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Tante Frieda

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Sie war die kleinste meiner Tanten. Aber sie hatte eine große Seele und ein großes Herz. Sie war die Frau meines Patenonkels. Neben seiner großen Gestalt wirkte sie noch kleiner, als sie an sich schon war. Sie hatte eine mollige, mütterliche Figur. Es schien fast unglaublich, dass ihrem Leib ein Sohn entsprossen war, der einmal die Größe seines Vaters überbieten würde.

Die Stimme von Tante Frieda war melodiös und süß wie Honig, aber nie süßlich. Sie klang bestimmt und ehrlich. Ich habe Tante Frieda selten ohne Arbeit gesehen. Vielleicht abends, wenn sie auf der Kaust, der Ofenbank, in der Stube saß und im „Echo vom Maiengrün“, im „Gelben Heftli“ oder im Eulenspiegelkalender las. Arbeit gab es ja genug. Sie hatte für eine große Familie zu sorgen. Nebst Gatte und Sohn war da noch ein Pflegekind, Arthur. Mein Cousin war zwölf Jahre älter als ich. Arthur, den sie als kleinen Jungen angenommen hatten und wie ein eigenes Kind liebten, war gleich alt wie ich. Zum Mittagessen kamen immer auch ein paar Arbeiter aus der Werkstatt herauf. Im Nachbarhaus, das durch die angebaute Werkstatt mit dem neueren Haus meines Paten verbunden war, lebte noch die Großmutter. Als diese gestorben war, versorgte Tante Frieda auch noch den Kolonialwarenladen, der nicht größer als ein kleines Zimmer und ursprünglich wohl auch nichts anderes als ein Schlafzimmer gewesen war. Mehrmals am Tag, wenn jemand an der Glocke zog, musste Tante Frieda von der Arbeit in der Küche oder im Garten weglaufen und hinüber, die steile, ausgetretene Treppe hoch, durch den dunklen Korridor. Dann schloss sie die Tür zum Laden auf mit dem schweren Schlüssel, den sie immer in der Schürzentasche bei sich trug.

Einmal im Jahr wurde ein Schwein gekauft und auf dem Hof gemetzgt. Dann schickte sie uns in die Stadt ein paar Blut- und Leberwürste, die mein Vater so gerne aß und in die er, zum Ärger meiner Mutter, aber zur Belustigung von meiner Schwester und mir voll Freude und Lust mit den spitzen Zinken der Gabel stach, so dass das flüssige Fett in hohem Bogen wie ein Springbrunnen herausspritzte.

Vor dem Haus und dem Hof stand das Wasch- und Backhäuschen, wo Tante Frieda jede Woche einmal große Wäsche machte und das Brot für die ganze Familie und die ganze Woche buk. Auch die Kuchen, je nach Jahreszeit Kirschen-, Apfel- oder Rhabarberkuchen und jedes Mal auch Käse-, Spinat und Kartoffelkuchen mit Speckwürfeln drauf gehörten zu den Leckerbissen.

Ich weiß nicht, wo die kleine Tante Frieda all die Kraft hernahm, um die große Familiengemeinschaft und den Haushalt zu versorgen. Es waren ja meist nicht nur der Gatte, die beiden Kinder und die Arbeiter. Da war über eine gewisse Zeit hinweg auch ein junges Mädchen, das vom eigenen Bruder geschwängert worden war und ein Kind bekommen hatte, das man ihm wegnahm und in ein Heim steckte. Das Mädchen aber, zu dessen Vormund mein Pater bestellt worden war, nahm Tante Frieda selbst in ihre Obhut. Und es war ihr wohl eher eine Last als eine Hilfe.

Und dann kamen immer wieder die vielen Besuche und Feriengäste. Wir waren oft nicht die einzigen. Einmal weilten zwei Cousinen meiner Mutter mit uns im Haus. Längere Zeit lebte auch ein Freund meines Cousins hier, und die Lehrerin des Dorfes hatte sich eingemietet und gehörte gleichfalls zur Familie. Oder dann traf man auch die Verwandten aus Rom oder gar Amerika, für die jederzeit ein eigenes Zimmer bereit und offen stand, in das sie oft unangemeldet sogar mitten in der Nacht Einzug hielten. Und als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, tauchten sie dann am Morgen zum Frühstück auf. Trotzdem gab es nie Platznot. Wer im Haus meines Paten keinen Unterschupf fand, wurde drüben bei der Großmutter einquartiert.

Es muss allerdings gesagt sein: Ohne eine Hilfe im Haushalt wäre dies alles nicht möglich gewesen. Wer hätte geschaut, dass die Milch oder die Suppe nicht überquoll und die Kartoffeln nicht anbrieten, wenn Tante Frieda durch das Glockengebimmel in den Laden hinübergerufen wurde? Wer hätte all die Schuhe und Kleider gereinigt, die Wäsche geglättet? Wer die Küchenkräuter aus dem Garten geholt?

