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Kapitel I
ОглавлениеJuni 2017
Seine Augen tasteten durch den im Zwielicht liegenden Raum. Blieben an dem Gitter hängen, das die Welt da draußen forthalten sollte. Es ging auf das Konto des Toten selbst, dass er in dieser verrammelten Gruft auf die ewige Erweckung wartete.
Ein Schauer lief ihm über den Rücken, was ein ganz seltsames Gefühl war, stand er doch wie in einer halben Verbeugung eingefroren bewegungslos nach vorne geneigt. So etwas passierte ihm immer, wenn er sich die Knochen seiner Objekte anschaute. Erregung konnte er fühlen. Sein Körper bebte und die Haare auf seinen kräftigen Armen stellten sich auf. Es war inzwischen seine 38. Leiche. Bei der ersten hatte er sich noch gegraust, vor dem toten Körper, der Gewalt, die ihn aus dem Leben gerissen hatte, auch vor sich selbst. Das aber war schnell vergangen. Inzwischen fieberte er jedem weiteren Toten entgegen, konnte es kaum abwarten, bis er wieder loslegen konnte.
Sobald es wieder so weit war, legte er Jeans, Hemd und Sakko ab und griff zum Overall, damit er sich richtig schmutzig machen konnte. Wenn er seine Drahtgestellbrille vorsichtig in ein stoßfestes Etui verstaute und nach seinem Werkzeug griff, kam es ihm so vor, als schlüpfe er in ein zweites Leben. Er wusste, dass ihm Haarsträhnen schweißnass ins Gesicht hingen und dass die Gier, dieses Fieber, seinem Gesicht deutlich abzulesen war. Er konnte es nicht unterdrücken.
Raimund hob den Blick und damit den Kopf um eine Winzigkeit, um aufzuschauen. Erst glaubte er, in einen Spiegel zu sehen, doch dann stellten sich seine Augen scharf. Sein Spiegelbild zerfloss und es schälte sich die Gestalt eines weiteren Mannes heraus. Beinahe 20 Jahre jünger als er, so groß gewachsen, dass er trotz seiner 39 Jahre schlacksig wie ein Jugendlicher wirkte, stand ihm sein Kompagnon und Weggefährte gegenüber. Sein Seelenverwandter und Waffenbruder. Von der gleichen Leidenschaft ergriffen wie er selbst, zogen sie nun schon seit neun Jahren als unzertrennliches Team durchs Leben, teilten alles miteinander. Erfolge genauso wie Rückschläge und Enttäuschungen. Heute aber war ein guter Tag für sie beide. Sie hatten etwas Wunderbares erlebt und es ging noch weiter.
„Was sagst du, Andreas? Was es das wert?“ Raimunds Stimme war nur ein Flüstern, das dennoch hohl durch das Gewölbe hallte.
„Ich hätte gedacht, dass der Körper besser intakt geblieben ist. Der Grad der Verwesung ist … überraschend. Für mich derzeit unerklärlich. Als wäre er der Luft ausgesetzt gewesen.“ Andreas hatte einen ganz leichten Dialekt, der auch nur dann zu hören war, wenn er aufgeregt war. Wie jetzt. „Wunderbar. Einfach wunderbar.“
„Hast du alles drauf?“, wandte sich nun Raimund an den dritten Mann, der auf einem Podest stand und eine Kameraausrüstung bediente. Er hielt keine digitale Videokamera wie die tausenden von Touristen, die sie den ganzen Tag über im Hintergrund gehört hatten, mit ihren bemüht gedämpften Stimmen, ihren hochhackigen Schuhen und den plärrenden Kindern. Vielmehr filmte er mit einem Profiequipment, um das der eine oder andere private Fernsehsender ihn beneidet hätte.
Hoch konzentriert hob der Kameramann nur den Daumen, um zu signalisieren, dass er zufrieden mit den Aufnahmen war, die er schon im Kasten hatte. Raimund nahm sich einen Augenblick, auch ihn anzuschauen, ihn mit seinem Blick in die Bande zwischen Andreas und ihm selbst einzubeziehen. Jerara war erst vor wenigen Monaten aus Australien zu ihnen gestoßen und sog all ihr Wissen, ihre Erfahrung begierig in sich auf. Er war ein ehrwürdiger Adlatus, erzogen mit dem alten Wissen der Aborigines, denen er unerkennbar entstammte, und ausgebildet an den besten Schulen und Universitäten des Westens.
Nun richtete sich Raimund vollständig auf und drehte sich um. Hinter ihm stand in der schlichten Soutane eines einfachen Priesters der Domprobst des Kölner Doms und schaute schweigend zu. Er war interessiert, doch zugleich auch misstrauisch. Als Hausherr einer der berühmtesten Kathedralen der Welt war es seine Aufgabe, über das Heil der Lebenden und auch der Toten zu wachen. Derzeit lag es ihm besonders am Herzen sicherzustellen, dass dieser bestimmte Tote trotz der Störung seiner Ruhe pietätvoll behandelt wurde.
Erst nach langem Ringen mit den kirchlichen und weltlichen Behörden war es Prof. Dr. Raimund Alphen gelungen, die Erlaubnis zu erhalten, eine Exhumierung und Begutachtung an Graf Gottfried von Arnsberg vornehmen zu dürfen. Dieser ruhte nun seit 1371 in einem Hochgrab im Kölner Dom. Ihm war als einziger weltlicher Herrscher die Ehre zuteilgeworden, in diesem Prunkbau neben Kardinälen und Kirchenfürsten bestattet zu werden. Allein das machte ihn so interessant. Als Professor für Archäologie und Anthropologie war Raimund aber geradezu fasziniert von dem Gedanken herauszufinden, wie dieser Mann gelebt haben mochte. Noch durch sein Testament hat er sich so sehr den Zorn seiner Verwandtschaft zugezogen, dass er verfügt hatte, sein Grab mit einem gewölbeartigen Gitterkäfig zu sichern, damit ihn die aufgebrachten Angehörigen nicht aus seiner letzten Ruhestätte rissen, um ihre Wut an ihm auszulassen. Wie lebte es sich mit dem Wissen um eine solche Notwendigkeit? Das wollte Raimund unbedingt erfahren. Und vielleicht fanden er und seine Kollegen hier – wie andere Archäologen bereits zuvor bei Engelbert von Berg im Jahre 1978 – spektakuläre Hinweise auf eine unnatürliche Todesart. Auf Mord. Natürlich war Professor Alphen nicht auf Publicity oder gar reißerische Berichte in den eher bild- als wortgewaltigen Zeitungen des Rheinlandes aus. Doch ein bisschen Aufsehen würde schon dafür sorgen können, dass die Forschungsarbeiten seines Lehrstuhls auch in den nächsten zwei, drei Jahren noch finanziert werden könnten. Und je nachdem, wie bedeutend ihr Fund wurde, könnte er vielleicht sogar dafür sorgen, dass nach seiner Pensionierung in sechs Jahren Dr. Andreas Jakub Korla aus seinem Schatten heraustreten und einer der jüngsten Professoren für angewandte Archäologie werden konnte. Das war das Mindeste, was er für seinen Protegé tun wollte.
