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Kapitel II
ОглавлениеDie nächsten Tage boten Raimund keine Gelegenheit, weiter über „Enni“ nachzudenken. Wie er es im Stillen Graf von Arnsberg versprochen hatte, machten er und sein Team – mit Hilfe aller Freiwilligen, die die entsprechende Erfahrung mitbrachten – sich mit Feuereifer daran, die Leiche des Grafen zu untersuchen. Sie analysierten seinen Mantel, der anders als der Körper nahezu vollständig intakt war und kaum Spuren von Zerfall zeigte. Ganz anders als die sterblichen Überreste, die sie durch Röntgen- und MRT-Geräte schoben, prüften, maßen, katalogisierten. Von morgens bis abends waren sie damit beschäftigt, dem Leichnam alle denkbaren Informationen abzuringen, die Lebensgewohnheiten des Grafen, seine Vorlieben, seine Krankheiten. Vor allem aber wollten sie herausfinden, wieso die Leiche dieses hohen Herren, der für die ewige Ruhe in den Dom gebettet worden war, trotz Präparation und luftdichtem Sarg teilweise zerfallen war. Rays gesamtes Denken und Handeln kreisten für Tage nur um diese Fragen.
In den Nächten aber, wenn ihn normalerweise seine Erinnerungen an Sabine wachhielten, waren seine Gedanken nun erfüllt von „Enni“. In seiner Vorstellung hatte er schon ein Bild von ihr: Eine schmächtige blonde 16-jährige, deren Haar stumpf war und der Blick ihrer Augen leer. In diesem Alter hatten die Mädchen ihrer Zeit normalerweise bereits geheiratet, waren mehrfache Mutter und erwachsen. Sie aber war schon immer anders gewesen, einsamer, irgendwie unsichtbar für die Gesellschaft. Deshalb hatte sie keinen Mann abbekommen, hatte gehungert und gedarbt, und deshalb hatte sie auch niemand vermisst, als der Tod sie dann in welcher Art auch immer ereilt hatte. Natürlich waren das zumeist Vermutungen, aber Ray lag bei dieser Art von Rätselraten immer ganz nahe bei der Wahrheit. Doch diesmal fehlten ihm so viele Informationen, dass auch er nur Fragmente erraten konnte. Gerade deshalb konnte er sich kaum losreißen von der Frage, was mit Enni geschehen war. Zumindest hatten sich der Graf und sie nicht gekannt, denn die erneute C14-Messung von Enni und eine Doppelblindprobe bei Gottfried von Arnsberg hatten vollkommen unterschiedliche Daten ergeben. Das bewies zumindest, dass die Geräte funktionierten und er schon bei der ersten Messung nicht schlecht gearbeitet hatte.
Es war inzwischen über eine Woche seit der Graböffnung Gottfrieds vergangen, als Raimund sich ertappte, dass er mit Andreas in seinem geräumigen und mit allerlei Fundstücken vollgestopften Professorenbüro im Institut stand und nicht ein Wort von dem begriffen hatte, was sein Mitarbeiter ihm gesagt hatte. Er musste Korla wohl mit stumpfen Augen angestarrt haben, denn der hob die Stimme ein wenig.
„Hast du verstanden, was ich gesagt habe?“
„Ja, ja, natürlich.“ Aber die Stimme des Professors war abwesend und auch sein Blick irrlichterte von links nach rechts.
„Ich hab dir gerade gesagt, dass wir unumstößliche Beweise dafür haben, dass der Mantel, in den Gottfried gehüllt war, das Gewand von Jesus Christus war!“
„Jaja, ich weiß. Damit habe ich gerechnet, Andreas. Sehr schön. Nur weiter so“, murmelte Raimund und begann dann, im Kreis um seinen Schreibtisch zu laufen.
