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ELF VÄTER

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Ich habe elf Väter.

Der erste meiner Väter, er steht mir von allen am nächsten, hat bis zu diesem Tage immer so gelebt, als stünde ihm das Wichtige erst noch bevor. Was ist denn sein Wichtiges? Alles in seinem Leben ist Entwurf, immer noch, auch nach Jahren, er fasst am liebsten Pläne, und stets ist er sicher, dass es gleich so weit sein wird. Ich missbillige das nicht, wie könnte ich auch, allerdings wäre es mir zuweilen lieber, ich wäre ihm in der Art nicht so nahe verwandt, und Verwandtschaft nicht so prägend. Es wäre mir angenehmer, ich könnte seinem Treiben von außen zusehen, als ein wohlwollender Zuschauer, der von sich sagen kann, dass er anders lebt.

Der zweite Vater und der dritte sind einander sehr ähnlich. Sie wollen sich nicht voneinander unterscheiden. Auch von anderen nicht, das vor allem. Ihr einziger Wunsch ist der, nicht aufzufallen, und aneinander üben sie diese Fähigkeit, die es mir in der Folge nicht leicht macht, sie auseinanderzuhalten. Es sind nicht nur die Kleider, die diese Einheit stiften, das ginge noch, nein, selbst die Ansichten gleichen sich. Streiten die beiden so lange, bis sie einer Meinung sind? Passt sich der eine dem andern an? Oder scheinen sie ganz einfach keine Wahl zu haben? Ich wüsste gerne mehr darüber. Aber mir gegenüber würden sie eine Differenz sowieso nie eingestehen, und erst recht nicht, wie sie dazu kommen, keine zu haben.


In sieben Ländern oder mehr wird der Kaffee meines vierten Vaters getrunken, rastlos ist er unterwegs und führt Buch über alles. Am Jahresende steigt er die Treppe hinunter zum Wohnzimmer, ohne auf die Stufen zu blicken, er sieht auf seine Abrechnung und fürchtet keinen Sturz. Dann liest er vor, wieviel ich gekostet habe. Ich bin teurer geworden, wie jedes Jahr. Ich hätte wohl lieber nicht teurer werden sollen, aber was hilft es, alles wird teurer. Ich nehme es schweigend hin.

Dass ich gerne reise, habe ich von meinem fünften Vater. Zwar belächle ich ihn, wenn er auf einer seiner seltenen Postkarten in winziger Handschrift gesteht, er habe es am fremden Ort schon wieder nicht gewagt, nach dem Weg zu fragen. Als ob er dort gar nicht hingehörte. Immerhin, sage ich mir, er ist noch unterwegs, er hält das aus, anders als der sechste Vater, der am liebsten zu Hause bleibt und mich alle zwei Wochen anruft, um mir zu sagen, dass er sich nicht festlegen will. Reisend, sagt er, sei er nirgends zu Hause und abhängig in allem. Ein Reiseziel würde ihn überdies für Tage binden, ohne ihm angesichts der zahllosen Möglichkeiten, die er mit seiner einen Entscheidung auszuschlagen hätte, auch die Gewissheit zu geben, richtig gewählt zu haben. Die richtige Wahl will er aber getroffen haben, bloß kann er dies nie mit Sicherheit wissen.


Der siebte Vater erzählt noch immer von allem, was er hätte werden können, wäre ich nicht; und er ist nun das, was er hat werden müssen, weil es mich gibt. Er ist darum der Vater, der anklopft, nachdem er in mein Zimmer eingetreten ist. Nie vergisst er meinen Geburtstag, dem er wie einer immerwährenden Katastrophe begegnet, alle seine Leiden verbinden sich mit diesem Datum, das er jedes Jahr mit einem kurzen Brief begeht. Darin zählt er mir noch einmal auf, was aus ihm geworden wäre, müsste er mir nicht an diesem Tag ausgerechnet einen solchen Brief schreiben.

Vom achten besitze ich keine Photographie, und so bleibt er schutzlos meiner Vorstellungskraft ausgeliefert, ein Mann mit Brille, so viel weiß ich. Das wenige Haar ist grau geworden mit den Jahren, für diese Gewissheit brauche ich keine Photographie. Er gleicht dem Mann, der ich werde.

Von allen meinen Vätern hätte keiner so viel werden können wie der neunte. Diese Leichtigkeit in allem, was er früher anpackte. Diese Eleganz. Unbeschwert und doch nie ohne Bedacht. Und am Ende war er dennoch nur ein Zögernder, einer, der zu oft darüber nachgedacht hat, ob sich lohnen werde, was zu tun er sich eben anschickte, und der darum, was ihm mit Sicherheit gelungen wäre, voller Zweifel wieder aus der Hand gelegt hat. Gewiss hätte ihn die Zustimmung anderer seiner sicherer gemacht, aber es ist ungewiss, ob er sie hätte hören wollen. Nun traut er mir, als Folge seines Zögerns, zuviel zu, das weiß ich. Er erwartet alles von mir, alles, was ihm fehlt, will er bei mir eintreiben wie eine Schuld.


Die meiste Nachsicht übe ich mit dem zehnten. Von ihm weiß ich zum Beispiel, dass er sich der vielen kleinen Lügen schämt, die das Leben, will es gemeistert sein, von jedem Menschen fordert. Diese winzigen Unwahrheiten, die er irgendeiner Bequemlichkeit, eines vergänglichen Vorteiles wegen vorbringen muss. Um sich etwas vom Leibe zu halten, dem er nicht gelassen gegenübersteht. Es sind ja gar keine Lügen, keine Lügen im strengen Sinn, sondern bloß das eine Mal eine unterlassene Widerrede und ein anderes Mal die vage hingemurmelte Zustimmung zu einer Ansicht, die er im Grunde nicht teilt und der er danach, wieder allein gelassen, umso hartnäckiger widersprechen wird, wenn auch von niemandem gehört. Dabei weiß er immer seltener mit Bestimmtheit zu sagen, was er wirklich meint. Ohnehin käme jeder Widerspruch zu spät. Kann ein Mensch, ohne in den Augen seiner Mitwelt an Charakter einzubüßen, nicht mehreres zur gleichen Zeit meinen? Muss er sich denn auf eine einzige Meinung beschränken?

Mein elfter Vater ist Opfer seiner zahlreichen Gewohnheiten. Ich mag auch ihn, aber ich erkenne ihn immer seltener hinter seinen vielen kleinen Zwängen, die ihn manches zu tun veranlassen, was er vermutlich gar nicht mehr will. Seine wenigen neuen Gewohnheiten fallen mir deshalb auf, weil sie den alten in die Quere kommen und diese nicht ersetzen. Was soll ich dazu sagen? Er tut mir leid. Hat er nicht, mit den Jahren seines fruchtlosen Strebens, ein störrisches Wesen angenommen? Er ist mein Vater, trotz allem, wie die anderen auch. Und ich wäre, wenn ich mich suchte, überall dort, wo der eine Vater noch nicht aufhört und die zehn anderen schon begonnen haben.

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