Aber nicht für Ruhm und Erfolg, sondern allein auf der Suche nach Wissen und Erkenntnis hatten die drei Wissenschaftler seit den frühen Morgenstunden das Grab von außen mit Bauplanen, Rigipswänden und Absperrband abgeschottet, um Sanierungsarbeiten vorzutäuschen, die neugierige Touristen abhalten sollten. Damit hatten sie versucht, eine ruhige Atmosphäre zu schaffen. Dann hatten sie begonnen, mit feinstem Werkzeug die Versiegelung des Hochgrabes gewalt- und vor allem zerstörungsfrei zu entfernen, bis sie endlich in der Lage gewesen waren, den schweren Sarkophagdeckel inklusive Schutzgitter zur Seite zu heben.
Andreas hatte schon zu Pinsel und Pinzette gegriffen und sich tief in das Grab hineingebeugt, um mit einer ersten oberflächlichen Analyse zu beginnen. Dann aber stockte er.
„Ray?“ So wurde der Professor nur von seinen Freunden genannt, zu denen sich Andreas zählen durfte. Den Spitznamen hatte der Professor aus Amerika mitgebracht, wo er vor seiner Berufung zum Lehrstuhlinhaber fünf Jahre lang doziert hatte. „Ray. Hier stimmt was nicht.“
Den letzten Satz hätte er gar nicht mehr aussprechen müssen. Ray konnte in der Stimme seines jüngeren Kollegen hören, dass der etwas entdeckt hatte, was nicht passend war. Und er sah es auch in Andreas´ tiefblauen Augen, in denen sogar hinter den dicken Brillengläsern Überraschung und Sorge zu erkennen waren. In zwei Schritten war er an Andreas´ Seite getreten und beugte sich hinunter. Jerara währenddessen, noch immer platziert auf dem Podest, das sich parallel zur Grabstelle befand, drehte den Studioscheinwerfer ein wenig, um eine bessere Beleuchtung zu schaffen, ohne die Aufnahme zu unterbrechen.
Der Domprobst eilte um das Grab herum und versuchte, über die Rücken der Wissenschaftler hinweg auf die Leiche zu schauen.
„Was ist denn?“, fragte er nervös.
Andreas schob den trotz all der Jahre nicht verrotteten Mantel des Verstorbenen ein wenig weiter zur Seite, legte damit die nur noch teilweise erhaltenen Beine frei und damit auch den schmalen Streifen Raum, der bis zur Sarkophagwand noch blieb.
„Nun ja, da der Graf bei seiner Bestattung offensichtlich noch beide Beine hatte und die auch jetzt noch an Ort und Stelle sind, frage ich mich …“ Er rutschte ein Stück zur Seite, um den anderen einen freien Blick in das Grab zu ermöglichen. „… ich frage mich, wieso dann da noch ein dritter Oberschenkelknochen liegt?“
Viele Stunden später bauten die Forscher ihre Gerätschaften ab, sammelten ihre Werkzeuge und Aufzeichnungen ein und verließen schweigend die Grabstelle, die ein Domschweizer sorgsam hinter ihnen verschloss. Den Körper des Grafen von Arnsberg hatten sie luftdicht und stoßfest von einem Bestattungsunternehmer, der sich mit den speziellen Anforderungen der Forscher auskannte, in die Laboratorien der Universität bringen lassen. Ebenso den überzähligen Beinknochen, der gar nicht in diesem Grab hätte liegen dürfen. Als sie ihre heutige Tätigkeitsstätte verließen, waren sie so in Spekulationen und Theorien versunken, dass sie die Pracht aus Marmor, Kristall und Gold um sich herum gar nicht wahrnahmen. Selbst Jerara, der noch am Morgen mit großen taxierenden Augen einen Rundgang durch die Kathedrale unternommen hatte – obwohl er inzwischen sieben Mal den Dom besucht hatte, faszinierte er ihn immer noch –, hatte diesmal keinen Blick übrig für die vielen Geheimnisse und Merkmale, die er als Historiker nicht nur wahrnahm, sondern normalerweise jederzeit zu entschlüsseln gewünscht hätte. Doch dieser Beinknochen hatte alles verändert.
Am Abend saßen die drei Historiker zusammen in einem typischen Kölner Brauhaus, schweigend, denn jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Für Jerara war es die erste Graböffnung gewesen und er spürte in sich nach, was diese Erfahrung für ihn bedeutete. Andreas überlegte, wie der Knochen wohl in die Grabstätte gekommen war, denn das Grab war noch mit Mörtel versiegelt gewesen, als sie es am Morgen zu öffnen begonnen hatten. Darüber hinaus hätte es zu Zeiten Gottfrieds von Arnsberg niemand gewagt, seine letzte Ruhestätte mit dem Knochen eines Unbekannten zu entweihen. Dafür waren die Menschen im 14. Jahrhundert einfach zu ängstlich und gottesfürchtig, ja beinahe abergläubisch gewesen.