Erstaunt und vollkommen baff starrte Andreas seinen Freund und Kollegen zwei Runden lang an, denn natürlich war seine Behauptung über den Mantel vollkommen aus der Luft gegriffen gewesen. Dann packte er den Professor am Arm und schüttelte ihn sanft: „Ray?! Du hast damit gerechnet, dass wir das Gewand unseres Herrn finden? Komm schon. Wach auf!“
Tatsächlich zwinkerte Raimund mit den Augen, als würde er aus einem tiefen Schlaf erwachen, und befreite sich unwirsch aus Andreas´ Griff.
Mit den Worten „Was soll denn das?“ schüttelte er Andreas ab, um ihn dann anzuschauen. Es schien, als würde er ihn zum ersten Mal heute wirklich wahrnehmen, obwohl sie sich schon beinahe 20 Minuten unterhalten hatten.
„Das sollte ich dich fragen! Was ist denn los mit dir? Seit wir diesen blöden Knochen gefunden haben, bist du gar nicht mehr du selbst.“
Raimund ließ sich auf den Bürostuhl sinken. Er hatte schon Schmerzen von den vielen Kreisen, die er in den letzten Tagen um seinen Schreibtisch gedreht hatte. Es konnten aber auch die ersten Anzeichen sein, dass die Jahre der Feldforschung, das Knien in den Ausgrabungsstätten, das feuchte Klima in Peru und die grausame Hitze in Ägypten ihren Tribut forderten.
„Dieser Knochen … Enni … ich bekomme den Kopf davon nicht frei. Es ist wie verhext!“ Mit der Hand schlug er auf die Papiere vor sich, aber was seine Worte viel deutlicher unterstrich war der Ausdruck in seinen Augen.
„Du bist ja besessen!“, entfuhr es Andreas.
„Ja, besessen! Wie noch nie in meinem Leben. Und ich weiß nicht mal wieso!“ Dem Enthusiasmus mischte sich eine Spur Verzweiflung hinzu. Ray drückte sich wieder aus seinem Stuhl hoch und richtete sich auf.
„Wir sind Wissenschaftler. Dann lass uns das Problem wissenschaftlich angehen. Was regt dich an dem Fund so sehr mehr auf als an anderen?“
Raimund musste sich mit Gewalt zwingen, nicht wieder seinen Bahnen rund den Tisch aufzunehmen. Er wollte sich nicht von seinem Instinkt leiten lassen, sondern von seiner bewussten Seite.
„Die Unmöglichkeit seiner Existenz. Er dürfte gar nicht sein. Nicht ohne den Rest des Körpers und nicht an dem Ort, an dem wir ihn gefunden haben.“
Andreas lachte auf: „Das hat nichts mit Existenz zu tun. Du bist nur sauer, dass du das Rätsel nicht lösen kannst. Dass du besiegt zu werden drohst von einem ömmeligen Knochen.“ Er beugte sich seinem väterlichen Freund geheimnisverschworen zu und flüsterte: „Weißt du, was ich glaube? Du musst mal wieder Expeditionsluft schnuppern. Du warst zu lange im Büro, um noch klar denken zu können. Eine Nacht unter den Sternen und ein echtes historisches Rätsel wären genau das, was dir jetzt gut tun würde.“
Still und in sich gekehrt ließ Ray die Worte auf sich wirken. Dann traf er seine Entscheidung: „Du hast recht. Pack deine Sachen. Kleine Feld-Ausrüstung für einen Tag. Ich ruf Jerara an; er will bestimmt mitkommen. In einer Stunde treffen wir uns an meinem Auto. Ich klär die Abwesenheit mit dem Dekan. Dann fällt meine Vorlesung heute Nachmittag eben aus.“
„Ja, so kenne ich dich! Auf geht´s, Professor!“ Andreas klopfte Ray freudig und anerkennend auf die Schulter, dann drehte er sich auf dem Absatz um und stürmte aus der Tür. Vielleicht hatte er einen kleinen Forschungstrip nach beinahe acht Monaten ohne Außeneinsatz genauso nötig.
