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Dichtung und Wahrheit
ОглавлениеIn einem der Bewerbungsschreiben, die ich auf das neue Stelleninserat erhielt, stand der bewegende Appell: „Geben Sie doch um Gottes Willen einem älteren, aber kräftigen und zuverlässigen Mann eine Chance.“
Der Mann bewies psychologische Fähigkeiten. Er wusste mit einem Schlag das christliche Gewissen und den sozialen Sinn anzusprechen. Ich ließ den älteren Mann kommen und überzeugte mich von zwei der angegebenen Eigenschaften.
August Binggeli war einundsechzig Jahre alt, ein Mann von mittlerer, kräftiger Statur. Er wirkte voll Energie. Seine Zuverlässigkeit war er gewillt, unter Beweis zu stellen.
Binggeli war der vollendete Charmeur. Frau Knopf überreichte er schon am ersten Tag eine Rose aus der Rabatte der Frau Direktor Ledergerber. Dies war der willkommen Anlass, ihn über die Hausordnung aufzuklären.
„Das ist selbstverständlich, dass die Rosen der Frau Direktor unangetastet bleiben. Hoffentlich denken Sie nie, dass ich überhaupt je an so etwas gedacht hätte Es gibt ja beim Migros so herrliche Rosen. Als ich sie heute früh im Migrosmarkt sah, konnte ich einfach nicht vorübergehen, ohne eine zu kaufen. August, habe ich mir gedacht, erinnerst du dich an die hübsche junge Dame, die dir letzte Woche, als du dich vorgestellt hast, die Tür öffnete? Diese Frau liebt Rosen, das habe ich sofort gesehen. Damit kannst du ihr eine Freude machen. Stimmt’s?“
„Sie duftet wie die Sorte der Frau Direktor“, entgegnete Frau Knopf, die ihre Nase in die Rose gesteckt hatte.
„Sah ein Knab ein Röslein stehn“, lachte Binggeli, zwinkerte mit den Augendeckeln und stieß die Luft zischend zwischen den paar noch verbliebenen gelblichbraunen Zähnen hindurch. Alter schützt vor Torheit nicht. Aber Binggeli war nicht so einer Auch wenn er Frau Knopf jeden Tag wie ein verliebter Schuljunge anschaute und ihr immer wieder Komplimente machte und allzu oft Röslein und andere Blumen stehen sah, zu nahe trat er unserer Frau Knopf nie.
Es war eine richtige Freude, dem Mann bei der Arbeit zuzusehen. Er begriff leicht und tat alles, was man von ihm verlangte. Kisten voller Bücher waren für ihn kein Problem, je schwerer, desto lieber. Der Mann schien überschüssige Energie zu besitzen. Alles an ihm strotzte vor Kraft. Schon um elf Uhr war alles gepackt, was am Morgen bestellt worden war. Dann hörte ich in meinem Dachstübchen den Leiterwagen den Weg zur Straße hinunterrasseln. Wenig danach hörte ich ihn bereits über das Kopfsteinpflaster der Bahnhofstrasse zurückkommen. Das Rasseln des unbeladenen Wagens war jetzt heller. Der leere Wagen hüpfte wie ein Hase im Zickzack hinter Binggeli her. Dieser schritt aus wie ein Napoleon. Die Rocktaschen seines grauen Berufsmantels flatterten im Wind und streiften beinahe den Boden, so lang waren sie. Ein speckiger Schlapphut bedeckte den vierschrötigen Kopf mit dem unrasierten Gesicht. Im Mundwinkel zwischen den gelbbraunen Stummeln der Zähne steckte der aufgeweichte braunschwarze Stummel einer abgebrannten Toscani, der bis zum Feierabend als Schick diente. Mittags aß Binggeli in einer nahen Arbeiterwirtschaft, in der vor allem Lastwagenfahrer abstiegen, aber auch Straßenarbeiter und Arbeiter der PTT, die in der Nähe Kabel verlegen mussten. In einem Hinterstübchen saßen meist ein paar Angestellte oder Passanten, die es hierher verschlagen hatte, an gedeckten Mittagstischen. Binggeli saß immer bei seinesgleichen in der vorderen Stube. Er war es gewohnt, an rohen, ungedeckten Tischen zu essen. Hier war er schon am ersten Tag mit allen auf Du und Du. Der Serviererin wusste er den Hof zu machen. Der Wirtin schenkte der aufmerksame Gast ab und zu eine rotgelbe Rose von der Sorte der Frau Direktor.