Raimund aber zweifelte, ob sie richtig gehandelt hatten. Sie hatten den Knochen eines Menschen gefunden, der dort bestimmt nicht hingehört hatte. Eine erste kurze Begutachtung zeigte, dass sich darauf Spuren befanden, tiefe Eimarkungen, die von einem Messer stammen könnten. Vielleicht wäre es besser gewesen, die Polizei zu informieren? Oder zumindest den Verwaltungsdirektor seines Institutes? Eine der wichtigsten Regeln bei Explorationen war, sich mit den örtlichen Behörden gut zu stellen, gerade wenn man mit Knochen herumfuhrwerkte. Aber er war sich so sicher, dass es sich hier um ein Objekt handelte, das die zeitgenössischen Behörden nicht interessieren würde! Das Grab war unangetastet gewesen und der Knochen von jeder Faser Fleisch befreit. Sein Instinkt sagte ihm, versicherte ihm, dass es sich um ein altes Relikt handelte. Mehrere hundert Jahre alt und mehr ein Fall für Historiker als für Polizisten. Doch dieses ungute Gefühl in der Magengegend konnte er einfach nicht ignorieren. Eigentlich war er verpflichtet, die Ermittlungsbehörden einzuschalten. Was, wenn es kein alter Knochen war?
„Könnte es nicht ein Racheakt seiner verschmähten Verwandten gewesen sein?“, riss ihn Andreas aus den Gedanken.
Raimund starrte ihn noch einige Sekunden mit leerem, nach innen gekehrtem Blick an, dann realisierte er, was sein Mitarbeiter gesagt hatte, und tauchte wieder in die Wirklichkeit ein: „Wie meinst du das? Racheakt?“
„Naja, du weißt doch, wie sehr Gottfried von seiner Familie gehasst wurde. Deshalb doch auch das Gitter über seinem Sarkophag. Nachdem er all seinen Besitz der Kirche vermacht hatte, konnte er seines Lebens nicht mehr sicher sein. Und auch seine Totenruhe sah er offensichtlich gefährdet. Was ist, wenn einer seiner Verwandten den Knochen mit in den Sarg legen ließ? Um seine ewige Ruhe zu stören und sein Grab von innen zu schänden?“
Jerara hatte aufmerksam zugehört: „Wie soll das denn gehen?“
„Ich könnte mir vorstellen, dass seine Familienmitglieder tief religiös waren. Auch wenn sie die Schenkung an die Kirche missbilligten, weil sie damit selbst leer ausgingen, werden sie in der Tiefe ihrer Herzen gläubig gewesen sein. Ein falscher Knochen im Grab könnte – nach damaliger Ansicht – schon den Weg ins Paradies verbauen. Wenn die Trompeten zum letzten Gericht rufen, steht die sterbliche Hülle von Gottfried auf mit dem, was im Grab liegt. Und dann steht er da mit drei Beinen. Vielleicht mit dem Knochen eines Wucherers oder gar eines Selbstmörders. In der Vorstellung der damaligen Bevölkerung reichte so etwas schon aus, um zur ewigen Verdammnis verurteilt zu werden.“
Raimund sinnierte dieser Idee hinterher, während ihm der Köbes – der Kellner in einer solchen Brauereischänke, auch wenn man ihn nie Kellner nennen durfte – ein neues Bier hinstellte. Hier war es üblich, dass nachgeliefert wurde, bis man den Bierdeckel auf das Glas legte. Erst das war das Zeichen, dass man zahlen wollte. Das hatte Ray aber noch nicht vor. Er wollte auch nicht nach Hause gehen. Dort erwartete ihn nichts. Seine Wohnung war wunderbar gelegen, Rheinnähe, Altbau-Charme. Hohe Decken, mit einem Kamin im Wohnzimmer. Dennoch … seit Sabine nicht mehr bei ihm war, gab es keinen Grund, in seinen Wohnsitz allabendlich zurückzukehren. Er hatte seine Frau in drei Stufen verloren und die letzte tat noch immer weh. Zuerst war er wegen all seiner Forschungsaufträge durch die ganze Welt gereist und hatte seine damals noch junge Partnerin viel zu oft allein gelassen. Sie hatte ihn nicht begleiten können und sie war auch nicht in seinen Gedanken bei ihm gewesen. Nur kurze acht Monate waren sie vor der Hochzeit zusammen gewesen. Doch anstatt nach der Hochzeit ein wenig zu bleiben und sie kennenzulernen, war er losgezogen. Den alten Mumien und Inkagräbern hinterher. Er hatte gar nicht gemerkt, dass sie sich in der wenigen Zeit, in der sie sich sahen, eher voneinander entfernten als annäherten. Bei jeder Reise einen Schritt mehr.
Erst als Raimund eines Tages nach Hause gekommen war und seine Wohnung leer vorfand, wurde ihm klar, dass sie gegangen war. Die Möbel waren noch da, ebenso seine Bücher, sein Arbeitszimmer war unberührt. Doch sie hatte all ihre persönlichen Sachen mitgenommen und war verschwunden. Sie war fort und mit ihm ein Teil seiner selbst.
Doch was Leere bedeutet, hatte er erst begriffen, als die Polizei in seinem Büro in der Universität gestanden hatte. Als sie ihm von dem Unfall berichteten, dem LKW, der Sabine in Sekunden getötet hatte. Da wurde ihm zum ersten Mal klar, dass er noch immer irgendwo im tiefsten Inneren seiner Gedanken gehofft hatte, sie würde irgendwann einmal zu ihm zurückkehren. Denn er konnte körperlich spüren, wie diese Hoffnung jetzt zerbrach. Mit einer Gewalt und einem Schmerz, den er sich bis dahin nicht hatte vorstellen können.
Und so stand er fortan morgens auf, ging zur Arbeit – ob nun in sein Büro in Köln oder zu einer Ausgrabung in Peru war ihm einerlei – und versenkte sich so tief in die Geheimnisse der Geschichte, dass er die Schmerzen der Gegenwart solange ausblenden konnte, bis er tiefabends irgendwann doch wieder in seine stille Wohnung zurückkehren musste.
„Professor?“
Raimund schreckte auf. Jeraras junges Gesicht und seine großen Augen schwebten dicht vor ihm und er konnte die unausgesprochene Frage in seinem Blick lesen.
„Mir geht es gut, Jerara. Alles okay.“
Dabei war das gar nicht der Grund seiner Frage gewesen, wie der Professor nun merkte. Der eine Arm lag auf dem Tisch und er hatte sein Kinn in die Ellenbeuge gebettet, die andere Hand hielt das Kölsch-Glas fest umklammert. Ein Köbes stand neben ihrem Tisch und zog an dem länglichen Bierglas, das liebevoll „Stange“ genannt wurde. Die Kraft, mit der dieser eigentlich nette mittelalte Herr an dem Glas festhielt, erstaunte den Köbes ebenso wie die Tatsache, dass er am Tisch einschlief.
