Читать книгу Skelett des Grauens - Martin Willi - Страница 8
2) Mittwoch
ОглавлениеEin langer anstrengender Arbeitstag, der an Petras Körper zehrte, neigte sich langsam, aber sicher dem verdienten Ende entgegen. Ich bin auch nicht mehr die Jüngste. Vor ein paar Jahren machten mir solche langen Tage viel weniger aus als heute. Sie sass an ihrem Schreibtisch im Büro der aargauischen Kriminalpolizei in Aarau, und freute sich auf einen gemütlichen, erholsamen Feierabend. Sie würde mit Ulrich auf dem Balkon sitzen, ein Glas Wein trinken und den Herbstabend geniessen. Zunächst aber nervte sie eine lästige, wild umherschwirrende Fliege. Was hast du eigentlich für einen Nutzen, du kleines Mistviech? Warum bist du bloss auf dieser Welt? Mit einem Teil der heutigen Tageszeitung versuchte sie die Fliege zu erschlagen, ihrem sowieso nutzlosen Leben, ein Ende zu machen. Die ersten Angriffe missrieten vollends. Aber immerhin schaffte es Petra, dass sich die Fliege davonmachte und nun in einem anderen Teil des Büros umhersurrte. Bleib bloss wo du bist, sonst reiss ich dir deine Flügel aus, einer nach dem andern, schön genüsslich. Selber schuld, jawohl! Habe ich etwa eine sadomasochistische Ader in mir, wenn ich solche Sachen denke? Ach Quatsch, Sadomaso ist nichts für mich. Oder doch? Ich hab’s ja noch gar nie ausprobiert. Es gibt offenbar viele Menschen, die darauf stehen. Aber Sex ist doch was Schönes, Erotik muss doch vor allem Spass und Vergnügen sein. Wenn man Schmerzen hat, so kann es bestimmt keine Freude machen. Vielleicht mal ausprobieren, nur ganz wenig? Nein, ich glaube, das ist nichts für mich.
Petra schloss ihre müden und gereizten Augen, in denen sie ein unangenehmes Jucken verspürte, vor allem im rechten Auge. Wieder mal zu lange in den Bildschirm geschaut. Immer das blöde rechte Auge. Also, die Kriminalkommissare im TV und Kino müssen sich nie mit so viel Schreibtischarbeiten rumschlagen wie ich. Die haben für sowas immer irgendwelche Assistenten. Sie hielt ihre Arme in die Luft, kreiste mit ihren Schultern und bewegte sachte ihren Kopf in alle Richtungen. Schön langsam, nichts überstürzen, sonst krieg ich wieder Kopfschmerzen.
Dr. Emanuel Wohlers, ihr Neurologe, war bei ihrem letzten Kontrolluntersuch mehr als zufrieden mit ihr. Sie hatte es jetzt schon seit einem halben Jahr geschafft, pro Monat nicht mehr als an zehn Tagen Schmerzmittel zu sich zu nehmen, was sie durchaus als Erfolg verbuchen konnte. «Wissen Sie, Frau Neuhaus», meinte Dr. Wohlers, «ihr Körper muss lernen, mit den Kopfschmerzen zu leben, auch ohne, dass sie sich jedes Mal gleich einige Pillen einwerfen. Versuchen Sie sich zu entspannen, sagen Sie auch mal Nein und lernen Sie zu erkennen, was Ihnen guttut. Das hilft oft besser als jede Chemie.» Nebst den chronischen Kopfschmerzen hatte sie auch ihre langjährigen Depressionen viel besser im Griff als noch vor Jahren. Zurzeit war sie daran, ihre Antidepressiva kontinuierlich zu reduzieren. Sie hatte sich zum Ziel genommen, bis in spätestens zwei Jahren vollkommen davon befreit zu sein. In die Psychotherapie ging sie schon seit einem halben Jahr nicht mehr, sie wollte ihr Leben alleine in den Griff bekommen und meistern.
Petra stellte ihren Computer mit Namen «Harry» ab, stand auf und ging langsam zum Fenster, das sie öffnete. Ihr Blick richtete sich zur Aare hinunter und sie sehnte sich danach, wieder mal im Fluss zu baden. Auch wenn es schon September war, so sollte das doch dieses Jahr noch möglich sein, dachte sie sich. Warm genug war es auf jeden Fall noch. Wie oft bin ich früher hier am offenen Fenster gestanden und habe meine geliebten Marlboros geraucht. Ach Gott, bin ich froh, dass das hinter mir liegt und vorbei ist. Bin ich wirklich froh? Manchmal habe ich schon etwas Lust dazu, aber nein, ich hab’s Ulrich versprochen. Ich darf ihn nicht anlügen und hintergehen. Ungesund ist es ja sowieso, das weiss ich ja.