Eine Stunde später war Raimund ein anderer Mensch, was mit Sicherheit auch an seiner Kleidung lag. Im Anzug, den sein Dekan ihn während der Vorlesungen wenigstens hin und wieder zu tragen gebeten hatte, fühlte er sich immer kostümiert. Dies sei einem gut situierten Professor von Ende 50 angemessen. Aber die Person, die er dann darstellte, war er nicht. Das hier, das war er. Bergwanderschuhe, Trekking-Hose, ein kariertes Flanellhemd, die Sonnenbrille in die Haare geschoben. Die Sonne wärmte die Karosserie seines Wagens und auch seinen Rücken. Die Luft war von Vogelgezwitscher erfüllt und schmeckte würzig nach den vielen Stunden im Büro. Das bedeute für ihn Leben. Glückseligkeit. In sich ruhend und leise lächelnd lehnte er an seinem Auto und sah den Weg hinunter, wartete auf seine Begleiter.
Die kamen in diesem Augenblick hinter der Biegung in Blickweite und beide erfüllten die von den Studenten immer wieder kolportierten Klischees zur Gänze. Jerara hatte sein dichtes schwarzes Haar lang wachsen lassen, in Dreadlocks hing es ihm bis weit über die Schulterblätter und sein Oberkörper war von so wohldefinierten Muskeln durchzogen, dass er es unter keinem Hemd oder T-Shirt verbergen konnte. Er trug zu seinen festen Turnschuhen eine Blue Jeans und darüber nur ein Shirt, dessen Ärmel so kurz waren, dass sie kaum die Schultern bedeckten und seine starken Armmuskel in der Sonne glänzten. Ray grübelte darüber nach, ob man es ein tank top oder ein muscle shirt nannte, und stellte einmal mehr fest, dass er in Alltagsdingen doch immer öfter den Anschluss verlor. Ein paar jüngere Studentinnen gingen an Jerara vorbei. Er nickte ihnen zu und sie fingen an, albern zu kichern. Das hatte Ray nun schon öfter beobachtet. Der junge Post-Doc war nicht auf eine kraftvolle Art attraktiv, sondern auch intelligent, fleißig und sein englischer Akzent beim Sprechen gab ihm eine ganz charmante Note – ein Frauenschwarm eben, wie Raimund längst festgestellt hatte. Umso mehr fragte er sich, wieso er Jerara nie mit einem Mädchen gesehen hatte. Auswahl hatte er ja zur Genüge.
Andreas genoss diese Art von Aufmerksamkeit seltener, obwohl er jetzt gerade auch ein Hingucker war. Er trug wie sein Professor Bergschuhe, ein einfaches schwarzes T-Shirt, dazu aber kurze Kaki-Shorts, dessen mit Reißverschluss zu verlängernde Beine sich mit Sicherheit im Rucksack befanden, den er bei sich trug. Dieser Rucksack hatte die Größe eines Modells für mehrtägige Bergtouren und war so groß, dass er rechts und links hinter Andreas´ spindeldürrer Gestalt hervorschaute. Was er darin mit sich führte, wusste nur Korla allein. Selbst bei größeren Expeditionen überraschte er Ray immer wieder damit, Dinge hervorzuzaubern, die niemand in einem Rucksack vermuten würde. Man war immer gut dran, wenn Andreas und sein Rucksack zu einer Expedition mitkamen.
„Das ist Ihr Auto, Professor?“ Es war eine der wenigen Gelegenheiten, in denen Jerara Ray direkt ansprach. Er hatte großen Respekt vor dem Wissenschaftler, der schon so viel gesehen hatte und so viel mehr wusste. Doch der Wechsel zwischen „Du“ und „Sie“ bereitete ihm Schwierigkeiten. Auch wenn Raimund ihm das „Du“ angeboten hatte und ihn selbst duzte, konnte Jerara sich nicht dazu durchringen. Es widersprach seiner Auffassung von Respekt gegenüber der Väter-Generation so sehr, dass es ihm nicht möglich war, über seinen Schatten zu springen.
„Ja. Ein Schmuckstück, nicht wahr?“ Der Professor tätschelte liebevoll die Karosserie und ging auf die Fahrerseite, in der Erwartung, dass seine Begleiter es sich auch ohne Aufforderung in seinem Wagen gemütlich machen würden.