Betreten ließ Raimund das Glas los und richtete sich auf. Er spürte die Augen des Kellners auf sich liegen und ihm wurde bewusst, wie das aussehen musste. Ein Mann in seinem Alter sollte nicht am Tisch einschlafen – auch wenn er nicht geschlafen, sondern nachgedacht hatte – und Andreas´ Blick wirkte abends auch oft starr und stechend, was aber nur an seinen schlechten Augen und den dicken Brillengläsern lag. Und bei sich hatten zwei so unterschiedliche, aber auffällige Männer einen hübschen Jungen, der zumindest jetzt unsicher und nervös wirkte. So tolerant sich Köln doch immer gab, existierten auch hier Grenzen.
„Zahlen, bitte“, sagte Andreas und deutete mit einer Geste an, dass er die Kosten für den gesamten Tisch übernehmen würde. Danach schob er seinen Freund und Vorgesetzen am Arm durch das Brauhaus hinaus an die frische Luft und setzte ihn in ein Taxi.
Am nächsten Morgen stand Andreas schon früh im Labor und schaute sich das Knochenfragment an, das nun schon gesäubert und vorbereitet war. Es fehlte nur noch die Säurebehandlung, die der Professor unbedingt selbst durchführen wollte. Noch war er nicht eingetroffen, aber Andreas wusste, dass er bald kommen würde. Die Stimmung, in der Ray sich gestern Abend befunden hatte, würde ihn wieder einmal um den Schlaf gebracht haben und das Rätsel um den Beinkochen hatte bestimmt noch seinen Teil dazu beigetragen. Andreas selbst war bestimmt zwei Stunden in seiner Wohnung im Kreis gelaufen, vom Wohnzimmer in die Küche, von der Küche ins Schlafzimmer, von dort wieder durch die Küche ins Wohnzimmer. Sein Körper hatte das von ganz allein getan, während sein Kopf arbeitete. Andreas war kein historischer Fall aus der westlichen Zivilisation bekannt, in dem ein zusätzlicher Knochen in einer bedeutenden Grabstätte gefunden worden war. Heutzutage kam das öfter vor. Die Krankenhäuser wussten sich nicht besser zu behelfen, als amputierte Gliedmaßen den Bestattern zu übergeben, die die Körperteile dann in einen Sarg mit beilegten. In seinen Augen war das unglaublich respektlos, sowohl dem Patienten als auch dem Verstorbenen gegenüber. Und auch für die Angehörigen konnte der Gedanke nicht sonderlich angenehm sein zu wissen, dass zwischen der Asche eines geliebten Menschen auch noch die verbrannten Reste eines abgetrennten Raucherbeins steckten. So etwas war nur in Großzivilisationen möglich, in denen weder Tod noch Leben wertgeschätzt wurden und die die Beziehung zur Natürlichkeit der Existenz verloren hatten. Erst mit dem großen Sterben seit den Revolutionen im 19. Jahrhundert und den nachfolgenden Seuchen und Kriegen im 20. Jahrhundert hatte der Tod nicht seinen Schrecken, aber seine Erhabenheit verloren. Das führte dazu, dass man Menschen in Massengräbern verscharrte und überflüssige Körperteile irgendwo fremdbestatten ließ. Das hätte es im Mittelalter nie gegeben! Zur Zeit der Grablegung des Grafen Gottfried von Arnsberg im Jahre des Herren 1371 war es ein heiliger Akt gewesen, einen Menschen auf den Weg zu Gott zu geleiten. Wie also kam dann das Bein in das Hochgrab im Kölner Dom?
So wie seine Schritte hatten auch seine Gedanken sich immer nur im Kreis bewegt und die Nacht war zu kurz gewesen – zu kurz, um das Rätsel nur durch Nachdenken zu lösen und auch zu kurz, um Erholung zu finden.
Jerara war inzwischen ins Labor gekommen, mit einem Glas Wasser in der einen und zwei Kaffeetassen in der anderen Hand. Das Wasser stellte er auf die Fensterbank, um dann den einen Kaffee Andreas ungefragt in die Hand zu drücken und den anderen auf den Stammplatz von Alphen zu stellen.
„Wo ist der Professor“, fragte der Post-Doc.
„Er kommt.“
„Gestern …?“
Die Frage blieb unausgesprochen. Andreas zuckte mit den Achseln. Er wusste es nicht. Mit Raimund hatte er schon viele Grabstellen und Funde bearbeitet, aber niemals hatte er ihn in so einer Stimmung erlebt. Darauf konnte er sich keinen Reim machen, obwohl er wusste, dass der Professor eine Art sechsten Sinn besaß. Sein Bauchgefühl oder sein Instinkt halfen ihm oft genug bei der Lösung historischer Geheimnisse. Er war dadurch in der Lage, sich gedanklich in jede Zeit und in jede Situation zu versetzen, die ihm Hinweise auf den Sinn und Zweck eines Grabes oder einer Inschrift gaben. Als könnte er seinen Geist auf Zeitreise schicken und miterleben lassen, wie die Stätte geschaffen wurde. Wenn er dann aus seinen Gedanken wieder auftauchte, war er meist ein wenig durchgeistigt, aber oft euphorisch und voller Tatendrang. So niedergeschlagen hatte er seinen Freund noch nie erlebt.
Andreas nahm sein Smartphone zur Hand und checkte den E-Mail-Eingang. Er drehte das Gerät in einer Hand und überlegte, ob er Raimund anrufen sollte, als die Tür zum Labor aufschwang und der Professor mit einigen Studenten und Laborhelfern im Schlepptau eintrat. Seine Augen leuchteten, was ein gutes Zeichen war, aber die dunklen Ringe darunter konnten nicht verbergen, dass auch er zu wenig geschlafen hatte. Mit einem Nicken ging er zwischen Andreas und Jerara hindurch, schnurstracks auf den Kaffeepott zu und schüttete das Koffein gierig in sich hinein.
