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In der Kathedrale
Der weiß-braun gefleckte Hund schläft. Gleichmäßig hebt und senkt sich sein Brustkorb. Im Schatten auf den Pflastersteinen liegt der entspannte Vierbeiner neben der in Blau eingefassten Tür des Souvenir-Geschäfts, das Korbwaren aller Art anbietet. Er bemerkt nicht die Katze, die die Gasse entlang schleicht, zu einem Sprung ansetzt, um durch ein offenes Fenster in ein Haus zu verschwinden. Der Hund hat es gut, er macht es goldrichtig und verschläft die heiße Zeit des Tages. Verlockend gemütlich sieht es aus, wie er dort hinter dem bunten Sammelsurium an Körben, Taschen, Teppichklopfern und Kinderstühlen friedlich schlummert.
Ich wünschte, ich könnte es ihm gleichtun. Irgendwo im Schatten verweilen, ein kaltes Getränk in Reichweite, Löcher in den blauen Himmel starren oder sogar ein Nickerchen machen … Und was tue ich stattdessen? Ich absolviere einen Sightseeing-Marathon. Seit acht Stunden bin ich wach, seit sechs Stunden auf den Beinen. „Es ist Urlaub“, rufe ich mir wiederholt ins Gedächtnis, trotzdem habe ich ein durchorganisiertes Programm wie im Arbeitsalltag. Nein, straffer strukturiert ist es. Natürlich sehe ich unglaublich viel in kurzer Zeit. Bei der Wärme fällt es mir allerdings schwer, die zahllosen Eindrücke aufzunehmen. Eine Sehenswürdigkeit jagt die nächste, eine Aneinanderreihung von kulturellen Highlights ist es – und gleichzeitig prasselt ein Stakkato an Informationen auf mich ein.
Warum nicht einen Moment länger verharren, schauen, sich am Anblick erfreuen? Versuchen, eine lateinische Inschrift zu entziffern? Oder einen schönen Innenhof, der in keinem Reiseführer als sehenswert erwähnt wird, bestaunen, weil er in meinen Augen paradiesisch ist und in ihm ein Orangenbaum blüht, der einen herrlichen Duft verströmt und Bienen im blassblau blühenden Rosmarin summen?
Innehalten … Verlockend erscheint es mir gerade in diesem Moment.
Die Entspannung kommt auf dieser Reise entschieden zu kurz, finde ich, auch wenn es jeden Abend Zeit zur freien Verfügung gibt. Aber dann sind wir in einem Hotel. Lieber hätte ich Freizeit an den Sehenswürdigkeiten, würde dort zu gerne ein wenig länger bleiben. Oder wie wäre es mit einer kleinen Siesta, wie es dieser Hund macht?
Genug geträumt, diese Zeit habe ich nicht. Wo ist der pinke Regenschirm, das Erkennungsmerkmal unserer Reiseleitung, der immer wie ein gigantischer Pilz aus der Menge ragt? Bestimmt fünfzig Meter weiter entdecke ich ihn in der Gasse, die seicht den Berg hinaufführt. Also nichts wie hinterher, jetzt muss ich rennen. Nie wieder eine Gruppenreise, schwöre ich mir nicht zum ersten Mal in letzter Zeit. Schnell ein Foto von dem Hund, dessen idyllisches Bild sich in mein Gedächtnis brennt … Und auf zur letzten großen Sehenswürdigkeit des Tages, der Kathedrale. Geplante Besichtigungsdauer: eineinhalb Stunden.
„Vielleicht kann ich mich absetzen“, geht mir durch den Kopf, als ich durch die Gasse haste. Ich möchte nicht die Kirche, den Kreuzgang, das Museum darin und die Sakristei besichtigen, um mich dann im Anschluss die vielen Stufen hoch in den Glockenturm zu schleppen.
Im Schatten der mächtigen Platanen, die vor dem Gotteshaus wachsen, japse ich nach Luft und zücke mein Taschentuch, um mir die Schweißperlen von der Stirn zu tupfen. Die Fakten zur Geschichte dieser Kirche, die die Dame unter dem pinken Schirm herunterbetet, schwirren wie die Schwalben am Himmelsblau durch die Luft und ich mache mir nicht die Mühe, aufmerksam zuzuhören. Mein Blick schweift ziellos umher und bleibt letztendlich wieder an der Kathedrale hängen. Ich sehe die beiden ungleichen Türme der Kirche, beeindruckende Wasserspeier, das hübsche Portal, flankiert von den steinernen Figuren der Apostel. Imposant ist sie, die Kathedrale. Ohne Zweifel.
