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Gesucht, ein Packer

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Frau Knopf ist meine Sekretärin. Zugleich ist sie Fakturistin und – wenn Not am Mann ist, und das ist gerade der Fall – auch Packerin. Kurz vor dem geschilderten Ereignis habe ich als neuer Verlagsleiter meine Stelle in dem idyllischen Häuschen angetreten. Angetreten habe ich auch: Frau Knopf, die Sekretärin, eine von ihrem um zwölf Jahre jüngeren Mann geschiedene Frau, dann eine halbe Buchhalterin, die allerdings in meiner Geschichte nicht nur deshalb nicht in Erscheinung tritt, weil sie nur nachmittags arbeitet, sondern weil sie so humorlos ist, dass sie sich zu stolz fühlte, in ihrem Leben auch nur ein einziges Buch zu verpacken, und deshalb den Ehrentitel „Packer“ gar nicht verdient. Mitarbeiter meines Verlags, die auf den nachfolgenden Seiten auftreten dürfen, haben also mindestens den Versuch unternommen, in die Geheimnisse eines Verlagspackers einzudringen. Zu diesen gehören einmal Herr Kienspan, der damals noch Mädchen für alles war, uns aber schon bald verließ, um sich als Kaufmann auszubilden, und der später manches Comeback bei uns feierte. Mein erster wirklicher Packer aber war ein blasses, dunkeläugiges , schwarzhaariges Mädchen, das Tag für Tag eine Menge Bücher packte und die Pakete eigenhändig mit einem Leiterwagen zur nahen Post oder Bahnstation brachte. Da das Mädchen schon vor meinem Kommen gekündigt hatte, war ich gezwungen, als erste Amtshandlung einen Packer zu suchen. Und damit begann meine Leidensgeschichte.

Wir zählen das Jahr 1956. Das war noch die gute alte Zeit. Damals gab es noch Packer in Hülle und Fülle. Man durfte noch erwarten, dass sich ein Packer schriftlich um die ausgeschriebene Stelle bewarb. Es gab sogar welche, die ein Passbild beilegten.

Es war im Mai jenes Jahres, als das Inserat erschien: Gesucht kräftiger, ehrlicher Packer. Schriftliche Offerte erbeten usw.

Am nächsten Tag hatte ich sechzig Offerten auf meinem Pult liegen. Zwanzig der Offertsteller kamen leider nicht in Frage, weil sie bisher schon Packer waren und jetzt einen gehobeneren Posten als Bürodiener, Chauffeur, Vorarbeiter, Aufseher oder Kontrolleur suchten. Siebzehn schieden aus, weil sie ein Salär verlangten, das eine Anpassung aller anderen Saläre nötig gemacht hätte. Da aber der Verlagsleiter mindestens zehn Prozent mehr erhalten sollte als ein gewöhnlicher Angestellter, konnte ich es nicht verantworten, mein Gehalt von einem Tag auf den anderen zu verdoppeln.

Von den dreiundzwanzig verbleibenden waren immerhin einige einer eingehenden Prüfung wert. Fremdsprachige Arbeiter waren interessanterweise damals noch nicht darunter. Selbst was anfänglich wie Spanisch oder Türkisch aussah, stellte sich nach längerem Studium des Textes als eine Art von rudimentärem Deutsch heraus. Da ein Packer auch Paketbordereaux für die Post schreiben muss und Frachtbriefe für die Bahn, fielen weitere zwölf Bewerber aus der Wahl. Fünf wohnten zu weit weg, so dass sich die Arbeit in der kurzen Zeit zwischen Ankunft und Heimfahrt gar nicht gelohnt hätte. Drei gaben von vornherein an, nur vormittags oder nachmittags arbeiten zu wollen.

Nach Prüfung aller Offerten ergab sich folgende Rechnung:

60 – 20 – 17 - 12 – 5 – 3 = 3

Der Erste, den ich kommen ließ, war zwar schon etwa ein Mittfünfziger, schien aber noch rüstig. Ich ließ ihn vor meinem Pult Platz nehmen. Um nicht den Eindruck zu erwecken, als müsste ich um ihn froh sein, hatte ich alle sechzig Offerten im Dossier belassen. Seine Offerte war die Siebente von oben. Der Bewerber verdankte sein Hiersein vor allem dem Umstand, dass er keine Angaben gemacht hatte und nur mit Schreibmaschine auf ein blendend weißes Papier sauber geschrieben hatte: „Ich bewerbe mich um die im Tagblatt ausgeschriebene Packerstelle. Ich bitte um wohlwollende Prüfung meiner Offerte.“ Der Mann hatte offensichtlich sein bestes Kleid und sein weißestes Hemd angezogen. Da ich mir vorstellen konnte, dass er bisher auf einem Büro tätig gewesen war, fragte ich ihn:

„Was haben Sie bis heute gearbeitet?“

„Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen Zeugnisse zeigen.“

Ich wollte.