„Du bist mein Held“, meinte er anerkennend zu seinem Post-Doc und klopfte ihm leicht auf die Schulter, um sich dann an die Arbeit zu machen. Während sich die Studenten um den Labortisch des Professors scharten, ihm bei der weiteren Vorbereitung des Knochens zusahen und begierig aufsogen, was er dazu erklärte, stand Andreas in der zweiten Reihe – bei seiner Größe konnte er problemlos über die Studenten hinwegblicken – und beobachtete genauso aufmerksam den Professor. Dieser ging mit großer Genauigkeit und Erfahrenheit vor, als er das Knochenstück herausnahm, für das Säurebad vorbereitete, die Mischungsverhältnisse und den chemischen Vorgang dahinter erklärte, während die Laborhelfer die Flüssigkeit ansetzten. Andreas eigene Studienzeit war auch schon einige Jahre her und so fand er es ganz interessant, wieder einmal zuzuhören, wie der Professor von zerfallenden Molekülen erzählte, berichtete, dass die Messung auf 40 Jahre genau sein konnte, wenn genug Material zur Analyse bereitstand, und dass er kaum das notwendige 1 Kilo für eine solche Genauigkeit zur Verfügung hatte, denn dann wäre von dem Knochen nichts mehr übriggeblieben. Während das Knochenstück im Säurebad blubberte, bat der Professor Andreas, ihm den mathematischen Teil abzunehmen. Korla begann zu erklären, welche Daten man benötigte, um zu errechnen, aus welchem Jahr das Testobjekt stammte. Seine Kreideskizze an der Tafel war sechsfarbig.
Beinahe enttäuscht stellte Andreas fest, dass er hier und da ein stöhnendes Aufatmen hörte, als der Professor die spontane Mathematikvorlesung beendete mit dem Hinweis, dass es nun mit der praktischen Arbeit weiterginge. Dann aber verflog seine Enttäuschung und das altbekannte innere Beben setzte ein. Er schaute sich um. Die Laborhelfer bereiteten einen Bunsenbrenner und eine Glasapparatur vor. Die Studenten vervollständigten ihre Mitschriften oder schauten beim Aufbau zu. Doch in den Augen von Jerara und dem Professor sah er, was er selbst fühlte. Aufregung. Vorfreude. Brennende Neugier. Jetzt waren es nur noch wenige Minuten, bis sie wussten, wie alt der Knochen war. Der erste Schritt zur Lösung des Rätsels. Das waren die Augenblicke, für die sich die lange Studienzeit gelohnt hat.
„Ich nehme Wetten an“, rief der Professor fast übermütig in die Runde. „Wie alt ist der Knochen? Was meinen Sie? Und bitte mit fundierten Begründungen. Immerhin arbeiten wir in einer Disziplin der Geisteswissenschaften.“
„630 Jahre“, rief einer der Studenten.
„Wieso bitte?“
„Weil …. Weil das Grab so lange schon verschlossen ist. Sie haben gesagt, dass der Mörtel des Grabdeckels unangetastet war. Also muss der Knochen zur Zeit der Grablegung reingekommen sein. Das war 1371, also vor rund 630 Jahren. Plus Minus ein bisschen.“
Der Professor nickte mit gespitzten Lippen, während er den Knochen in einer Quarzampulle verbrannte. Nur so lösten sich die organischen Bestandteile, die anschließend mit einem Zählrohr gemessen werden konnten. Anhand ihres Zerfalls sollte das Alter der Probe bestimmt werden.
„Ich denke, das Bein ist viel älter“, rief ein weiterer Student. „Es ist ja, anders als die Leiche vom Grafen, ganz blank. Wahrscheinlich ist es so schon in das Grab reingekommen. Also muss er deutlich älter sein.“
Alphen gefiel die Antwort nicht. Sie war in der Wortwahl respektlos und in der Sache nicht ganz stimmig.
„Keine Proteste gegen die These? Das erstaunt mich. Die Vermutung, dass dieses zusätzliche Bein nicht im Grab von Graf von Arnsberg verwest ist, ist zutreffend. Zumindest haben wir dafür keine Anhaltspunkte gefunden.“ Er schaute kurz grinsend von seiner Arbeit auf, wurde dann aber wieder ernst. „Dennoch sollten Sie alle sich noch einmal die Zeitspannen anschauen, in denen ein Körper verwest, wenn er nicht in einem Sarg gelagert wird. Natürlich sind die äußeren Umstände, Wetter und Temperatur dafür entscheidend. Aber man kann sagen, dass ein Körper in Mitteleuropa an der Luft in ca. 40 Tagen verwest. Im Wasser dauert es doppelt so lange, in der Erde sogar achtmal länger. Das bedeutet, dass von einem menschlichen Körper, auch wenn er vergraben war, nach rund einem Jahr nur noch Knochen übrig sind. Ein Jahr, meine Damen und Herren. Das ist historisch betrachtet ein Nichts. Und übrigens auch bei den besten Proben über eine C14-Messung nicht festzustellen.“
Gemurmel machte sich unter den Studenten breit. Niemand traute sich, noch einen Vorschlag zu machen, um nicht auch so abgekanzelt zu werden.
„Ich denke aber auch, dass der Knochen deutlich älter ist“, erhob sich dann doch die zaghafte Stimme einer der Studentinnen, die vorhin noch die Augen verdreht hatten.
„Wieso bitte?“
„Wenn der Knochen in einem geschlossenen Grab eines so wichtigen Mannes liegt, dann ist es vielleicht der Teil eines Menschen, der in der Urphase des Doms bestattet wurde. Um Platz zu schaffen, werden Gräber ja immer wieder aufgelassen und etwaige Überreste ehrenvoll bei neuen Bestattungen untergebracht. Vielleicht war 1371 ein Jahr, in dem Gräber umgesetzt wurden, und das hier ist ein Beweis dafür.“
„Ein Beweis? Sie raten also, dass es so sein könnte? Haben Sie Anhaltspunkte, dass es eine solche Aktion im Jahre 1371 gab?“
„Das … hm … das müsste ich mal googeln.“ Sie zog ein rosafarbenes Smartphone mit einem silbernen Anhänger hervor. Scheinbar ein winziger Knochen, der von ihrem Telefon baumelte.
„Tun Sie das, aber bitte nicht jetzt.“ Der Professor nahm die Probe von der Flamme und schaute bedeutungsvoll in die Runde. „Jetzt erst einmal so wenig wie möglich Strahlung. Wir werden nun messen.“
„Und dann rechnen“, murmelte es aus der Gruppe der Studenten.
