Читать книгу Einmal Zwillinge, bitte - Martin Niklas - Страница 7
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ОглавлениеEin erwachender alpiner Kurort ist etwas Unvergeßliches. Die ersten Wanderer, ausgestattet mit Kniebundhosen und rotweiß karierten Hemden, quälen sich schon bergauf zur Liftstation, beim Bäcker stehen die Appartementgäste Schlange, eine alte Bäuerin in dunkler Tracht schleppt zwei große Körbe mit Gemüse zum Kurhotel am Ende der Straße, und die Autos der ersten Ausflügler stauen sich an der Ampel zwischen Apotheke und Gemeindeverwaltung. Am wundervollsten ist es natürlich, wenn man nicht zu den Ausflüglern im Auto gehört.
Christina und ich hatten uns gleich morgens um acht auf den Weg gemacht, nachdem wir Frau Holle schon um Viertel nach sieben beim Frühstück angetroffen hatten.
Ich hatte eine raffinierte Wanderroute für Christina und mich zusammengestellt. Sie führte vorbei an den Buckelwiesen, dem Luttensee und dem Wildensee bis nach Krün, einer Nachbargemeinde von Mittenwald. Andere Touristen beanspruchten für diese Strecke bereits die goldene Wandernadel.
Als wir mittags von Krün zurückmarschierten, kam uns eine Familie mit vier Kindern entgegen. Das Jüngste weinte, ein etwa sechsjähriger Junge sprang unter den drohenden Rufen seiner genervten Mutter in einer Pfütze herum, und die beiden älteren Mädchen stritten sich kratzend und heulend. Der Vater schritt mit hochrotem Kopf nebenher und redete beschwichtigend auf seine Kinder ein. Vergeblich.
Wir dachten beide das gleiche.
Als wir die Horrorfamilie ein Stück hinter uns gelassen hatten, sagte Christina: »Jemanden wie Frau Hollenbach müßten wir eigentlich zu Hause auch haben...«
»Ich denke, du hast mit deiner Mutter gesprochen, daß sie...«
Christina blieb stehen.
»Ich meine, wenn wir nach dem Urlaub zurückkommen. Natürlich kann ich Stefanie und Katharina später zu meiner Mutter bringen, wenn ich vormittags in der Schule bin. Aber doch noch nicht im ersten Jahr.« Für das nächste Jahr hatte Christina sich vom Schuldienst befreien lassen.
»Du meinst, ein Kindermädchen?« fragte ich irritiert. Sie wußte doch, was ich verdiente.
Christina lachte.
»Hast du schon mal was von Au-pair-Mädchen gehört?«
»Au-pair-Mädchen? Ich dachte, die sind eher für die Väter interessant...«
»Untersteh dich!«
Plötzlich waren Regenwolken über uns. Wir rannten, bis wir zu drei mächtigen Fichten kamen, deren Äste uns Schutz boten. Doch zehn Minuten später zuckten die ersten Blitze auf, und der Himmel wurde schwarz. Die Gebirge um uns herum wirkten jetzt dunkel und bedrohlich.
»Da unten ist eine Hütte!« rief Christina und deutete talwärts.
»Also los!«
Tropfnaß kamen wir unten an. Christinas blonde Haare klebten auf ihrem knallroten Hemd. Sie sah süß aus. Ich zog sie an mich. Eng umschlungen lehnten wir uns unter dem überstehenden Dach an die Holzwand der Hütte. Die dunklen, früher einmal braunen dicken Stämme waren jetzt vom Wetter stellenweise fast hell gebleicht, nahezu in Silberglanz. Jahrzehnte von Schnee und Sonne hatten dem Haus Charakter gegeben. Das Gewitter stand genau über uns. Die Blitze zuckten wie Pfeile um uns herum.
Plötzlich knarrte eine Tür.
»Ja, warum kimmt’s Ihr net eini?«
Ich fuhr herum. Durch den Regen sah ich eine große Männergestalt mit grauem Vollbart und einem offenen Strickjanker über der speckigen Lederhose.