Nachmittags, während der Arbeitszeit, sah man Binggeli zuweilen mit langen Schritten vom „Schwanen“ die Bahnhofstraße heraufkommen. Die Zipfel seines Mantels schienen noch mehr als üblich den Boden zu berühren. Aber jetzt flatterten sie nicht, sondern wurden eher von etwas Schwerem zu Boden gezogen.
Am Weg zum Verlag schritt er achtlos vorbei. Weitausholend steuerte er auf den Güterschuppen am Bahnhof zu. Dort verrichteten Köbi und Heiri in der brütenden Hitze des Holzbaus ihren Dienst. Die beiden armen Teufel lechzten in ihrem Durst nach einer kühlenden Erfrischung. Trotz dem mörderischen Klima in ihrem Schuppen war es ihnen anscheinend untersagt, den Arbeitsplatz zu verlassen. Ein männliches Freudengeheul überschüttete den hereinstürzenden Binggeli, der den Verdurstenden zu Hilfe eilte und die Taschen seines Mantels von den schweren Bierflaschen befreite.
Und wieder leicht und beschwingt, in ausgetretenen Schuhen lang ausziehend, schritt Binggeli zum Verlag zurück. Man sah förmlich die Luft vor ihm zurückweichen. Es war, als ob sie sich vor ihm verneigte und mit leichter Hand die Schöße seines Mantels streifte, sie aufhob und wieder fallen ließ.
August Binggeli war ein praktisch veranlagter Mensch. Der Unterstand für den Handwagen war mit einem Dach aus Kistendeckeln und Dachpappe gedeckt. Die Dachpappe hatte unter der Witterung schon ziemlich gelitten und war an den Rändern zerrissen. Binggelis geübtes Auge sah dies schon in den ersten Tagen. Da musste Abhilfe geschaffen werden. Die Dachpappe wurde weggerissen. August Binggeli ließ sich aus der Kasse zwanzig Franken auszahlen und versprach, anderntags zwei Quadratmeter neue Dachpappe zu liefern. Unterdessen gingen die letzten Spätsommergewitter über das Land, und langsam begannen die Metallteile des Leiterwagens eine rötliche Farbe anzunehmen. Der Baumeister, angeblich ein Bekannter Binggelis, der Dachpappe zu Freundschaftspreisen lieferte, war offenbar nie anzutreffen. Zuerst war er noch in den Ferien, dann gerade auf dem Bau, dann weiß ich wo! Nur Binggeli wusste es nicht.
„Ja, entweder, Herr Renold“ belehrte mich Binggeli, als ich zum fünfundzwanzigsten Mal fragte, „entweder warten Sie, bis sich dieser verflixte Baumeister auftreiben lässt, unterdessen verrostet der Leiterwagen aber noch vollends, oder Sie geben mir noch einmal zwanzig Franken aus der Kasse, damit ich an einem anderen Ort Dachpappe zum Normalpreis beschaffen kann.
Da die Achsen, Naben und Reifen des Leiterwagens bereits wie Feuer glühten, gab ich Binggeli nochmals zwanzig Franken. Überraschenderweise war an diesem Abend der befreundete Baumeister doch noch anzutreffen gewesen. Der Preis der Dachpappe aber war inzwischen so hoch angestiegen – und Quittungen waren unter Freunden selbstverständlich nicht üblich –, dass ich das bisschen Herausgeld mit gutem Gewissen großzügig dem eifrigen Förderer zweckdienlicher Baukunst als Trinkgeld überlassen konnte.
Wie heißt es schon bei Schiller? „Die Axt im Haus erspart den Zimmermann.“
August Binggeli war der schlagende Beweis für dieses Dichterwort.
Nach den ausgezeichneten Erfahrungen mit dem neuen, regensicheren Dach ließ ich Binggeli auch an zwei Türschlösser heran, von denen er feststellte, dass sie nicht mehr richtig zuschnappten.
