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FILZ

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Alle Pläne zerschlugen sich. Ich bin nicht Schauspieler geworden. Nie habe ich mich lange genug verstellen können. Meine Brille ließ ich überall liegen und wurde sie trotzdem nicht los, meine Kurzsichtigkeit hält an. Ich bin noch immer nicht Antiquar, und nicht Pilot. Unzählige Absichten durchgestrichen, eine nach der andern. Alle Reisebücher über Bali habe ich gelesen, alle wichtigen Sachen darin farbig angestrichen, hingefahren bin ich dann doch nicht. Mit Brigitte im Tanzkurs, plötzlich ließ sie mich sitzen. Claudia forderte nach drei Wochen ihre Schlüssel zurück. Wir haben noch einige Male telefoniert, danach nicht mal eine Postkarte. Sieben Jahre Hochschule für Filmkunst in Bad Honnef, anschließend Rausschmiss, eine Film-Exposé-Maria hätte sehr langsam und mit sichtbar hautrötender Hingabe an einer Bratwurst herumnagen sollen, bitte, sowas Harmloses, der Film wäre ein Erfolg gewesen. Das nach der Neuorientierung notwendig gewordene Bewerbungsschreiben an die Weltbank wurde nicht beantwortet. Corinna verließ mich bereits nach der ersten Nacht. Alles ging schief. Dass ich den Filz erfunden und weltweit unentbehrlich gemacht habe in jahrelanger Arbeit, die Lungen seufzten im feuchten Keller, wo ich meine textilen Explorationen vorantrieb zum Frommen der Menschheit, die Gelenke quollen auf, bedenklicher Haarausfall und damit verbundene Erweiterung der Rohstoffpalette mit anschließender Veredlung des Textils, niemand hat es mir je gedankt. Das Patentamt, als ich vorstellig wurde, legte den Antrag vor meinen Augen zum Altpapier. Wer heute Filz trägt, auf dass ihm warm werde oder wenigstens bleibe und aller Feuchtigkeit Einhalt geboten sei, kennt noch nicht einmal den Namen des Menschen, dem er dieses Material verdankt. Nicht ein einziger Dankesbrief von einem Förster oder Zollbeamten oder Jäger oder einer spätexistenzialistischen Denkerin oder wem auch immer, null, nichts, nada. Keine Tantiemen auch, versteht sich. Ich bin frei von jeglicher Anerkennung, welche Form sie auch annehmen möge. Jede noch so sorgfältig geplante Aktion gegen meine andauernde und mit jedem Jahrzehnt immer qualvoller werdende Bedeutungslosigkeit verlief im Sande. Es nahm, nächste Kränkung, kein einziger Mensch davon Notiz, dass mich mangelnde Beachtung seitens der Mitwelt plagte. Jahre, fünf Jahre mindestens habe ich damit zugebracht, meine Erfolglosigkeit endlich und für immer in ihr Gegenteil zu wenden, aber selbst meine Briefmarkensammlung wollte mir niemand abkaufen. Nie bin ich auch nur eine einzige Briefmarke losgeworden. Einem Menschen wie mir, muss ich argwöhnen, kauft ein vernünftiges Wesen keine Briefmarke ab, auch keine gebrauchte. Da hilft nichts. Michaela wollte nie mit mir schlafen. Bloß mit mir ins Kino oder zum Chinesen. Noch nicht einmal Requisiteur beim Theater habe ich werden dürfen. Mir darf man keine Kostüme anvertrauen, das kann offenbar jeder Mensch besser als ich, der ich den Filz erfunden habe in jahrelanger, entbehrungsreicher Arbeit. Keine Antwort auf meine umfangreichen Beschwerdeschreiben, umsonst das Porto, der Gang zur Post. Alle Mühe vergebens, das Buch der Klagen ein anschwellendes Konvolut, drei fette Ordner, kein Mensch wird sie je in die Hand nehmen. Für die Katz. Meine Brille bin ich nicht losgeworden. Unter Qualen habe ich darum, als schabe pausenlos ein feuchter Kragen wie Schleifpapier am wunden Nacken, zwar keineswegs untätig, jedoch todtraurig, offensichtlich jeden Glückes unwürdig, zusehen müssen, wie es mir ergeht, und dabei die Brille immer wieder voller Demut hochgeschoben. Es ist, selbstverständlich, ein zutiefst, was sage ich, ein unendlich grauenerregender Anblick, den ich niemandem zumuten möchte.

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