Andreas lachte in sich hinein: „Nein, das Gerät zeigt uns schon das Alter an.“
„Warum mussten wir dann den ganzen Mathequatsch machen?“
„Weil Sie hier eine ganzheitliche Ausbildung erhalten. Sie wollen doch begreifen, was das Ergebnis der Messung bedeutet und wie es zustande gekommen ist. Bitte ein bisschen mehr Forschergeist, meine Damen und Herren. Wenn Sie nicht für den Blick rechts und links Ihrer Arbeit offen sind, werden Sie niemals ein guter Historiker werden.“
Währenddessen hatte der Professor die Messung mittels eines Zählrohres – einer Apparatur, die den Zerfall der Moleküle detektierte – vorgenommen. Auf dem Bildschirm eines Notebooks erschien die ermittelte Jahreszahl: 300 – 450 Jahre.
Raimunds Blick glitt an den Studenten vorbei und zu Andreas. Auch dessen Augenbrauen waren hinter dem Brillengestell hochgezogen. Stumm hielten sie Zwiesprache und wurden sich schnell einig.
„Was zum …“
„Hier stimmt etwas nicht.“ Die gleichen Worte wie gestern, diesmal aber von Raimund, der verwundert auf das Notebook blickte. Doch er hatte so leise gemurmelt, dass die Studenten ihn nicht verstanden hatten.
„Na, das ist ja jetzt nicht gerade alt. Da sind wir irgendwo bei fünfzehnhundertund.“ Der eben noch so respektlose Student nutzte nun die Gelegenheit zu zeigen, dass er nicht schlechter gelegen hatte als seine Kommilitonen. In der Tat waren alle Vermutungen falsch gewesen.
Raimund, der bisher wie festgewurzelt dagesessen hatte, erwachte wieder zum Leben. „Das kann nicht sein. Da muss ein Fehler im Programm sein. Die Zählung war genau, aber vielleicht stimmt die Umrechnung nicht. Andreas, kannst du es einmal per Hand durchgehen?“
„Könnte ich“, brummte dieser beinahe abweisend.
„Ich starte die Maschinen neu und lass die Probe noch einmal messen“, fuhr der Professor gehetzt weiter.
Andreas nickte. Er fühlte die fiebrige Betriebsamkeit, mit der Raimund ans Werk ging. Zusammen mit dem australischen Post-Doc sah er zu, wie der Professor alle Geräte, die in seiner Reichweite waren, aus- und neu einschaltete, wie er die Probe noch einmal durchmaß und betroffen wieder auf das gleiche Ergebnis schaute. 300 – 450 Jahre alt.
Jerara überlegte kurz. Mit der Radiokarbonmethode war er in den Grundzügen natürlich vertraut, hatte sie aber noch nie selbst angewendet, geschweige denn alle Details im Kopf. Aber er wusste, dass die Messergebnisse bei ausreichender Probenmenge sehr genau waren und dass …
„Die Messung ist nutzlos“, rutschte es ihm heraus.
„Ja, natürlich!“, stöhnte Alphen auf. „300 – 450 Jahre alt! Das bedeutet gar nichts. Bei dieser Anlage beginnt der Messbereich erst bei einem Alter von 300 Jahren. Selbst wenn ich mir jetzt einen Finger abschneiden und ihn scannen würde, käme ein Alter von 300 Jahren dabei heraus. Verdammt, ich hätte gestern schon die Polizei benachrichtigen sollen! Oder zumindest den Dekan.“
Das Schuldgefühl kam wieder auf, weil er nicht auf sein Bauchgefühl gehört hatte.
Andreas legte ihm eine Hand auf die Schulter: „So schnell schießen die Preußen nicht! Ich denke schon, dass der Knochen alt ist. Immerhin wird sein Alter auf 300 BIS 450 Jahre angezeigt. Das heißt, dass er älter ist als jeder hier von uns. Wahrscheinlich aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, irgendwo zwischen 1550 und 1650.“
„Aber auch das kann nicht sein“, warf Jerara ein, „denn der Sarg war zu diesem Zeitpunkt schon seit 200 Jahren versiegelt gewesen und wir haben ihn gestern unberührt und verschlossen vorgefunden. Wie soll ein einzelner Knochen in ein seit 200 Jahren verschlossenes Grabmal gekommen sein?“
Alphen stand auf und klatschte in die Hände: „Gar nicht. Das kann nicht. Die Messung war schlecht. Weil es viel zu wenig Masse war, die wir analysiert haben.“
„Was hast du vor?“, fragte Andreas vorsichtig. Er ahnte Gefahr.
„Na, was wohl? Ich hole den Knochen und lasse ihn in Gänze durch die Radiokarbon-Messung laufen.“
Jerara stockte der Atmen. Nach Säurebad und Erhitzung würde dann nichts mehr übrigbleiben, um es noch auf anderem Wege zu analysieren. Sie hatten noch nicht bestimmt, ob es sich um einen männlichen oder weiblichen Knochen handelte, wie alt der Mensch geworden war oder was die Kratzmale auf der Oberfläche zu bedeuten hatten. Sie würden sich jeder Möglichkeit berauben zu erfahren oder auch nur zu erraten, was geschehen war.
„Ray.“ Andreas Stimme war leise. Sie war sonst auch sehr sanft, aber jetzt war sie fast hypnotisch. „Ray, lass das.“
Raimund hielt inne.
„Du weißt, dass du das nicht machen kannst. Du würdest es dir selbst nie verzeihen.“ Er zögerte, bevor er weitersprach. „Es ging dir gestern nicht gut und du bist völlig übernächtigt. Vielleicht ist dir irgendwo ein Fehler unterlaufen?“
„Ich …!“ Aber dann brach der Professor ab. „Du hast recht.“
„Okay ihr.“ Jerara trat vor die Studenten und wedelte mit den Armen, als wollte er Mücken verscheuchen. „Das war es. Show vorbei. Genug praktische Zeit für heute.“
Mit seiner Leichtigkeit schaffte er es, die Studenten aus dem Labor und zurück in die Bibliothek zu treiben, ohne dass den jungen Leuten aufgefallen wäre, dass ihnen das Highlight des heutigen Vormittags entgangen war.
