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Vom kleinen und vom großen Glück

Ein ohrenbetäubend großer Knall erschütterte die Welt, so laut, dass die Menschen das Luftholen vergaßen. Und jeder befürchtete, seine letzte Stunde hätte geschlagen. „Ist das jetzt der Weltuntergang?“, hörte man die Menschen tuscheln, den Schock in allen Gliedern und mit tiefen Sorgenfalten auf der Stirn. Denn etwas Unglaubliches war geschehen: Die Welt stand plötzlich still! Nichts rührte sich mehr. Und das kam so:

Schon seit geraumer Zeit war die Welt in ein großes Ungleichgewicht geraten. Anfangs war es für die Bewohner des Erdballs noch gar nicht zu spüren. Nur der weise Beobachter aus dem All war durch seine besondere Perspektive imstande, zu bemerken, dass sich alles, was sich auf der Erde befand, ganz leicht um eine winzige Nuance in eine Richtung bog, als wollte es seine Form verlassen. Noch hatte es keine Auswirkungen. Doch jedermann wusste, dass ein Ungleichgewicht, und sei es noch so geringfügig, Schlimmes nach sich ziehen konnte.

Wer sich mit der Menschheit beschäftigte, hatte längst erkannt, dass der Größenwahnsinn von Tag zu Tag mehr Verbreitung fand. Die Menschen waren ständig auf der Suche nach dem großen Glück, der großen Liebe, dem großen Abenteuer und dem großen Geld. Nur das Großartige war erstrebenswert. Und wenn sie es mit viel Anstrengung erreicht hatten, verlor es schon in der nächsten Sekunde seinen Wert. Es sickerte blitzschnell durch sie hindurch und fand keine Erde, in der es Wurzeln schlagen konnte.

Es gab nur noch Großstädte auf der großen weiten Welt. Man lebte in großen Häusern, fuhr große Autos, aß mit großen Löffeln von großen Tellern, trug großmaschige Pullover und viel zu große Hosen. Man starrte in große Fernseher, lebte großspurig auf großem Fuß, wollte sich um jeden Preis großmäulig über seine Mitmenschen erheben und unternahm eine große Reise nach der anderen. Jeder hatte Großes mit seinem Leben vor. Nur seine Kinder wollte niemand mehr selbst großziehen.

Unter dieser misslichen Lage hatte das kleine Glück wohl am meisten zu leiden. Die hagere, zerrupfte Erscheinung, die längst ihr kraftvolles Grün verloren hatte, hockte zusammengekauert in der hintersten Ecke ihres Unterschlupfes in Glückesgenug. Der Pilgerstätte für Glücksuchende auf dem höchsten Gipfel der größten Gebirgskette der Welt.

Mit schütterem Haar und welker Haut war es mächtig ins Grübeln geraten. Gepeinigt von existenziellen Sorgen, die von Tag zu Tag größer und unerträglicher wurden.

„Niemand beachtet mich“, klagte das kleine Glück. Sein Schluchzen war bis ins Weltall zu hören. Die permanente Missachtung ließ es schon seit einiger Zeit mehr und mehr schrumpfen, sodass es nun in der Gefahr schwebte, sich ganz und gar aufzulösen.

Die Lage war bitterernst. Denn aus wissenschaftlichen Berechnungen wusste man, dass die komplette Zerstörung des kleinen Glückes zum Untergang der Menschheit führen würde. Auch wenn es – dem Himmel sei Dank – noch nie so weit gekommen war.

Somit stand fest: Das kleine Glück musste auf irgendeine Weise sich selbst und damit die Welt retten. Nur wie?

„Vielleicht könnte ich das große Glück um Hilfe bitten!“, überlegte das kleine Glück. Bisher hatte es ein Zusammentreffen, wenn es sich nur irgendwie einrichten ließ, vermieden. Schließlich war es sein größter Konkurrent. Doch es ging um Leben und Tod. Deshalb sprang es über seinen Schatten und machte sich mit letzter Kraft auf den Weg zum großen Glück.

Schon von ferne konnte es die Menschenmassen riechen, die sich vor der Behausung des großen Glückes versammelt hatten. Nicht ohne Neid gestand es sich ein, dass es seines Wissens niemanden sonst gab, dem ein derartiges Begehren entgegengebracht wurde. Stechend roch es nach Gier und Angst, nach Oberflächlichkeit und Traurigkeit.

Das große Glück war eine stattliche Person mit vollem krausem Haar und einem Bart bis zu den Knien. Sein kräftiges Grün leuchtete bis ans Ende der Welt und seine Haut war beneidenswert glatt. Es strotzte vor Gesundheit und guter Laune. Doch sosehr es nach außen hin strahlte, sein Inneres war dunkel und leer. Die Menschen hatten es in einen goldenen Käfig gesperrt, da sie es für immer festhalten wollten. Sie fütterten es mit Köstlichkeiten, um es bei Laune zu halten, hegten und pflegten es. Jedermann wollte es um jeden Preis besitzen und nie wieder verlieren.