„Was war das denn mal?“, flüsterte Jerara leise Andreas zu, als sie weiter auf das Auto zugingen. Seine Schritte waren ein wenig zaghaft, ganz so, als müsse er sich einem lauernden Wasserbüffel nähern.
„Ursprünglich war das mal ein Landrover Defender. Aber davon ist nicht mehr viel übrig. Inzwischen hat Raimund so viele Extras einbauen lassen oder selbst eingebaut, auch von anderen Firmen, dass man eigentlich nicht mehr behaupten kann, dass es ein Landrover ist. Das überbreite Fanggitter vorne zum Beispiel ist von Ford und der Rüssel von Toyota.“
„Rüssel?“ Jerara kratze sich am Kopf. Seine Sprachkenntnisse waren exzellent, doch einen Rüssel kannte er nur von Tieren.
„Der …“ Andreas überlegte. „Der Kamin oben auf dem Dach. Andere nennen es auch Schnorchel. Wenn wir durch einen Bach fahren, saugt er Luft für den Motor an, ohne dass Wasser eindringt.“
Der Post-Doc blieb vor dem Wagen stehen und schaute ihn verwundert an. Das hätte er von Professor Alphen nicht erwartet. Vor ihm erhob sich ein Kollos von einem Geländewagen, der beinahe gewalttätig auf der Straße lag. Die Karosserie war eckig und überbreit und saß auf einem extrem hohen Radstand. Die Reifen, die der Professor verbaut hatte, hatten ein so tiefes und merkwürdiges Profil, dass sie Abdrücke wie Panzerketten hinterlassen mussten – und wahrscheinlich hatten sie auch einen solchen Gripp. Damit sollte es eine Leichtigkeit sein, schlammige Flussbetten zu durchqueren oder den Himalaya hinaufzufahren. Und auch der Rest des Autos war mehr als nur einen Blick wert. Auf dem Dach war nicht nur der Rüssel zu sehen, sondern daneben reihten sich vier Suchscheinwerfer aneinander. Sie saßen auf Kugelgelenken und konnten in alle Richtungen gedreht werden. Je eine Seilwinde vorne und hinten, eine Reling mit Spanngurtösen rund um das Dach, zwei Federantennen und ein Ersatzreifen auf der Heckklappe vervollständigten das Bild eines rollenden Abenteurertraumes. Bestimmt gab es im Inneren noch mehr Besonderheiten; GPS, Navi und ähnliches sollten da schon Standards sein. Das einzige, was Jerara nicht einordnen konnte, war die Farbe des Geländewagens. Es musste wohl mal ein Grün oder Beige gewesen sein oder vielleicht auch Blau? Das war aber unter der Schlamm-Dreck- und auch Rost-Schicht nicht mehr zu erkennen. Vielleicht war das Absicht? Oder chic?
Andreas öffnete die hintere Tür, schob seinen Rucksack auf die Bank durch und schwang sich hinterher, während Jerara über die umlaufende Trittstufe auf den Beifahrersitz kletterte.
„Na endlich. Macht schon, wir haben viel vor“, maulte Raimund leichtfertig, doch es war gutmütiger Spott. Er brannte wieder, aber es war nicht diese fiebrige Getriebenheit, sondern einfach nur pure Lebensfreude. Mit diesen Worten warf er den Motor an und bescherte damit Jerara die nächste Überraschung. Der Post-Doc hatte sich schon darauf eingestellt, von einem ohrenbetäubenden Brüllen überwältigt zu werden, sobald der Professor die Zündung drehte. Ein Monster, wie es dieser Geländewagen war, musste einfach röhren und dröhnen. Stattdessen aber surrte die Maschine, zwar satt und kraftvoll, aber so zurückhaltend, dass eine Unterhaltung in der Innenkabine noch immer bequem möglich war.