Wir verlassen den Schatten, queren den Vorhof, der im gleißenden mittäglichen Sonnenschein schläft. Die Mittagshitze ist dazu geeignet, den letzten Funken an Elan wegzubrennen. Kein Einheimischer ist jetzt freiwillig unterwegs, und wenn es sich nicht vermeiden lässt, dann höchstens in einem gemächlichen Spazierschritt, keineswegs forsch wie wir.
Wir betreten die heilige Stätte. Überwältigend ist die Größe, die sich hier drinnen erst wirklich offenbart. Nie zuvor bin ich in einer Kirche dieses Ausmaßes gewesen. Sanfte milde Wärme, angenehme Temperaturen herrschen, die grelle Helligkeit ist ausgesperrt, gedämpftes Licht umgibt uns.
Es ist still. Der mir mittlerweile von unzähligen Kirchenbesuchen vertraute Duft von Weihrauch schwebt in der Luft, gemischt mit Bohnerwachs und Möbelpolitur.
Wir setzen uns in eine der vielen leeren Holzbankreihen, weil wir diesen Bau auf uns wirken lassen sollen. Nanu, zieht unsere Reiseleiterin neue Saiten auf?
Dankbar lasse ich mich auf meinen Sitzplatz plumpsen. Herrlich – eine Pause. Das riesige Mittelschiff ist auffällig schmucklos, wohltuend schlicht. Mächtige Stützpfeiler streben zu dem hohen Gewölbe, als wären sie die direkte Verbindung zwischen Erde und Himmel.
„Vielleicht sollen sie genau das symbolisieren“, geht mir durch den Kopf. Der prachtvolle Hauptaltar erhebt sich am Ende eines roten Teppichs und des Mittelschiffes. Ein Strauß Wildblumen schmückt ihn. Dieses kunstvolle, von Menschenhand geschaffene Werk zusammen mit der farbenfrohen Pracht der Natur: ein starker Kontrast, der mich irgendwie rührt. Mein Blick zu unserer Reiseleiterin offenbart, auch sie ist erschöpft. Ihr Kopf ist nach vorne gesunken, sie gibt dem Müdigkeitsgefühl nach, das mich den Vormittag über in den Klammergriff genommen hat. Ein Schläfchen. Wie sehr ich ihr das gönne.
In Schwarz gekleidete Menschen knien vor dem Hauptaltar nieder, bekreuzigen sich, beten oder halten für einen Moment im Leben inne, indem sie sich ebenfalls auf den Bänken niederlassen. Andere Menschen entzünden Kerzen, stellen sie vor einem der Seitenaltäre ab, bevor sie Zwiesprache mit wem auch immer halten. Der ideale Ort, um zur Ruhe zu kommen und sich der Banalität des Alltages zu entziehen.
Höre ich entferntes Plätschern von Wasser? Vielleicht von einem Brunnen im Kreuzgang? Oder spielen mir meine Sinne einen Streich? Ein Gefühl der Ruhe, der tiefen Zufriedenheit kehrt in mir ein. Durchatmen. Schauen. Nichtstun. Entspannen. Wunderbar fühlt es sich an.
Es rumpelt, einmal, zweimal, etwas lauter, hallt durch die Kirche. Kurz darauf ertönt ein Fiepen, das sich als durchdringender Ton der Orgel entpuppt, der auch unsere Reiseleitung im Handumdrehen aus ihren Träumen weckt. Aber das ist nur ein Test.
Jetzt setzt die Orgel ein: großartig, klar und wunderschön. Mit ihrem vollen Ton füllt sie den letzten Winkel des Kirchenschiffes. Touristen, eben noch vertieft in ihre Reiseführer, schauen auf, lauschen. Ein Kirchendiener betrachtet ehrfürchtig die Orgel. Man kann nicht anders, als sich dem Genuss hinzugeben, die Herrlichkeit zu genießen.
Ergriffen bin ich, das merke ich. Der Moment ist von einer Feierlichkeit erfüllt wie Weihnachten. Wunderschön ist es. Und ein weiteres Gefühl keimt in mir auf.
Glück.
Zunächst ist es wie ein kleines Ziehen, als müsste meine Seele testen, ob sie es zulassen kann. Aber ja, natürlich kann sie es. Und jetzt ist das Glück eine Welle, die mich hochhebt. Die Orgel klingt, als spiele sie für die Ewigkeit. Und ich?
Ich fühle mich dem Himmel so nahe.
Bettina Schneider: 1968 in Berlin geboren, verheiratet, zwei Kinder und ein Hund, Studium der Betriebswirtschaftslehre, im Anschluss zehn abwechslungsreiche Jahre im Rechnungswesen in der Privatwirtschaft, heute Freiraum für kreative Tätigkeit. Sie schreibt mit Begeisterung Kurzgeschichten und Erzählungen, einige davon sind veröffentlicht. Hobbys: Lesen, Schreiben, Tagebuch schreiben, Spaziergänge mit dem Hund und Fotografieren.