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BEGEGNUNG

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Ich hatte mich bereits gewöhnt an den weichen Gang des Körpers, der vor mir ging. Beinahe waren wir unzertrennlich, wir zwei in der Großstadt, ein Abstand von bloß zwei Metern, mehr ließ ich, ohne es zu merken, nicht zu. Es sah nicht aus wie eine Verfolgung. Es sah nur aus wie zwei, die ungern nebeneinander gehen und dennoch größtmögliche Nähe suchen. Die Absprache war einseitig, also genaugenommen keine, denn inzwischen hatte die Frau gemerkt, dass ihr jemand folgte. Überraschend drehte sie sich um, stellte sich im Umdrehen mit dem Rücken an eine Hauswand und riss gleichzeitig blitzschnell ein Bein hoch und winkelte es spitz von der Wand weg. Beinahe wäre ich in ihr vorgestrecktes Knie gestoßen, sie blickte mich kühl an, ich war darauf nicht gefasst. In so kurzer Zeit eine angenehme Art des Gehens herauspräpariert, fast schon eine liebe Gewohnheit, ohne hinunterzublicken über Trottoirränder geschritten, immer auf Sichtweite, aber gedankenlos. Mich darin wohl gefühlt und nun aus dem Tritt gefallen. Wie einer, der plötzlich realisiert, dass man aus seinem Verhalten eine Absicht herauslesen kann, von der er nichts ahnt, und die er auch nicht zugeben würde. Wo sie nun stehen, ist wenig Licht. In der Nähe ein Hauseingang, die Fenster sind alle dunkel. Er kann der Frau nicht lange ins Gesicht blicken. Als sie ihre Lippen voneinander löst, sagt sie, Pas si vite, j’ai tout le temps. Er will weitergehen, mit einer Entschuldigung, als merke er erst jetzt, was eigentlich los ist. Aber sie hält ihn zurück. Er: Comment? Sie: Deux cents! Sie hat schon eine Hand auf seiner Schulter, er könnte sich noch wegreissen, er könnte weitergehen und sich im Gehen die Schulter befühlen. Aber die Frau tut schon, als kennten sie sich. Sie ist schön, denkt er. Nicht nur in diesem spärlichen Licht, vermutlich. Sie spürt seine Verlegenheit, sie ahnt wohl, dass er ihr zufällig gefolgt ist, ohne Ziel, von hinten ist sie nur ein Mantel, in einer Stadt wie dieser lernt man sich nicht auf der Straße kennen. Also müssen sie etwas unternehmen, was der Begegnung jede Zufälligkeit nimmt. Er bleibt stehen. Wie festgewachsen. Eine nähere Betrachtung der Umstände verbietet sich. Die Szene ist nun schon zu intim. Allfälligen Passanten gegenüber ist man bereits ein Paar, das eine Kleinigkeit zu regeln hat. Aus dieser Intimität kann man sich nur mit planmäßiger Grobheit wieder herausschälen. Und die kann man sich nur vornehmen. Deux cents, wiederholt sie, er kann dem nichts entgegenhalten, er kann nur verlegen lächeln. Hinter ihr her zunächst, dann neben ihr, die entspannt wirkt, kommen sie auf ein Haus zu, ein Hotel vielleicht, wie soll er das wissen, es ist neun Uhr abends, da zu gehen, wo er jetzt geht, hat er sich nie vorgenommen. Laut werden wollende und sich ans Rednerpult drängende Einwände werden niedergeschrien, von wem, es ist nicht mehr auszumachen. Wer kann sich schon wehren gegen sich selbst. Er muss auf seine Beine achtgeben, die Treppe will wegrutschen. Etwas wie Wellengang drückt in die Kniekehlen. Jetzt sollten sich doch Hitzegefühle einstellen, in sanften Schwaden ausbreiten, als träte er ins Helle, ins Warme, alle Wünsche verlieren ihre Konjunktivfesseln, strahlender Indikativ unterwirft alles, ab sofort bitte alles im Präsens, aus der Schulterhöhe verzweigen sich die Nerven angenehm radierende Kraftströme, Erwartungen dehnen sich auch wie erwärmtes Gas. Nichts geht nicht mehr. Wie heißt du, fragt sie. Er murmelt etwas, mit dünner Notwehrstimme, als käme es auf Namen nun gar nicht mehr an. In diesem Augenblick. Er könnte viel mehr empfinden, wenn er allem zugestimmt hätte, was ihn hergeführt hat. Das Blut weicht knisternd aus dem Kopf. Eigentlich ist er ja gar nicht gefragt worden, irgendeine Abteilung hat für ihn entschieden. Nach einer kleinen Prügelei in seinem inneren Stellwerk, in das er nie lange genug hineinsehen kann, ein Parlament mit unbeschränkter Redezeit, jeder Körperteil hat seine Lobby, eine lange Schlange führt zum Rednerpult, von wo dann plötzlich abgestimmt wird. Immer Zufallsmehr. Unregierbarkeit.

Er geht die Treppe hoch, so ist entschieden worden, das Vierminutenlicht ist ausgegangen und von ihr, die tänzelnd die Stufen nimmt, wieder angekickt worden. Er müsste doch jetzt, was denn sonst. Tut er aber nicht.


Das Bett ist hoch genug, sofort klappt ihr schmaler Oberkörper nach vorn, hinunter, von dem leuchtend rosa Überwurf weg, ihre Hände zerren an den Schuhen, hohe Absätze, sie schält winzige Füße heraus, die weißen Socken legt sie auf einen Stuhl. So schnell ist er nicht. Und nicht so sorgfältig. Er zupft an seinen Schuhbändeln, die einen wirren Knoten bilden. Sie schüttelt unterdessen ein wenig den Kopf und lässt die schwarzen Haare wedeln, mit der rechten Hand greift sie hinein, als suche sie etwas. Sie steht nun am Fenster und hält sich am Vorhang. Die Wand ist mit weinrotem Stoff tapeziert, er merkt das erst jetzt. Auf ihre plötzliche Frage ist er nicht gefasst. Er hält die Socken in der Hand, er weiß noch nicht wohin damit. Ob er schon mal habe hinunterspringen wollen, vom vierten Stock. Ob er sie hinunterstoßen werde. Sie spricht, als frage sie nach der Zeit. Kein emsiger Mund. Offenbar traut sie seinen Schwierigkeiten nicht. Sie hält seine Mühe mit den Schuhen für den Aufschub einer Mordtat. Er gibt sich, von den nackten Füßen aufblickend, alle Mühe, kein entsetztes Gesicht zu machen. Augenbrauen nicht verschieben. Nicht so aussehen, als sei man ertappt worden bei einer Sache, von der man am liebsten nichts verraten hätte. Während sie sich eine Zigarette anzündet, versichert er ihr, dass er keineswegs daran denke, sie zum Fenster hinauszustoßen. Er ist noch nie in die Lage gekommen, einen solchen Satz zu denken und aufzusagen.


Jetzt kommt er sich vor, als müsse er gleich antreten zur Prüfung. Der Mond hängt tief im Zimmer. Alle Hasen erfroren im Schnee. Die Stimme ruft er umsonst zu Hilfe. Die Haare halten zu ihm. Die Ohren.

Ein Jucken im Fuß, er kann sich erleichtert aufrichten und beide Hände dorthin entsenden. So ist es noch einen Augenblick lang auszuhalten. Wenn sie wenigstens den Mund aufrisse, egal wofür. Sie ziehen die Kleider wieder an. Als läge darin eine Lösung. Jeder tief in seinem Kleidersack.

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