt ihr schon wieder über Geschäfte geredet? Komm, Schatz, vergiß nicht, daß du durch ihn schon einen Teil deiner Erbschaft verloren hast!«
»Eben. Deswegen...«
Ich räusperte mich, um endlich zum Punkt zu kommen. Verdammt noch mal, es war doch meine Erbschaft!
»Ich hab’ mit Max über die Hütte gesprochen. Er meint auch, wir sollen es machen. Ich hab’ mich entschlossen, die Hütte zu kaufen.«
Ich erwartete eine heftige Gegenwehr von Christina, irgend etwas Dramatisches, ein Gewitter vernünftiger Argumente – doch sie sah mich nur ungläubig an, als hätte ich einen schlechten Witz gemacht, und schüttelte unmerklich den Kopf. Dann, plötzlich, stellte sie einfach ihre Tüten auf die Straße – und fiel mir um den Hals.
»Du Verrückter! Die ganze Zeit hab’ ich gehofft, daß du noch mal über die Hütte redest. Aber kein Wort hast du gesagt!«
»Doch nur, weil du neulich alles abgeblockt hast!«
»In Wirklichkeit hab’ ich jede Nacht von der Hütte geträumt.«
»Und ich hab’ jede Nacht vor dem Einschlafen gerechnet – ich weiß schon genau, wie wir umbauen, ich seh’alles vor mir.«
Christina küßte mich zärtlich.
»Ich hab’ mir so gewünscht, daß wir ganz oft hierherfahren können... Weihnachten im Schnee... Skifahren...«
Sanft schob ich sie beiseite und sagte:
»Dann müssen wir heute noch zwei Dinge erledigen: Mit Alois Zapf zum Notar gehen und für die Kinder Lederhosen kaufen.«
Plötzlich verdüsterte sich Christinas Blick, sie reagierte gar nicht auf meinen Scherz.
»Und wenn er jetzt nicht mehr verkaufen will, der Herr Zapf, weil wir zu lange überlegt haben? Oder jemand anders ist bei ihm aufgekreuzt?« Natürlich hatte sie recht. Jede Minute zählte. Es war naiv zu glauben, daß ein so traumhaft gelegenes Objekt wie die Zapfhof-Hütte der Begierde anderer Interessenten noch lange entgehen könnte.
Schon eine halbe Stunde später saß ich dem Bauern in seiner guten Stube gegenüber. Damit es auch ordentlich nach einem guten Geschäft für beide Seiten aussah, feilschten wir noch ein Weilchen um Kleinigkeiten. Beim Geld wollte Alois Zapf nicht mehr nachgeben, da war sein oberbayerischer Schädel hart wie Granit, aber es gelang mir immerhin, ihm etliche Stämme Holz abzuringen, die unserem Umbau dienen sollten, sowie die Zusage, vorher auf seine Kosten das Dach neu zu decken. Außerdem bot er mir freiwillig an, regelmäßig während unserer Abwesenheit in der Hütte nach dem Rechten zu sehen und hin und wieder die Wiese mitzumähen.
Ich hielt ihm die Hand hin, und er schlug gutmütig ein.
»Alsdann, Herr Nachbar«, sagte er, »auf geht’s!«
Er griff hinter sich nach einer großen Flasche und zwei Gläsern, die auch nicht gerade für Kinder waren.
»I hob an oidn Enzian – der ist grad recht zum Feiern!«
Schon am nächsten Tag besiegelten wir den Kauf beim Notar.
Es ging alles so schnell, daß wir erst wieder zu uns kamen, als wir in der Nachmittagssonne vor der Hütte im Gras lagen und voller Stolz unseren neuen Besitz betrachteten.
Neben der Tür, die auf die talseitige Wiese hinausführte, blühten kleine blaue Blumen, die sich wie Kunstwerke von den dunklen Holzbalken dahinter abhoben.
»Hier könnte ich ewig liegen...«, träumte Christina und blinzelte in die Sonne.
»Ab jetzt gibt’s das nicht mehr«, sagte ich kategorisch. »Das ist eine Baustelle und kein Kurhaus.«
Grinsend zog ich ein aufrollbares Metermaß aus der Tasche.
»Damit aus dieser Ruine was Anständiges wird!«