Andreas beugte sich nach vorne durch die Sitze hindurch: „Das habe ich mir für den Schluss aufgehoben. Den Motor hat Ray selbst eingebaut. Es ist eine frisierte Version einer Porsche-Maschine für Sportwagen. Der Zug ist unglaublich und das Geräusch eine Wohltat. Als der alte Motor noch dringewesen war, mussten wir Ohrenschützer tragen.“
Raimund grinste seine beiden Begleiter stolz an, dann lenkte er das Ungetüm vom Parkplatz.
„Wo fahren wir denn eigentlich hin“, fragte Jerara, der die Blicke der übrigen Verkehrsteilnehmer genoss. Um die Uni herum hatte er nicht so viele erstaunte Passanten gesehen – offensichtlich kannte man hier den Professor und sein Gefährt. Aber je weiter sie durch die Stadt und in Richtung Autobahn fuhren, desto öfter drehten sich Köpfe nach ihnen um.
„Ich habe mir gedacht“, sagte der Professor und zog den Wagen umsichtig von der Beschleunigungsspur auf die rechte Fahrbahn der Autobahn, „dass wir uns mal anschauen, wo das Trachyt herkommt.“
„Also fahren wir zum Drachenfelsen?“
„Drachenfels,“ korrigierte ihn der Professor, der diesen Namensfehler schon öfter – auch bei den Einheimischen – gehört hatte. „Aber ja, genau das. Das soll aber keine Expedition werden, sondern einfach nur ein Ausflug. Um einmal die Atmosphäre aufnehmen zu können. Um zu schauen, wo unsere Enni ihre letzten Stunden verbracht haben könnte.“
Jerara beobachtete das Navigationsgerät und immer wieder die Straßenschilder. Australien war ja so viel weiträumiger als Deutschland. Was man hier schon als eine große Distanz betrachtete, war für ihn kaum mehr als ein Katzensprung. Sie rauschten für sein Empfinden nur kurze Zeit über eine Autobahn, die dreispurig auf beiden Seiten ausgebaut war – wohl um die Massen an erwarteten oder erhofften Besucherströmen aufnehmen zu können – und auf der sie sich aber ganz allein bewegten. Dann tauchten sie ein in ein Städtchen, dem anzusehen war, dass die Häuser in der prosperierenden Zeit nach dem Krieg, irgendwo in den 50er und 60er Jahren, errichtet worden waren. Blaue Schilder wiesen großzügige Parkflächen aus, die sie hinter sich ließen, bis der Professor einen Parkplatz gefunden hatte, der ihm offensichtlich zusagte. Er schwenkte den schweren Wagen herum, um ihn eine kleine Stichstraße herunterrollen zu lassen, und Jerara erhaschte links von ihnen einen Blick auf eine alte Zuglok in schmutzigem Grün. Dann lenkte Raimund auf die Schotterfläche, um im Schatten weniger Bäume zu parken, und die Lok verschwand hinter einer Werbewand.
„Was war das gerade? Eine alte Dampfeisenbahn?“
Andreas stieg aus und angelte seinen Rucksack von der Rückbank, während der Professor ein Parkticket zog.