Für einen kurzen Moment konnte das kleine Glück in seine tieftraurigen grünen Augen sehen. „Tauschen möchte ich nicht mit ihm“, dachte es fast ein wenig mitleidig. Denn es bekam eine Ahnung von der großen Einsamkeit, die in seinem Herzen wohnte.

Das große Glück litt wie ein Hund darunter, dass die Menschen nie genug von ihm bekamen, es ausnutzten und aussaugten.

„Wie lange soll es derartig hohen Erwartungen noch standhalten?“, sprach das kleine Glück nachdenklich zu sich selbst, nichts Gutes ahnend.

Umso wichtiger wurde es, blitzschnell zu handeln. So stellte sich die Frage, was es anstellen müsste, um die riesige Menschenmenge von dem großen Glück im goldenen Käfig wegzulocken, damit sie auf ihn, das kleine Glück, aufmerksam wurde.

„Vielleicht sollte ich die Luft aus ihren Luftmatratzen lassen!“, grübelte es. „Oder ihre großen Autos mit Wüstensand betanken.“ Es überlegte angestrengt hin und her, machte Faxen, einen Kopfstand, sang aus voller Kehle schräge Melodien, warf mit Kokosnüssen, tobte und polterte. Und als es fast schon ein wenig verärgert und mit meisterlich großem Kraftaufwand begann, die Wolkenkratzer vor die Sonne zu schieben, um sie alle in den Schatten zu stellen, da geschah es: Das große Glück hielt sein unerträglich großes Leid nicht mehr aus und platzte.

Und damit wären wir wieder am Anfang der Geschichte. Denn genau dieser unvorstellbar große Knall war es, der die Welt zum Stillstand brachte.

Das kleine Glück war bestürzt und machte vor Schreck einen Sprung in die Luft. Dass eine Katastrophe nahte, ahnte es ja seit Langem. Aber dass sie ein solches Ausmaß annehmen würde, übertraf seine schlimmsten Befürchtungen. Nachdem es eine Weile scharf nachgedacht hatte, schoss ihm plötzlich eine Lösung in den Kopf.

Entschlossen rannte es los. „Die Glücksritter!“, keuchte es. „Jetzt können nur noch die Glücksritter helfen.“ Sie lebten im Niemandsland am Fuße des Berges, abgeschottet vom Rest der Welt, waren etwas verrückt und selbstverliebt. Man sagte ihnen übermenschliche Kräfte nach, was den Menschen ein wenig Unbehagen bereitete, und sie gaben sich nicht sonderlich gerne mit ihnen ab.

In dieser besonderen Not war es jedoch vertretbar, sie in ihrer überirdischen Idylle zu stören, fand das kleine Glück. Schließlich waren sie ebenfalls vom Stillstand der Welt betroffen. Auch wenn es ihnen noch gar nicht aufgefallen war, da sie ohne Unterlass mit sich selbst beschäftigt waren.

Die Glücksritter sattelten ihre stolzen Pferde und machten sich sofort auf den Weg zur mittigsten Mitte der Erde. Nur sie wussten, dass sich dort in der Tiefe ein goldener Hebel befand. Mit sehr viel Kraft, über die sie ja verfügten, konnte man ihn betätigen, und im Nu fing die Welt wieder an, sich zu drehen.

Alle Erdbewohner atmeten erleichtert auf und waren zutiefst dankbar. Das Unheil war abgewendet, und das Leben konnte wieder von vorne beginnen. Die Glücksritter kehrten heim ins Niemandsland mit einem sonderbar verschmitzten Lächeln im Gesicht. Und nur das kleine Glück bemerkte die kleine, aber weittragende Veränderung. Fast kam es ihm vor, als würde sich die Welt ein kleines bisschen langsamer drehen als zuvor. Denn die Menschen, die sich in Zeitlupe bewegten, hatten plötzlich viel mehr Zeit, das kleine Glück zu beachten. Das war ganz wunderbar! Es konnte wachsen und gedeihen. Und da die Menschen dem kleinen Glück von nun an nahezu täglich begegneten, kamen sie auch mal eine Weile ohne es aus. Und das war gut, denn in dieser Zeit machte es Urlaub bei den Glücksrittern, um einmal so richtig durchzuschnaufen.

Claudia Lüer, 1970 im niedersächsischen Braunschweig geboren, brachte als Förderschullehrerin schon vielen Kindern das Lesen und Schreiben bei. Sie liebt schöne Musik, das Meer, Sommerabende und den Duft nach frisch Gebackenem.

Schwein gehabt

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