«Bist du schon in Feierabend-Stimmung?» Erwin Leubin trat forsch in Petras Büro. «Es gibt Neuigkeiten von unserem Baustellenskelett.»
«Ach ja, dann erzähl schon.» Seit Montag als die Knochen durch Ibrahim Mansour ausgegraben wurden, konnte sie in diesem Fall nicht viel unternehmen. Sie musste zunächst mal wissen, um welche Knochen es sich beim Toten handelte. Die Forensiker hatten mittlerweile grosse Teile des Skelettes geborgen und wie ein Puzzle zusammengefügt. Kein Job für mich, dachte sie diesbezüglich schon oft. Sie bewunderte die Tätigkeit der Forensiker, der Gerichtsmediziner aufrichtig.
«Hier ist der aktuelle Bericht unseres Pathologen Joseph Heidenreich.» Mit diesen Worten überreichte ihr Erwin ein umfangreiches Dokument. Interessiert begann sie den Bericht zu lesen. «Der Kopf wurde mit einer grossen Axt abgetrennt. Oh Gott, wer macht denn sowas?» Ein Schauer durchlief ihren Körper und kopfschüttelnd setzte sie sich wieder an ihren Schreibtisch, sie las weiter. «Also, Heidenreich schreibt, das Opfer war oder ist männlich, wie auch immer. Er war beim Ableben etwa 40 Jahre alt. Beim Opfernamen schreibt er nicht etwa unbekannter Mann, sondern Skelett des Grauens.»
«Ist doch passend, Heidenreich zeigt sich wieder mal von seiner kreativen Seite. Er wird mir je länger, je sympathischer. Mit seiner Fantasie sollte er Kriminalautor werden.»
«Dann soll er aber bitte Kriminalromane schreiben, die auch der Wirklichkeit entsprechen können. Viele Romane, die ich gelesen habe, sind oft grundsätzlich zwar spannend geschrieben, aber ansonsten liegen sie mit ihrer Geschichte vollkommen neben der Realität, jenseits von Gut und Böse. Diese Autoren sollte man verbieten.»
«Tja, das finde ich auch. Aber genau diese unrealistischen Romane landen oft auf der Bestsellerliste und werden dann auch noch verfilmt. Das kannst du nicht ändern Petra, oder willst du die Bücher verbrennen wie im Dritten Reich?»
«Ach hör schon auf, so meinte ich das doch nicht. Auf meiner persönlichen Bestsellerliste findest du diese Bücher sicher nicht. Okay, lassen wir das, ab sofort haben wir also den Mordfall ‹Skelett des Grauens› aufzuklären.» Petra musste kurz über diesen Titel schmunzeln und überflog die weiteren Zeilen. So erfuhr sie, dass der Mordfall vor etwa zehn Jahren verübt worden sein muss. «Gibt es aus dieser Zeit irgendwelche Vermisstmeldungen, auf die unser Opfer passen würde?»
«Ich habe den Bericht von Heidenreich eben erst bekommen und bin damit sofort zu dir gekommen. Ich habe also sonst noch nichts unternommen, hatte dazu keine Zeit.» Erwin Leubin setzte sich gegenüber von Petra auf einen Stuhl. «Sollen wir Schweizweit nach vermissten Männern aus jener Zeit suchen oder nur regional?»
«Natürlich in der ganzen Schweiz, was für eine Frage. Das Opfer kann ja von überall her kommen und hier ums Leben gebracht worden sein. Es ist auch möglich, dass der Mord gar nicht in Hirschthal geschah, sondern dass die Leiche dorthin geschafft wurde. Oder es handelt sich beim Toten um irgendeinen Ausländer, der hier Ferien machte, oder es war ein Asylanwärter.»
«Oh, das wird aber beinahe so was wie die Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen, nicht wahr?»