Der Mann zog mit verlegenem Lächeln und etwas umständlich ein halbes Dutzend Umschläge aus seiner Rocktasche.

Die üblichen Zeugnisse: Von dann bis dann in unserem Dienst gestanden. Sämtliche Arbeiten zu unserer Zufriedenheit verrichtet. Verlässt uns auf eigenen Wunsch usw., usw.

„Sie haben also bisher immer auf Büros gearbeitet?“

„Ja.“

„Und nun möchten sie auf die Packerei umsatteln.“

„Ja, ich suche mir etwas Leichteres.“

„Ach so. Aber nach Ihren Zeugnissen zu schließen, haben Sie doch bisher die von Ihnen geforderte Arbeit gut begriffen. Natürlich muss man beim Packen nicht so viel denken wie bei der Korrespondenz oder der Buchhaltung. Aber es gibt natürlich auch Transportformalitäten, gerade beim Export, die etwa gar nicht so leicht verständlich sind. Sehen Sie hier diese Ausfuhrdeklaration. Lesen Sie einmal hier: Nettogewicht = Eigengewicht der Ware + Warenträger + unmittelbare Umschließungen, die keine Transportverpackung darstellen. Nun gut, das kann man mit einigem Willen und etwas mehr als durchschnittlicher Intelligenz noch verstehen, aber es gibt natürlich auch Dinge, die nicht so leicht verständlich sind.“

„Ich meine es nicht so, sondern körperlich leicht. Ich habe nämlich vor einem halben Jahr einen Herzinfarkt erlitten, und nun hat mir der Arzt jede schwere Arbeit verboten.“

„Es tut mir leid, mein Herr“, entgegnete ich ihm verschämt, aber unsere Firma hat leider noch keine Sterbeversicherung.“

Das gab ihm zu denken. Und da er sich bei uns nicht morden lassen wollte ohne hinreichende Fürsorge für die Hinterbliebenen, verabschiedete er sich um-, aber unmissverständlich.

Der Zweite der drei Musketiere, die ich vorgeladen hatte, sah sich im ganzen Haus um und sagte dann: „Ich habe es mir anders vorgestellt.“

Ich dachte an den letzten Mohikaner, der noch übrigblieb, und hatte es mir auch anders vorgestellt. Der hatte nämlich unterdessen bereits eine andere Stelle gefunden.

Auf das zweite Inserat meldeten sich nur noch siebundvierzig Bewerber, von denen zweiundvierzig zum Vornherein ausschieden. Der Rest schied erst nach persönlichem Augenschein aus. Beim dritten, vierten und fünften Inserat war es nicht anders. Inzwischen boten sich sechs weitere Tageszeitungen als Werbeträger an, von denen jede behauptete, dass sie am meisten beachtet werde. Da ich aber nicht gewillt war, einem Packer den Möbeltransport vom Berner Oberland oder vom St. Galler Rheintal nach Zürich zu bezahlen, wählte ich die Zeitung, die den Großteil ihrer Leser im Kanton Zürich hatte. Ich musste ohnehin das Blatt wechseln, um dem Ansehen des Verlags nicht zu schaden. Allmählich sah es aus, als ob kein Packer länger als zwei Tage bei uns bleiben würde.

Endlich kam der Montag heran, an dem unser neuer Packer antreten sollte. Es war ein bleicher, stiller Jüngling von sechzehn Jahren. Die Mutter hatte es für besser befunden, wenn er vor der Lehre noch ein Jahr arbeitete, um etwas stärker zu werden und ein wenig Geld zu verdienen.

Am Schluss der ersten Woche war nicht aus ihm herauszubringen, ob ihm der Job gefalle. Er hatte in den paar Tagen wohl noch kaum mehr als etwa zwanzig verschiedene Wörter von sich gegeben.

Am Montag der zweiten Woche erschien er nicht zur Arbeit. Um zehn Uhr rief seine Mutter an. Aus ihrer Stimme war herauszuhören, dass sie geweint hatte. „Es tut mir schrecklich leid, aber er liegt immer noch im Bett. Ich bringe ihn einfach nicht heraus. Er schämt sich halt so. Sein älterer Bruder ist zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden, weil der den Militärdienst verweigerte.“ Das gab es damals noch. Ich beteuerte, dass uns das nichts ausmache. Vor uns bauche er sich nicht zu schämen. In zwei Wochen käme bei uns sogar ein Buch heraus, das sich für eine menschliche Behandlung der Dienstverweigerung und für die Schaffung des Zivildienstes einsetze.

Es half alles nichts.

Der bleiche Jüngling blieb im Bett, verweigerte seinen Dienst als Packer und schämte sich weiter.

Wir mussten einen Packer suchen, der sich nicht schämte.

Und einen solchen fanden wir dann auch.

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