Geradezu mit blindem Eifer montierte der versierte Amateurschlosser die beiden Schlösser ab. Schon nach wenigen Minuten lagen sie im Packraum auf einer ausgebreiteten Zeitung. Stolz präsentierte Binggeli sein Werk uns ließ uns einen Einblick in das Innere dieses sinnreichen Mechanismus tun. Oft sind es ja gerade die alltäglichsten und doch so außerordentlich nützlichen Dinge, deren ausgeklügelte Funktion uns Laien ein Leben lang verborgen bleit. Binggeli aber hatte die unschätzbare Gabe, uns das komplizierte Schloss auf die einfachste Weise zu erklären.
Schon wenig später waren beide Schlösser in ihre Einzelteile zerlegt, abgeschmirgelt und in eine entrostende Flüssigkeit eingetaucht.
Leider stellte sich heraus, dass beide Schlösser nicht mehr zu gebrauchen waren. Aber Binggeli war nicht verlegen. Einer seiner Freunde handelte mit Schlössern, zu Freundschaftspreisen versteht sich. Da aber auch dieser Freund entweder in den Ferien oder weiß der Himmel – nur Binggeli wusste es wieder nicht – wo anzutreffen war, fand Binggeli bald eine Notlösung. Durch die Löcher in der Tür zog er Schnüre und verschlaufte deren Enden. In die Türrahmen schlug er Nägel ein und befestigte daran die Schlaufen. Da der Sommer noch nicht ganz zu Ende war, waren wir für den Durchzug dankbar. Dass es verschiedene Schlösser gibt, je nachdem eine Tür nach links oder nach rechts aufgeht, wurde mir erst bewusst, als August Binggeli bei einbrechendem Winter die beiden neuen Schlösser fachmännisch montiert hatte. Unsere Türen hatten von da an vortreffliche Eigenschaften. Man konnte sie nicht mehr zuschlagen. Das Schloss schnappte nur ein, wenn man zuvor die Türklinke hinunterdrückte. Dafür konnte man von der andren Seite, wenn man beide Hände mit Büchern beladen hatte, die Tür mit dem Fuß aufstoßen, ohne die Klinke drücken zu müssen.
Es gibt aber auch kleine und große Schlösser. Die neuen waren größer als die alten. Dass es Binggeli gelang, mit dem ihm zur Verfügung stehenden Werkzeug die Löcher in der Tür so zu vergrößern, dass schließlich trotz der überdimensionierten Auskerbungen die Schlösser unverrückbar festhielten, zeugt von der praktischen Veranlagung dieses auf seine Weise genialen Menschen. Und als der Frühling kam, waren sogar die ausgesägten Kerben an Türen und Türrahmen mit einem neuen Farbanstrich versehen, der im Farbton nicht stärker vom ursprünglichen Anstrich abwich als vorher das rohe Holz.
Obwohl ich für die beiden Schlösser einen kleinen Freundschaftspreis bezahlt hatte, vermutete ich – allerdings erst später –, dass in der Mietwohnung Binggelis zwei Türen von da an nur noch nach der bei uns entwickelten und erprobten Methode mit Nägeln und Schnüren zugehalten wurden.
Der Oktober jenes Jahres, es war 1956, war ein denkwürdiger Monat. In Budapest brach der Aufstand los. Auch bei uns im Verlag war die ungarische Revolution das Tagesgespräch. Die Straße zwischen Budapest und Wien war überflutet von Flüchtlingen. Wir bewunderten die Menschen, die auf der Flucht solche Strecken zurücklegten. Nur unser Napoleon schien nicht beeindruckt zu sein.
„Die Straße kenne ich gut. Ich war vierundzwanzig Jahre als, als ich mit zwei Kollegen in Budapest war. Eine herrliche Stadt. Wir waren auf Wanderschaft. Alle drei junge Kerle, tatendurstig. Ha, wie sind wir marschiert! Von Budapest nach Wien, dann über den Brenner nach Mailand und über die Apenninen an die Riviera und hinunter bis nach Marseille. Die beiden anderen haben in Mailand aufgegeben. Aber August Binggeli gibt nie auf. Allein marschierte ich nach Marseille, Budapest-Marseille, alles zu Fuß. Ja, damals. Waren das noch Zeiten. Potzsternenhagelnocheinmal. Ha, und die Frauen!“ Er schaute Frau Knopf herausfordernd an. „Ja, die Frauen. Dem August Binggeli hat keine widerstanden, weder in Ungarn noch in Wien. Ach, und in Italien erst und in Marseille!“
Wir sperrten Mund und Augen auf.
Einmal war von Paris die Rede.