«Genau, es sei denn, uns kommt der sogenannte Zufall zu Hilfe.» Noch wusste Petra nicht, dass es eben dieser Zufall sein wird, der ihr schon bald eine erste Spur liefern würde. Entschlossen stand die Kommissarin auf, trat zu Erwin und meinte: «Aber weisst du was? Wir machen jetzt Feierabend. Lass uns morgen weitermachen. Nach zehn Jahren kommt es auch nicht mehr darauf an, ob wir den Fall ein paar Stunden früher oder später aufklären.»
Überrascht von Petras Worten stand Erwin auf und sagte leicht irritiert: «So kenne ich dich ja gar nicht. Das ist ja mal eine ganz andere Seite an dir. Aber mir solls recht sein, wenn ich nach Hause zur Familie kann. Also dann bis Morgen, schönen Feierabend.»
«Wünsch ich dir auch.»
Neunzig Minuten später sass Petra auf ihrem Balkon und schaute in den abendlichen Herbsthimmel empor. Zwei Rotmilane schwebten majestätisch umher, immer wieder gejagt von einigen Krähen, wenn die Rotmilane es wagten, zu nahe an deren Revier zu fliegen. Die Milane mussten irgendwo in der Nähe ihr Zuhause haben, denn Petra konnte sie praktisch täglich beobachten. Sie tat dies gerne und sie dachte oft, wie schön es wäre, wie ein grosser Vogel über die Erde zu fliegen. Ein lauer Herbstwind wirbelte die ersten von den Bäumen runter gefallenen Blätter quirlig durch die Luft. Petra machte den Reissverschluss ihrer Strickjacke zu, denn es fröstelte sie ein wenig. Wann kommt denn endlich Ulrich nach Hause? Wenn er da ist, so wird es mir nicht mehr zu kühl sein. Er wird mir die nötige Wärme geben, körperlich wie auch seelisch. Ulrich hatte zwar noch immer seine alte eigene Wohnung in Rombach, aber die meiste arbeitsfreie Zeit verbrachten sie zusammen in der Wohnung von Petra. Daher war der Gedanke, wann Ulrich nach Hause kommt, für Petra ganz normal. In diesem Moment hörte sie denn auch, wie ein Schlüssel ins Türschloss gesteckt und umgedreht wurde, wie sich die Eingangstüre öffnete.
«Hallo, bist du schon da?», tönte es aus der Diele. Ulrich setzte sich auf den Stuhl beim Wohnungseingang und öffnete die Schnürsenkel seiner schwarzen Halbschuhe.
Petra kam ihm vom Balkon entgegen, gerade im Moment, wo er bereits in seinen Hausschuhen um die Ecke der Diele ins Wohnzimmer trat. Beinahe wären sie zusammengestossen. «Hallo Ulrich, schön, dass du zuhause bist.»
Wenig später sassen sie auf dem Balkon, tranken ein Glas Rotwein und assen Brot, Käse und Oliven dazu. Bereits war die Sonne durch den halbrunden Mond am Himmelszelt abgelöst worden. Erste Nebelschwaden schlichen den Sträuchern entlang, wie Geister ohne Köpfe schienen sie sich die Welt einzunehmen, sie wie in einer Märchenwelt zu umhüllen. Auch wenn sich Petra auf den Feierabend gefreut hatte, so war sie in Gedanken noch immer bei der Arbeit, beim Fall «Skelett des Grauens». Nur selten gelang es ihr in der Freizeit von ihren Kriminalfällen loszukommen. Dies entging auch Ulrich nicht. «Gibt es etwas Neues in deinem Fall mit den Menschenknochen von der Baustelle?»
«Ja, es gibt etwas Neues - Der Fall heisst jetzt offiziell ‹Skelett des Grauens›».
«Oh, das tönt ja fast schon so gruselig wie in einem Horrorfilm. Es könnte aber auch ein Titel von Edgar Wallace oder Agatha Christie sein. Die hatten auch immer so tolle Titel wie `Der Mann im Hintergrund` oder `Tod in den Wolken`. Und weiss man schon irgendwas über das Opfer?»
«Ach Ulrich, du weisst doch, dass ich dir das eigentlich gar nicht sagen darf. Du kennst doch meine Schweigepflicht.»
«Eigentlich heisst weder Ja noch Nein, weder kalt noch warm, eigentlich bedeutet eigentlich so viel wie gar nichts. Ach, komm schon, ich wird’s schon nicht sofort der Presse erzählen, morgen früh reicht auch noch. Und wenn du lieb zu mir bist, dann mach ich’s erst in ein paar Tagen.»