Als er die Türe wieder schloss und zu Andreas zurückging, sagte der Professor gerade: „Wir lassen den Knochen durch die üblichen Analysen laufen und ganz am Ende nehmen wir noch ein Stück und messen das Alter erneut.“
Korla atmete auf. Das war eine Entscheidung, die er voll und ganz mittragen konnte. Und jetzt spürte er auch, dass dieses besitzergreifende innere Beben langsam verebbte. Er hatte schon mit vielen anderen Wissenschaftlern zusammengearbeitet, bevor er zu Alphen stieß. Sie alle hatten das eine oder andere Mal diese manische Getriebenheit gezeigt, doch nur bei Raimund hatte es ihn entsetzt. Weil er ihn als Kopfmensch kannte, überlegt und rational. So ein getriebenes Verhalten machte Korla Sorge, da er sich zwei Dinge nicht eingestehen wollte: Eigentlich war es keine Sorge, sondern pure Angst, dass sein Freund und Kollege vor seinen Augen zu zerfallen schien. Und andererseits konnte er den Gedanken noch nicht an sich heranlassen, dass auch aus seiner eigenen Leidenschaft für die Vergangenheit irgendwann einmal wie bei allen anderen Wissenschaftlern seiner Zunft Besessenheit werden würde. Denn wer nicht völlig für die Jagd nach der historischen Wahrheit brannte, war falsch in ihrem Beruf, der nur Berufung sein konnte, wenn man sich vom Wunsch nach Ruhm und Reichtum vollkommen verabschiedet hatte. Dann hätte er lieber Wirtschaftswissenschaften als Geschichte oder Archäologie studieren sollen.
Ob ein junger Kerl wie Jerara bei ihm sein würde, der ihn von Dummheiten abhalten könnte, wenn er begann, die Forschung über die Vernunft zu stellen? Er hoffte es.
Jetzt aber konzentrierte sich Andreas erst einmal auf die bevorstehenden Aufgaben. Und die erste war, noch einmal an eine gute Tasse Kaffee heranzukommen, denn der Tag würde sehr lang werden. Unter den wachsamen Augen von Raimund, der wieder in seine übliche Rolle als stiller und nachdenklicher Beobachter gewechselt war, nahm sich Andreas den Knochen vor und erklärte bei jedem Schritt ihrem Post-Doc, was er tat.
Der Abend senkte sich schon über die Stadt, als Andreas sich streckte, die Arme über den Kopf reckte und die Schultern kreisen ließ. Die neuen Laboratorien im archäologischen Institut waren schon perfekt eingerichtet, mit den aktuellsten Instrumenten, hell gestaltet und mit ergonomischen Arbeitsplätzen. Und doch würde er sich immer am Ort einer Ausgrabung, mit Pinsel, Spaten und Pinzette bewaffnet, unter freiem Himmel und auch gerne den unerbittlichen Moskitos ausgesetzt viel wohler fühlen als einen Tag in einem Raum eingesperrt zu sein.
Raimund ging es nicht anders, obwohl er die eine oder andere Gelegenheit genutzt hatte, um sich Bewegung und Freiraum zu verschaffen. Während seine zwei Mitarbeiter Partikelproben des Knochens genommen hatten, war er ins Dekanat gelaufen, um seinen Vorgesetzten endlich über das unerklärliche Fundstück zu informieren. Dekan Oberwinter nahm das Gehörte erstaunlich gelassen auf, so dass Raimund gar kein schlechtes Gewissen mehr hatte, den Fund nicht sofort gemeldet zu haben. Warum er so ein dumpfes Gefühl dabei gehabt hatte, konnte er sich heute schon nicht mehr erklären.
Danach hatte er geschaut, wie die sterblichen Überreste des Grafen von Arnsberg gelagert und erhalten waren. Ein wenig reumütig blickte er auf die Leiche des Adeligen. Da hatten sie nun seit über einem Jahr an diesem Projekt gearbeitet, hatten alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Erlaubnis zu bekommen. Und jetzt lag der Graf hier vergessen und aufs Abstellgleis geschoben, weil ihm ein einzelner Knochen den Rang ablief. In Gedanken versprach Alphen dem Grafen, dass er ihm in den nächsten Tagen seine volle Konzentration zuwenden würde. Aber ein wenig würden die Untersuchungen noch warten müssen.
Alphen kehrte nach diesem Besuch kurz in sein Büro zurück, um den Domprobst telefonisch über die Fortentwicklung der Forschungen zu unterrichten. Doch obwohl er damit dann alle seine Pflichten erfüllt hatte, fühlte er sich noch immer nicht ausgeglichen. Er kam sich selbst vor wie ein Läufer, der im Startblock hockte und auf den Beginn des Rennens wartete. In ihm pulsierte die gebündelte Energie und doch durfte er sie nicht entfesseln. Weil er noch kein Ziel hatte.
Er hatte sich vorgenommen, noch eine Runde über den Campus zu laufen, doch schon als er die ersten Schritte an der frischen Luft gemacht hatte, lenkten ihn seine Füße ganz automatisch zum Labor zurück. Er musste einfach wissen, wie weit seine Kollegen gekommen waren.
„Darf ich dir vorstellen? Enni.“
Andreas grinste und hielt den Knochen lässig in die Luft, nachdem Raimund zurückgekehrt war und nach Ergebnissen gefragt hatte.
„Ihr wisst, wer das ist?“, fragte der Professor perplex und setzte sich mit an den Labortisch, an dem auch Jerara hockte und noch letzte Eintragungen in den Forschungsbericht tippte.
„Ja und nein“, antwortete Andreas und legte dabei den Kopf mal auf die eine, dann auf die andere Seite. „Der Knochen ist alt, keine Frage. Aber nicht aus der Zeit Gottfrieds von Arnsberg. Wir haben Justus Degen von der forensischen Fakultät dazugezogen und auch er ist dieser Meinung. Was wir bisher herausgefunden haben, ist, dass es sich um eine Frau gehandelt haben muss. Der Struktur des Knochens nach war sie jung, auf keinen Fall über 20 Jahre alt, eher jünger. Wir konnten Mangelerscheinungen feststellen. Sie ist ein Mensch der frühen Neuzeit gewesen. Da ging es vielen Menschen sehr schlecht. Es gab Hungersnöte und Kriege und die Hexenverfolgung erreichte ihren Höhepunkt. Wer weiß, wo sie hineingeraten ist, dass man sie zerstückelt und in mehreren Einzelteilen bestattet hat.“
Alphen stutzte: „Das sind jetzt aber Vermutungen, oder?“
„Nur zum Teil. So gläubig und abergläubig, wie die Menschen damals waren, muss schon ein sehr besonderes Ereignis dazu geführt haben, dass nur ihr Oberschenkelknochen bestattet wurde. Und dann im Kölner Dom! Dem Prestigebau der katholischen Kirche schlechthin!“
Der Professor rollte diese Information auf seiner Zunge hin und her und fühlte ihr hinterher. Im Hintergrund seines Denkens klopfte eine Information an und wollte sich bemerkbar machen, aber noch passte sie nicht gänzlich in die Geschichte.