„Nicht ganz.“ Korla rutschte sich die Träger zurecht und zog die Arretierungen an. „Eine Zahnradbahn.“
Die Fragen in Jeraras Gesicht waren offensichtlich. Während die drei Männer über den Parkplatz und auf den Betonbau, in dem die Bahn untergebracht war, zugingen, verfiel Raimund in seinen Professorentonfall und dozierte: „Das hier, der Drachenfels, ist eines der beliebtesten Ausflugsziele in Deutschland und liegt bei internationalen Touristen wahrscheinlich auf Platz drei hinter Kölner Dom und Oktoberfest. Schon seit weit über 100 Jahren gibt es hier Ausflugslokale und Tourismus. Besonders die Briten haben um die Jahrhundertwende den Berg für sich entdeckt. Rheinromantik sagt dir ja als Stichwort bestimmt etwas. Und da die Gesellschaft immer mondäner und bequemer wurde, hat man sich überlegt, wie der Berg besser erschlossen werden konnte. Früher ist man mit Eseln hochgeritten oder in Kutschen gefahren. Aber das war viel zu wenig für den Ansturm. Also ist ein pfiffiger Mensch darauf gekommen, eine Bahnstrecke einzurichten. Da die Dampfloks dieser Zeit aber immer Gefahr liefen, auf der steile Strecke abzurutschen, hat man ein Zahnradsystem angewendet, das heute noch immer fährt. Was du hier siehst …“ Sie hatten inzwischen den Waschbetonbau erreicht, unter dessen Dach die kleine hutzelige Lok stand. „… ist das erste Exemplar, das zum Einsatz gekommen ist.“
An der Lok vorbei konnten sie in den dichten Wald schauen, der den Berg besetzte, und den asphaltierten Weg sehen, der aber schon nach der ersten Biegung im Dickicht verschwand. Einige tapfere Wanderer machten sich im Moment dazu auf, den Pfad hinaufzugehen, während eine offensichtlich müde und etwas auseinandergerissene Schulklasse gerade den Rückweg abwärts geschafft hatte. Mit roten erhitzten Gesichtern, die T-Shirts am Körper klebend, tröpfelten sie vom Weg und sammelten sich unter dem Vordach. Weit hinten kamen erst die letzten Nachzügler und eine übergewichtige Lehrerin zum Schluss.
„Scheint ja ein Riesenspaß zu sein“, stichelte Jerara gutmütig, der sich nicht vorstellen konnte, dass der Aufstieg wirklich zu anstrengend sein sollte, vom Abstieg gar nicht erst zu reden.
„Ist es auch. Aber da wir die gesamte Atmosphäre aufnehmen wollen …. Wir fahren bis zur Mittelstation. Das Institut lädt euch ein.“
Der Professor schob seine beiden Begleiter durch die abgekämpften und wenig begeisterten Schüler in die Talstation und kaufte schnell drei Tickets, denn die nächste Abfahrt sollte schon in wenigen Minuten erfolgen. Neugierig lugten Andreas und Jerara um die Schultern der übrigen Passagiere herum. Andreas war selbst seit etlichen Jahrzehnten nicht mehr hier gewesen. Inzwischen hatte man eine schicke Wartehalle gebaut, in der in Schaukästen ein bisschen über Erschließung und Technik ausgestellt war – sogar ein Teilstück der ersten Streckenführung mit einem alten Zahnrad war offen ausgestellt und konnte angefasst werden. Hinter den Glastüren aber, die mit Ticketscannern wie am Flughafen ausgestattet waren, wartete das eigentliche Herzstück – die Zahnradbahn. Zurzeit war nur einer der grünen Wagen zu erkennen, aber das Rattern ließ darauf schließen, dass ein weiterer Wagen von oben im Moment eintraf. Und tatsächlich schob sich das urtümliche Gefährt gerade unter das Hallendach. Nachdem die Passagiere von Innen ausgestiegen waren, eroberten die Wissenschaftler eine Viererbank für sich. Raimund fuhr rückwärts, er freute sich auf den Ausblick, den er bei der hochsteigenden Fahrt über den Rhein erhaschen würde. Seine Begleiter saßen in Fahrrichtung, fachsimpelten über die Technik von Zahnradbahnen, witzelten über die offenen Fenster, aus denen wegen der Sommerhitze die Scheiben komplett ausgebaut waren, und hatten Spaß an dem Jahrhundertwendecharme, den der Wagen mit seinen roten Lederpolstern und den Blechschildern verströmte. Durch den dichten Wald hindurch und an steilen Felshängen vorbei schob sich der Waggon kaum schneller als mit 10 km/h den Berg hoch. Andreas verstand, wieso das Gebiet nach über 100 Jahren noch immer ein beliebter Ausflugsort war. Das viele Grün, die Natur, die wilden Felsen zu sehen, taten seiner Seele gut. Auch wenn er noch so oft den Studenten predigte, dass ein Historiker oder Archäologe sehr viel Zeit in Bibliotheken und am Schreibtisch zu-bringen würde, so war er selbst doch nur glücklich, wenn er die Mauern und Räume der Zivilisation hinter sich lassen konnte und in der freien Natur unterwegs war. Die Welt fühlte sich dann offener an, weiter. Lebendiger. Er konnte die jungen Leute nicht verstehen, die stundenlang vor ihren Bildschirmen saßen und daddelten.