»Entschuldigung... aber... wir dachten, weil die Fensterläden zu sind...«
Flüsternd sagte Christina in mein Ohr: »Jetzt lauf schon, bevor wir hier aufweichen!«
Wir rannten gleichzeitig los und zwängten uns durch den niedrigen Eingang ins Innere der Hütte. An zwei Fenstern auf der Talseite waren die Fensterläden geöffnet und ließen dämmriges Licht in den Raum. Schmunzelnd schloß der Bauer die Tür hinter uns und sagte:
»Dos is a Trumm von Gwitter – da muaß ma trocken sitzen. Obwohl Ihr Touristen vom vielen Kraxeln bestimmt no a bisserl besser trainiert seid’s als mia, oder?«
»Ich fürchte nicht«, antwortete ich lachend, »Sie haben uns vielleicht das Leben gerettet.«
Während er aus einer Ecke zwei alte Klappstühle hervorholte, blickten wir uns um. Dauerhaft bewohnt war die Hütte offenbar nicht. Zwar gab es einen großen Holztisch, auf dem noch die Reste einer deftigen Brotzeit lagen, sowie eine Holzbank davor, aber ansonsten diente die Hütte wohl eher als Heuschober und Aufbewahrungsort für Stallgeräte. In einer Ecke lagen alte Körbe und Heugabeln. Auch Schafe schienen hier manchmal zu logieren, wenn ich die kleinen Kötelchen auf dem Lehmboden richtig interpretierte.
Der Bauer nahm auf der Bank Platz, wir auf den wackeligen Stühlen. Über uns schlug der Regen prasselnd aufs Dach.
»Seid’s von Mittenwald herkimma?« fragte der Bauer. Ich schätzte ihn auf ungefähr fünfzig Jahre, vielleicht war er auch älter, das konnte man wegen des grauen Bartes nicht so genau beurteilen. Seine wettergegerbte Haut zeigte tiefe Furchen.
»Ja, von Mittenwald«, antwortete ich. »Wir wohnen in der Pension Tannenblick.«
»Jessasmaria!« rief er voller Mitleid aus. »Bei der Kirchbichl Mariann, der alten Bißgurn, der g’spaßigen? Di werd Eahna nacha scho das Parieren beibringa, mei Liaba! Wart’s nur ab!«
Christina verbarg nur mühsam ihr Lachen.
»Wir sind erst vorgestern angekommen«, sagte ich. »Wenn Sie meinen, daß Frau Kirchbichl ein wenig streng wirkt, könnten Sie recht haben...«
»Streng? Die? Streng is nix geng der Kirchbichl ihr Stoanherz... verstengen’s mi? Ein Steinherz hat’s!«
Unaufgefordert erzählte er uns mehrere Episoden aus Frau Kirchbichls Leben, wie sie als geborene Preußin hierher geheiratet hatte, mit ihrem Mann die Pension erbte und es schon ein Jahr später geschafft hatte, ihren Gatten auf den hübschen kleinen Friedhof zu bringen. Ihr gelang es auch immer wieder, sich mit dem Gemeinderat anzulegen, mit der Kurverwaltung, der Versicherung und dem Schornsteinfeger.
»Mi hat’s a amol dableckt, das Hehndl, das damische.«
»Sie meinen, sie hat Sie reingelegt?« fragte ich. Mir begannen die Lokalpossen um Frau Kirchbichl Spaß zu machen.
Der Bauer fuhr grantig durch seinen grauen Bart. Er schien nicht recht zu wissen, ob er Fremden wie uns diese Geschichte wirklich erzählen sollte. Zögernd stand er auf, ging zum Fenster und blickte nach draußen in die Tristesse des Himmels. Unter den Gewitterwolken erschienen die Wiesen vor dem Fenster dunkelgrün.
Er entschied sich offenbar, von seiner Auseinandersetzung mit unserer Wirtin nichts preiszugeben. Statt dessen fragte er freundlich, woher wir kämen und wie lange wir bleiben wollten. Schließlich holte er zwei Flaschen Bier unter der Bank hervor und stellte sie vor uns hin. »Als Wegzehrung«, meinte er. »Daß wißt, daß es alleweil no a Gastfreundschaft hier droben gibt.«
Als Journalist war ich immer an neuen Menschen interessiert. Ich bekam heraus, daß er Alois Zapf hieß. Vorsichtig fragte ich ihn über sich selbst aus, über seinen Hof, seine Familie, seinen Alltag. Er erzählte schlicht und geradeheraus, ohne Schnörkel.
Daß er einen respektablen alten Hof von seinem Vater übernommen habe, den er heute mit seinen beiden erwachsenen Söhnen betreibe, daß die Viehwirtschaft in den Alpen immer mühsamer werde und er Wiesen auf der anderen Seite des Tales dazugekauft habe, um die Kühe künftig näher am Ort halten zu können.
Christina hatte in einer Ecke der Hütte eine junge schwarzweiße Katze entdeckt, die auf einem umgekippten Weidenkorb saß und sich die Pfoten leckte. Während Christina mit der Katze spielte und sich dabei auf den Boden hockte, ließ sie wie ein romantisches kleines Mädchen entzückte Blicke durch die Hütte schweifen, vom geflickten Dach über das karge Inventar bis zu den beiden wuchtigen grauen Stämmen, die als Stützen unter dem Deckenbalken standen.