Natürlich wusste Petra, dass ihre kleinen kriminalistischen Geheimnisse bei Ulrich sicher aufgehoben waren. Und sie war auch froh, wenn sie mit jemandem über ihre Arbeit sprechen konnte. «Bei den Knochen handelt es sich um ein Skelett eines Mannes, er verstarb, weil ihm der Kopf gewaltsam abgetrennt wurde.»
«Du meinst so richtig geköpft, mit einem Schwert oder so, wie im tiefsten Mittelalter?»
«Kann man so sagen, ja. Beim Ableben war der Mann etwa 40 Jahre alt und die Tat musste wohl so vor zehn Jahren geschehen sein. Tja, und jetzt such du mal einen Mann, der vor zehn Jahren spurlos verschwand. Vielleicht gab es ja nicht mal eine Vermisstenanzeige, dann ist das so ziemlich aussichtslos.»
Ulrich stand nachdenklich auf. Innert Sekunden veränderte sich seine Gesichtsmimik zusehends. In seinem Kopf schwirrten die Gedanken wie auf einer Geisterbahn. Seine Cousine Monika, die hat doch irgendwann mal was von einem Mann erzählt, der von einem Tag auf den anderen spurlos verschwand. Genau, es war doch offenbar ein Landwirt, der alleine auf einem abgelegenen Hof lebte. Wie hiess denn der schon wieder?
«Was ist denn mit dir los, Ulrich?»
«Ich weiss auch nicht so recht, es gibt da so eine Geschichte, die mir gerade in den Sinn gekommen ist, die muss so um die zehn Jahre alt sein.»
Nun war der kriminalistische Spürsinn von Petra Neuhaus endgültig erwacht, sie stand auf und trat zu Ulrich. «Eine Geschichte? Zehn Jahre? Na, dann erzähl doch mal, mein Schatz. Du weisst, ich liebe interessante Geschichten. Dies liegt ganz einfach in der Natur meines Jobs.»
Ulrich fühlte sich unbehaglich, er mochte nicht, wenn er in die Ecke gedrängt wurde, und von Petra erst recht nicht. Er nahm die Rotweinflasche und schenkte Petra und dann sich selbst nochmals ein. Nach einem kräftigen Schluck sagte er: «Ich habe eine Cousine, die heisst Monika Oeschger, sie kommt wie ich aus dem Mettauertal.»
Das Mettauertal, du meinst wohl das Ende der Welt. Petra versuchte sich zu erinnern, ob sie den Namen schon mal gehört hatte. «Die kenne ich aber nicht, die Monika, oder?»
«Nein Petra, ich glaube, du bist ihr wohl noch nie begegnet. Sie ist auch einiges jünger als ich. Vor etwa zehn Jahren ist sie umgezogen und ich habe ihr damals geholfen. Sie zog in die Nähe von Basel, nach Muttenz. Ob sie immer noch dort wohnt weiss ich gar nicht. Auf alle Fälle hat sie mir damals während des Umzugs von einem Landwirt erzählt, der spurlos verschwunden sei. Ich hatte die Sache schon längst vergessen, aber jetzt nachdem du mir von deinem Skelett erzählt hast.»
Hellhörig spitzte Petra die Ohren, konnte das der bewusste und ersehnte Zufall sein? War es tatsächlich so, dass der verschwundene Landwirt von damals jetzt als Skelett wieder aufgetaucht war? «Und Ulrich, wie hiess der Landwirt?»
«Das ist es ja, ich habe keine Ahnung. Ich weiss nicht mal, ob sie mir damals den Namen überhaupt nannte oder ob ich ihn vergessen habe. Das ist alles so lange her. Ausserdem bin ich ja schon mit 18 Jahren von Zuhause ausgezogen. Ich kenne die Menschen dort eigentlich gar nicht.» Ulrich versuchte sich zu erinnern, er grübelte nach, schüttelte den Kopf. Nein, es war unmöglich, der Name wollte ihm nicht mehr einfallen.
«Okay, komm ruf sie an!»
«Jetzt augenblicklich? Bist du eigentlich verrückt, Petra?»
«Warum denn nicht?»
«Warum nicht? Ich habe doch schon seit Jahren keinen Kontakt mehr zu Monika, ich kenne nicht mal ihre Telefonnummer. Nein, nein, das kannst du dir abschminken. Es tut mir leid, Petra, aber das musst du schon selbst in die Hand nehmen. Das ist dein Job, und nicht meiner.»