Nach nur wenigen Minuten trafen sie an der Mittelstation ein und stiegen aus. Vor ihnen erhob sich Schloss Drachenburg. Sie ließen sich mit der Handvoll Besucher, die hier ebenfalls ausstiegen, über die kleine Brücke und durch den Vorhof treiben, um durch einen steil ansteigenden, parkähnlichen Garten auf das Schloss zuzugehen.
„Das ist aber ganz stark Disneyland“, rutschte es Jerara heraus, als sie vor den Stufen des Schlosses standen.
Mit der Aussage hatte er nicht ganz unrecht. Das Schloss war bestens erhalten und restauriert. Von außen wirkte es, als sei das Gebäude gerade erst errichtet worden. Keine Verwitterungsspuren, keine Wetterseite, nicht einmal eine schmutzige Fensterscheibe war zu entdecken. Weiß und ziegelrot hob es sich gegen den blauleuchtenden Sommerhimmel ab. Es war ein strahlender Tag und gut gelaunt schlenderten die Wissenschaftler durch die wenigen freigegebenen Räume des Schlosses, um sich herrschaftliche Schlafstellen, Freitreppen und Wandgemälde anzuschauen.
„Nein, das gibt´s ja wohl nicht!“, stöhnte Andreas leicht beschämt auf, als sie danach außen um das Schloss herum zu einer Gartenterrasse gingen. Hier standen tatsächlich zwei goldene Hirschstatuen. Die Tiere schienen sich in Positur geworfen zu haben, mit zurückgelegtem Kopf und prächtigem Geweih waren sie in dem Moment, da sie majestätisch in den Wald röhren wollten, vom Bildhauer festgehalten worden.
„Die Erinnerung daran hatte ich wohl verdrängt. Wie kitschig ist das denn!?“
Raimund grinste über die rechtschaffende Empörung, die sich bei seinem Begleiter Luft machte. Es war natürlich verständlich, dass die Stiftung das Schloss und das angrenzende Gelände so erhalten wollte, wie es original war. Aber diese Hirsche hatten schon eine recht peinliche Note.
„Dann warte mal ab, bis wir in die Nibelungenhalle kommen“, schmunzelte er, ließ dann aber seinen Blick schon wieder taxierend über den angrenzenden Wald wandern.
„Ich glaube, hier gibt es nichts Interessantes zu sehen. Was haltet ihr davon, wenn wir uns die Drachenwelt anschauen und dann hoch zum Gipfel wandern? Ich möchte mal sehen, ob noch ein paar Trachyt-Abbrüche zu entdecken sind.“
Die sogenannte Drachenwelt, zu der Raimund seine Begleiter jetzt einige Meter abwärts führte, war eine Komposition von Attraktionen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Ein Kuppelbau erhob sich bald rechts von ihnen und Jerara fragte, wozu denn an dieser Stelle ein Observatorium errichtet worden war.
„Das ist kein Observatorium, sondern eine Ausstellung.“
Schnell bezahlte Raimund auch hier den Eintritt und drückte seinem Post-Doc ein Faltblatt in die Hand, das an der Kasse ausgelegen hatte. Wie erwartet steckte der sofort die Nase hinein, wie bei allem, was man lesen konnte. Raimund zwinkerte Andreas zu, der wusste, was bevorstand, und sah zu, wie der Professor den jungen Mann, der noch immer las, über die Türschwelle schob.
Ein runder Raum, einer Kirche nicht unähnlich, eröffnete sich vor ihnen und kaum waren sie wenige Schritte nach links gegangen, als scheppernd aus verborgenen Lautsprechern martialische Musik ertönte.