»So was müßte man kaufen können...«, sagte sie halblaut.
Alois Zapf hatte sie gehört und rief vom Tisch herüber:
»Moana Sie dös Katzl oder d’Hüttn?«
Christina lachte.
»Die Hütte natürlich. Mit der Katze.«
»Machan’s mir an Angebot.«
Es dauerte einige Sekunden, bis wir begriffen, was er da gerade gesagt hatte. Ich starrte ihn an.
»Meinen Sie das ernst? Wäre die Hütte wirklich zu verkaufen?«
Der Bauer nickte.
»Ja freili.«
»Herr Zapf, wenn die Hütte wirklich zu verkaufen ist...«
Wie oft hatten wir schon von einer Hütte in den Bergen geträumt! Natürlich wußten wir, daß dieser Traum kaum bezahlbar war. Warum sollte es plötzlich hier funktionieren?
Wir erfuhren, daß diese Hütte von Alois Zapf aufgegeben wurde, weil er sie kaum mehr nutzen konnte. Sie lag zu weit ab von seinen neuen Wiesen. Und da er das Geld brauchte, hatte er den Gedanken an eine Verpachtung wieder verworfen. In der kommenden Woche wollte er den Verkauf einem Mittenwalder Makler übergeben.
Aufgeregt tigerte ich vor dem Tisch auf und ab, während der Bauer Details erzählte. Christina hatte so viel Nerven, sich die wichtigsten Dinge in ihrem Taschenkalender zu notieren.
Amüsiert beobachtete Alois Zapf uns. Ich glaubte aber zu bemerken, daß er uns auch wohlwollend zusah.
Die Hütte war vor etwa fünfzig Jahren gebaut worden, zuerst als stabiler Heuschober, später in vergrößerter Form als Schafunterstand. Zeitweise war dort nach dem Krieg sogar eine Melkerfamilie untergebracht worden. Aus dieser Zeit stammte auch der Kamin. Ringsherum gehörten etwa eintausend Quadratmeter Wiese dazu, vom Feldweg bis zu einem schmalen Bach, der im nahe gelegenen Wäldchen verschwand und an dessen sumpfigem Ufer gelbe Dotterblumen wuchsen.
Das Gewitter hatte sich inzwischen verzogen, langsam kam die Sonne wieder zum Vorschein.
Der Preis, den Alois Zapf mir nannte, war schwindelerregend; gleichzeitig war der Bauer jedoch so listig und ließ durchblicken, daß man durchaus noch verhandeln könne.
Ich wandte ein, daß man mindestens die gleiche Summe noch einmal zum Ausbau der Hütte brauchen würde. Er lachte nur und schlug mir in der Tür freundschaftlich auf die Schulter.
»Geh zua – so a schöns Häusl find’st nimmer, mei Liaba. Die Frau Gemahlin strahlt ja scho alleweil wia a neues Handkofferl!«
Ärgerlicherweise hatte er recht. Christina stand versonnen vor dem gemauerten Kamin, eine Hand auf den Steinen, und hatte leuchtende Augen.
»Geben Sie uns ein paar Tage Bedenkzeit. Wir melden uns spätestens Ende der Woche«, sagte ich und reichte dem Bauer die Hand.
Langsam folgte mir Christina nach draußen, so als hätte sie wenig Lust, die Hütte zu verlassen.
Von oben auf dem Hauptwanderweg, den wir nach fünf Minuten wieder erreichten, sahen wir das Haus noch einmal aus der Vogelperspektive.
»Sind wir eigentlich von allen guten Geistern verlassen, an so was überhaupt zu denken?« fragte Christina plötzlich. »Wir wissen ja nicht mal, wo wir zu Hause wohnen werden – jetzt, mit einer Kündigung in der Tasche.«
Sie hatte die wundervolle Eigenschaft, sich immer im richtigen Augenblick an die falschen Dinge zu erinnern. Und damit auch mich. Ich winkte deprimiert ab.
»Natürlich ist das Ganze eine blöde Idee. Vergiß es.«
»Vergessen wir es. Aber dann darf auch keiner von uns mehr davon reden, abgemacht?«
»Versprochen.«
Hand in Hand wanderten wir schweigend die steile Straße bis zur Weggabelung hinauf. Jetzt sahen wir wieder Mittenwald und die Karwendelwand. Genau zwischen Talstation und Bergspitze entdeckten wir die gläserne Kabine der Schwebebahn. Sie fuhr nach unten.
»Abwärts!« rief Christina lachend und zog mich mit ins Tal.