„Woher wisst ihr denn, um wen es sich bei dem Mädchen gehandelt hat? Immerhin habt ihr seinen Namen?“
„Enni ist nur ein Phantasiename“, erklärte Korla und nickte zu Jerara hinüber. „Die Diskussion zwischen Degen und ihm lief nicht besonders gut.“
„Ja, weil euer Dr. Degen ein hervorragender Rechtsmediziner sein mag. Aber er kann eure Sprache nicht“, echauffierte sich der Post-Doc, dessen breiter australischer Akzent dabei selbst deutlich zu hören war.
Korla nickte lächelnd: „Justus spricht reinstes Kölsch. Das war ein bisschen zu viel für Jerara. Er hat kein Wort verstanden. Wir haben uns dann auf Englisch als gemeinsame Sprache geeinigt und das hat eigentlich gut funktioniert. Das Wort, das am häufigsten gefallen ist, war Enigma. Und da wir ja hier wirklich vor einem Rätsel stehen, haben wir den Knochen dann Enni getauft.“
Ray schüttelte den Kopf. Dieses Vorgehen war so unwissenschaftlich! Aber liebevoll.
„Habt ihr sonst noch was?“
Jerara nickte und antwortete, während Andreas den Knochen vorsichtig einpackte und die Hülle beschriftete: „Ja, haben wir. Die Einkerbungen sind tiefer, als sie am Anfang erschienen. Sie müssen mit einer unglaublichen Krafteinwirkung entstanden sein. Und …“ Wahrscheinlich wollte er gar keine dramatische Pause einlegen, doch zum ersten Mal war der junge und sonst so coole Post-Doc offensichtlich von der Aufregung ergriffen, die Alphen von sich selbst nur zu gut kannte. „… und in diesen Rillen, die in Doppelreihen an gegenüberliegenden Seiten des Objektes liegen, waren Verschmutzungen, die nicht vom gräflichen Sarg stammen können. Denn der Sarg ist aus Sandstein und wir haben die Reste von Tampera darauf gesehen. Das ist es aber nicht, was sich in den Knochen gepresst hat.“ Alphen war beeindruckt, dass Jerara bei diesen miesen Lichtverhältnissen gestern die Überreste der Ölfarbenmalerei auf dem Sarkophag überhaupt bemerkt hatte.
“Was habt ihr denn nun gefunden?“, fragte er ungeduldig, um sich nicht anmerken zu lassen, wie stolz er auf seinen akademischen Zögling war.
„Trachyt.“ Das Wort klang schon beinahe triumphierend.
Ray stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte das Kinn in seine Hände, fuhr sich grübelnd mit den Fingern über die Wangen.
„Trachyt ist nichts Ungewöhnliches im Kölner Dom. Viele Teile sind daraus gebaut, vor allem Reliefs und Schmuckelemente und statisch beanspruchte Bauteile. Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts wurde er von den Steinbrüchen am Drachenfels nach Köln geschafft für den Bau der Kathedrale. Es lässt sich gut bearbeiten. Wahrscheinlich ist die Verschmutzung dadurch zu erklären, dass sich der Staub vom Dom am Knochen abgesetzt hat.“
Andreas tauchte aus dem Lager auf, in das er den Knochen verbracht hat, und stieg wieder in die Überlegungen mit ein: „Das habe ich auch erst gedacht. Aber der Trachyt lag nicht einfach nur auf dem Knochen. Er war fest in die Riefen eingebracht. Da hätte man den Knochen schon mit Kraft über eines der Reliefs gezogen haben müssen, damit das Trachyt so darin hängenbleibt. Ein eher ungewöhnlicher Umgang mit einem Knochen, den man dann im Dom zur Ruhe legte.“
„Es wird eine realistische Erklärung dafür geben“ versuchte Raimund die Skepsis fortzuwischen. „Mir fallen Dutzende von Möglichkeiten ein. Vielleicht war sie ein Opfer der Inquisition. Du hast eben selbst gesagt, dass die Hexenverfolgung ihren Höhepunkt erreicht hatte. Und wir wissen alle um die Gewalt, mit der vermeintliche Hexen gefoltert wurden. Wer weiß, mit welchen Instrumenten die Inquisition ihr zu Leibe gerückt ist. Vielleicht mit steingefertigten Keilen oder Messern. Oder sie war als Leibeigene in den Steinbrüchen beschäftigt gewesen und hatte einen Unfall. Oder möglicherweise war das Mädchen in der Dombauhütte bei den Steinmetzen gewesen und ist dort mit einem der Werkzeuge verletzt worden, so schwer, dass das Trachyt bis in ihren Knochen eindrang und sie daran starb. Ich könnte ewig so weiter machen mit Erklärungen.“
Andreas nickte, aber voller Zweifel: „Ja, das könntest du. Und dennoch würde nicht eine deiner Theorien erklären, wie der Oberschenkel eines unbekannten Mädchens ausgerechnet in eine Grabstätte im Kölner Dom kommt. In einen Sarkophag, der zu dem Zeitpunkt schon seit zweihundert Jahren verschlossen war und der auch noch immer versiegelt war, als wir ihn öffneten. Oder was die Einkerbungen tatsächlich zu bedeuten haben.“
„Was glaubt ihr denn, was geschehen ist?“
Andreas zuckte nur die Achseln, mit zusammengepressten Lippen, dem besten Zeichen, dass er sich über seine Unwissenheit maßlos ärgerte. Jerara aber zeigte sein typisches breites Grinsen: „Wie sie in den Dom gekommen ist, weiß ich nicht. Aber wenn doch die Steine vom Drachenfels kommen …, dann wären die Einkerbungen vielleicht damit zu erklären, dass der Drache ein bisschen an ihr geknabbert hat.“ Und lachend klappte er das Notebook zusammen.
Raimund starrte ihn wortlos an, zu perplex, um nur irgendetwas sagen zu können.