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Die beiden Blinden

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Wenn man in St. Gallen an der Kathedrale vorbei und über den Gallusplatz geht, gelangt man nach wenigen Schritten zu der Stelle, wo die Steinach durch die Schlucht herabstürzt und wo dem irischen Mönch Gallus im Jahre 612 ein Bär begegnete, der ihm das Holz herbeitrug, damit er dort seine Zelle bauen konnte.

Von da fährt das Mühleggbähnchen in einem Tunnel steil hinauf nach St. Georgen. Früher, ehe es mit Elektrizität angetrieben wurde, waren es noch zwei Kabinen. Die eine stand oben, die andere unten. Beide waren durch ein Drahtseil miteinander verbunden.

Der Schaffner des unteren Wagens meldete durch ein Telefon nach oben, wie viele Passagiere begehrten, hinaufbefördert zu werden. Und der Schaffner des oben stehenden Wagens ließ dementsprechend eine gewisse Menge Steinachwasser in den hohlen Boden der Kabine einfließen. Ein Klingelzeichen von oben deutete unten an, dass genügend Wasser eingefüllt und die Zeit der Abfahrt gekommen sei. Oben wurden die Bremsen gelöst, und beide Kabinen setzten sich in Bewegung. Die obere Kabine zog durch das Gewicht der Passagiere und des Wassers die untere nach oben über eine Distanz von kaum mehr als dreihundert Meter und eine Höhendifferenz von siebzig Metern.

Die Fahrt dauerte wenige Minuten. Unten angekommen, wurde eine Klappe im Boden geöffnet, und das Wasser rauschte zurück in das Bachbett, das gleich darauf unter der Straße verschwand und erst weit weg in einem Außenquartier wieder ans Tageslicht treten durfte.

Ich kam von der anderen Seite hinter der alten Klostermauer herauf, als ich vom Gallusplatz her zwei Blinde auf die Talstation des Drahtseilbähnchens zustreben sah. Die weißen Stöcke, die gelben Armbinden, der unsicher Tritt auf die Stufen zum Eingang, den sie Hand in Hand durchschritten, wiesen sie als Sehunfähige aus.

Langsam tasteten sie sich neben der Kabine über die schrägen, langgezogenen Stufen, an deren Kanten die Stockspitzen klopfend stießen, bis zur obersten der vier Schiebetüren, die offen standen und den Eingang frei gaben zu je zwei sich gegenüberstehenden Bänken. Ich stieg weiter unten bei der zweiten Tür ein. Wir drei waren bei dieser Fahrt nebst dem Schaffner die einzigen Passagiere. Für unsere gesamthaft kaum mehr als dreihundert Kilogramm Gewicht brauchte nicht viel Wasser eingefüllt zu werden.

Das Klingelzeichen ertönte, der Schaffner schloss die Türen und trat an die Bremse.

Einer der Blinden hatte sich bergwärts, der andere ihm gegenüber auf die Talseite gesetzt.

„Komm, setzt dich hier neben mich!“, sagte der eine zu dem, der mit dem Rücken zur Bergseite saß. „Hier kannst du es besser sehen.“

Ich begann an der Blindheit der beiden zu zweifeln. Es gibt ja auch Bettler, die so tun als ob… Doch diese beiden sahen weder wie Bettler noch wie Betrüger aus.

Die Kabine setzte sich in Bewegung und rumpelte in die Höhe. Zuerst einmal aus dem Stationshäuschen hinaus, dann ein kleines Stück durch die Schlucht. Schließlich verschwand sie im Tunnel.

„Jetzt sind wir drinnen im Loch“, erklärte der eine.

Und bald rief er: „Schau! Siehst du es? Das Licht dort oben. Das ist der Ausgang des Tunnels.“

„Ja, ich seh es“, antwortete der andere mit der für manche Blinde so typischen, eintönigen und fast ein bisschen blechern und hohl klingenden Stimme.

„Schau doch!“, rief der Erstere. „Ist das nicht herrlich?“

„Es wird immer größer und heller“, frohlockte der Zweite.

„Ja, wir sind bald droben. Das ging schnell. Viel zu schnell.“

Ich glaube, die beiden wollten nur um dieses Erlebnisses willen nach oben. Der eine schien diese Fahrt schon mehrmals gemacht zu haben. Ich vermute, dass er auch seinem Kameraden diese ihn beglückende Erfahrung vermitteln wollte.

Als ich ausstieg, blickte ich in der Tat in zwei Gesichter, auf denen sich ein großes Glück widerspiegelte.

Ich erinnere mich, dass ich als Kind jeweils auch gespannt nach oben geschaut hatte, bis das Licht am Ende des Tunnels zu erkennen war. Aber später, bis zu diesem Tag, hatte ich dem keine Beachtung mehr geschenkt. Erst die beiden Blinden hatten mir die Augen wieder geöffnet. Für sie war die Welt nach diesem Wunder wieder ins Dunkel versunken. Aber das kleine Licht aus der Höhe hatte sie glücklich gemacht.

Ich war aus der Dunkelheit herausgetreten. Und wären die beiden Blinden nicht gewesen, ich hätte das helle Licht, das mich jetzt umfing, nicht beachtet, hätte es als selbstverständlich hingenommen und wäre selbst als ein Blinder meine Wege gegangen.

Die Großen und die Kleinen

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