„Ja, ja, 1927, da war ich auch in Paris. Ich kam gerade dazu, als Lindbergh von seinem Atlantikflug in Paris landete. Und die Frauen in Paris, potzsternenhagelnocheinmal. Wenn Sie einmal nach Paris kommen, Herr Renold…“
Im Spanischen Bürgerkrieg war Binggeli in Kastilien, als Hitler an die Macht kam in München, bei Einmarsch der Deutschen ins Sudetenland hatte er gerade geschäftlich in Eger zu tun gehabt. Beim Ausbruch des Krieges befand er sich auf einem Transport nach Lemberg in Polen
„Jeden Tag fuhr ich der Lastwagenkolonne voraus und besorgte das Quartier für die Nacht. Wir transportierten eine ganze Fabrik vom Elsass nach dem Osten. Aber dann kamen die Russen.“
Ja, der August Binggeli war überall dabei, wo es etwas Abenteuerliches gab. Wir begannen unsere eigenen Erinnerungen anzustrengen, im Lexikon nachzuschlagen, um nach Ereignissen zu suchen, die wir beiläufig ins Gespräch einfließen lassen konnten. Es gab nichts, das Binggeli nicht auch erlebt hatte. Während des Krieges hatte er ein Transportgeschäft im Elsass betrieben. Die heikelsten Aufträge waren ihm übergeben worden, wie der schon erwähnte Transport nach Polen.
Als der Krieg sich dem Ende genähert hatte, war August Binggeli mit den Deutschen aus dem Elsass zurückgekehrt.
Als Schweizer Bürger hatte er natürlich keine Schwierigkeit gehabt, sich nach Konstanz durchzuschlagen, wo er sich über die Grenze in Sicherheit bringen wollte. In dieser Grenzstadt wimmelte es von Menschen, die sich alle in die Schweiz hinüberretten wollten.
Binggeli stand schon in einer endlosen Schlange, als eine Frau auf ihn zustürzte. Vor Jahren hatte er einen Transport für sie erledigt. Sie war Jüdin und war nun offenbar auf einem der letzten Transporte nach irgendeinem Konzentrationslager. Sie war vor ihm auf die Knie gefallen, hatte seine Beine umschlungen und ihn angefleht:
„Herr Binggeli, Herr Binggeli, nehmen Sie dieses Bündel, rasch, und diese Adresse. Deponieren Sie das Bündel im Bahnhof in Kreuzlingen und schicken Sie den Auslösungsschein an die Adresse. Und hier, nehmen Sie das als Belohnung.“ Verstohlen drückte sie mir etwas in die Hand. Es war eine Halskette aus purem Gold. Ich verbarg das Bündel in einem meiner Koffer und brachte es unbemerkt über die Grenze. Es gab kaum einen Grenzübergang, wo man mich nicht kannte. Auch damals hatte ich Glück: „August, du, und zu Fuß“, sagte der Zöllner. „Wenn der Krieg vorbei ist, musst du mir einmal erzählen, was du alles erlebt hast. Jetzt hab ich keine Zeit. Was hast du in deinen Koffern? Etwas Wäsche. Gut, hau ab, alter Kumpel!“ Potzsternenhagelnocheinmal, so ganz wohl war mir doch nicht gewesen. Und als ich auf dem Bahnhof in Kreuzlingen den Koffer öffnete, was meinen Sie, was in dem Bündel war? Lauter Schuck, Gold und Edelsteine. Meiner Lebtag hab ich noch nie einen solchen Reichtum gesehen. Ich wäre ein gemachter Mann gewesen. Ich wusste nicht, ob der Mann, an den ich den Schein schickte, noch lebte. Aber ich tat, wie mir aufgetragen war. Auch die Halskette legte ich in das Bündel. Wie hätte sich ein August Binggeli am Erbe einer armen, für die Gaskammer bestimmten Jüdin bereichern können. August, dachte ich, du tust es um Gottes Lohn. – Ja, so bin ich. Ich hätte ja das ganze Bündel behalten können. Weiß Gott, brauchen hätte ich es ja können in jener Zeit. Aber so etwas tut der August nicht. Nein, nicht einmal die Kette, die sie mir ja geschenkt hatte. Wer weiß, niemand hätte mir geglaubt, dass ich sie geschenkt bekommen hatte. Wie hätte ich es beweisen können? Nein, ehrlich währt am längsten. Das war immer mein Prinzip.