Die Hilfe – ich erinnere mich an sie, seit ich gehen, reden und denken kann –, das war Lydia. Sie war schon immer da. Sie besaß kein Alter. Für mich war sie all meine Jugendjahre hindurch immer gleich alt oder gleich jung. Wir Kinder fürchteten sie. Sie war eine große, stämmige Frau. Wenn sie ihre Wutausbrüche hatte, stellten wir Kinder uns vor, dass sie ohne weiteres in der Lage gewesen wäre, Tante Frieda in die Höhe zu stemmen und sie zum Fenster hinaus oder in eine Ecke der Küche zu werfen. Lydia war stumm. Sie hatte eine krächzende Stimme, mit der sie nur ein paar Urlaute hervorbrachte. Aber sie war eine ausgezeichnete Köchin. Wenn wir sie in der Küche antrafen, durch die uns der Weg in die Schlafzimmer im oberen Stockwerk führte, schlichen wir möglichst schnell und unauffällig an ihr vorbei. Wenn sie mit dem scharfen Küchenmesser in der Hand über den Hof lief, um im Garten Petersilie oder Schnittlauch abzuschneiden, suchten wir das Weite. Nicht ohne Grund. Denn Lydia war nicht selten eine Furie. Wir hörten auf dem Hof ihr Geschrei, das aus der Küche durchs offene Fenster zu uns herunterdrang, wenn sie auf Tante Frieda losschimpfte. Oder dann schlug sie das hölzerne Fleischbrett auf die Tischplatte, dass es nur so knallte. Einmal sah ich sie am Küchentisch sitzen, den Kopf auf die Tischplatte schlagend und herzzerreißende Jammertöne von sich gebend. Ich weiß nicht, ob sie aus Wut oder Trauer weinte. Ein andermal sah ich, wie sie meine Tante zu irgendetwas erpressen wollte, indem sie drohte, sich die Finger mit dem Fleischermesser abzuhacken.

Ich verstand nie, was sie wollte. Die lauten Vokale, die sie ausstieß, formten sich nie zu Worten. Sie war für mich wie ein wildes, unberechenbares Tier, eine Löwin oder ein Tiger, der einen plötzlich anspringen und zerfleischen konnte.

Doch Tante Frieda war ein Engel. Sie besaß eine wahre Engelsgeduld. Sie war die Einzige, die Lydia verstand. Wenn Lydia mit dem blanken Fleischmesser auf Tante Frieda losging, bewahrte sie die Ruhe. Wie ein Mensch, der einem fremden, kläffenden Hund entgegentritt, ging sie auf Lydia zu, redete mit ruhiger Stimme auf sie ein und nahm ihr das Messer aus der Hand.

„Geh, leg dich hin!“, sagte sie dann. „Ruh dich aus! Schlaf ein wenig.“

Und Lydia ging in ihre Kammer, murrend zwar, aber doch folgsam. Und Tante Frieda machte die Arbeit in der Küche oder im Garten allein, bis Lydia ihren Tobsuchtsanfall ausgeschlafen hatte.

Einmal, es war während des Zweiten Weltkriegs, waren die „Römer“ gekommen. Diesmal wohnten sie allerdings im Nachbardorf bei Verwandten. Doch Margherita, die kleine Cousine meines Vetters, war zum Mittagessen gekommen und blieb bis in den Nachmittag hinein. Ich war Gymnasiast. Margherita war ein zierliches, fröhliches Mädchen. Wir spielten miteinander und neckten uns. Und ich verliebte mich bis über beide Ohren in das hübsche Geschöpf, das mir auch bei zwei weiteren Besuchen schöne Augen machte.

Ein paar Tage später reisten sie ab, zurück nach Italien, das gerade in diesen Tagen dem ehemals befreundeten Deutschland den Krieg erklärte.

Auch wenn ich glaubte, mir nichts anmerken zu lassen, spürte ich doch, dass Tante Frieda meine Liebe erkannt hatte. Sei schwieg, aber ihre Augen verrieten, dass ich meine Gefühle vor ihr nicht verbergen konnte.

Bei meinen späteren Aufenthalten in Brunegg wagte ich nie, nach Margherita zu fragen. Aber Tante Frieda verstand es immer, mich indirekt, in einem Gespräch mit meiner Mutter, dem ich zuhörte, oder am Mittagstisch über das Wenige, das sie aus dem besetzten Rom erfahren hatte, zu informieren. Und ich wusste, dass sie es meinetwegen erzählte und so, ohne sich direkt an mich zu wenden und mein Geheimnis zu verraten, meine Neugier stillte.

Als nach dem Krieg mein Cousin heiratete, brachte sie Margherita und mich für diesen Tag als Paar zusammen. Und später, als Margherita einen andern geheiratet hatte, erfuhr ich stets auf die gleiche rücksichtsvolle Weise vom Ergehen der kleinen Römerin, der über Jahre meine geheime, ungestillte und unerwiderte Liebe gegolten hatte.

Ich erinnere mich nicht mehr, woran Tante Frieda gestorben ist. Ihr Gedächtnis nahm ab. Sie wusste nicht mehr, was sie tat. Mein Patenonkel musste sie oft mitten in der Nacht ins Schlafzimmer zurückholen, wenn sie, nur mit dem Nachthemd bekleidet, aus Großmutters Haus, das sie nun bewohnten, ins andere Haus hinüber- oder in den Garten hinuntergegangen war.

Seit sie nicht mehr lebt, ist das Haus leer geworden, und seit ich kein Kind mehr bin, komme ich nur noch selten in das Dorf, und manchmal auch nur auf den Friedhof, wo auch meine Eltern begraben sind. Dann gehe ich auch zum Grab meines Paten und von Tante Frieda. Aber ich weiß, dass ich die Toten hier nicht finden kann. Es gibt Stunden, wenn ich allein zu Hause sitze, da sind sie mir alle viel näher, und eines Tages, so lange kann es auch nicht mehr dauern, denn auch ich bin inzwischen alt geworden, werden wir uns ganz nahe sein.

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