Jerara riss den Kopf hoch und schaute sich erschrocken um. Schnell begriff er, dass ihr Betreten von Bewegungsmeldern registriert worden war. Dadurch war eine CD in Gang gesetzt worden. Blechern und laut dröhnte Wagners Walkrenritt durch die Halle.
„Das meinen die nicht ernst?!“, entfuhr es dem Australier.
„Nein, nicht ganz. Aber es passt doch.“
Mit deutlichem Kopfschütteln ging Jerara im Uhrzeigersinn durch die Halle, an deren Wände schwere, düstere Ölgemälde hingen und standen. Alle beschäftigen sich mit der Nibelungensage und dem Siegfried-Thema. Der Künstler dieser Werke hatte es teilweise zu gut gemeint, denn ein Regenbogen stach aus der Düsternis eines Bildes hervor, weil er mit Goldstaub überhaucht war. In einer Gruft gegenüber des Eingangs steckte ein Schwert in einem Stein und man brauchte keinen Abschluss in Geschichtswissenschaften, um zu erahnen, dass es Excalibur darstellen sollte. Wobei das legendäre Schwert zu einer ganz anderen Sagenwelt gehörte. Daneben lag ein Drache und mit breitem Grinsen lasen die Wissenschaftler, dass dieses „Ungetüm“ aus Blech gefertigt war und Maul und Flügel sich früher bewegt hatten, indem sie mit einem Nähmaschinenmotor angetrieben worden waren. Belustigt wandte sich Andreas ab. Sein Blick fiel auf die Mitte des Raumes. Der Boden wurde dominiert von einem Hexagramm, dem sechszackigen Stern, der Himmel und Hölle darstellte. Um ihn herum rankte sich Midgard, die Schlange der nordischen Sagen. Alles glitzerte im bunten Sonnenlicht, das sich durch die gläsernen Sternbildfenster brach, die in die Kuppeldecke eingelassen waren. Was ihm aber am deutlichsten auffiel, war der Schrank, der gegenüber der Gruft stand und den Eingang optisch vom Ausgang trennte. Im typischen Biedermeier-Stil mit dunklem Holz und einem Spiegel auf der linken der zwei Türen wirkte er vollkommen deplatziert und drohte, die Wirkung der Midgard-Schlange zu rauben. Obwohl … Raimund und Jerara schienen sich nicht daran zu stören, sie hatten ihn wohl nicht einmal bemerkt. Vielleicht war Andreas der Schrank auch nur aufgefallen, weil die Wohnung seiner Großeltern mit ähnlichen Stücken vollgestopft gewesen war und nie ein Möbel zum anderen gepasst hatte. Persönliche Prägung. Davon konnte sich niemand freisprechen. Deshalb brachen Raimund und er auch immer gemeinsamen zu ihren Expeditionen auf, weil sie die Welt aus verschiedenen Gesichtspunkten betrachteten. Und gemeinsam mehr sahen als andere.
Zu dritt beendeten sie den kurzen Rundgang durch die nordische Sagen- und Götterwelt, um sich dann vom Rundweg aus der Kuppelhalle heraus zur Drachenhöhle leiten zu lassen.
„Achtung, Gefahr für dich“, rief Raimund mahnend zu Andreas, der auch schnell reagierte. Sie gingen auf einen künstlichen Tunnel zu, dessen Höhe laut Warnschild 1,70 m betragen sollte. Aber Andreas musste den Kopf sehr tief zwischen die Schultern ziehen und gebückt gehen, um seinen Begleitern folgen zu können. Wenigstens war der Tunnel, der sich um Ecke und Ecke wand wie eine Schlange, fast einen Meter breit, so dass er nicht mit seinem Rucksack anstieß. Winzige Löcher und Aussparungen wie Schießscharten waren in den Tunnel eingelassen, damit es nicht ganz dunkel war. Auch spärliche Lampen, mit künstlichen und echten Spinnweben und trockenem Blättergeäst verdeckt, gab es. Doch alles in allem konnte sich Andreas gut vorstellen, dass Kinder oder klaustrophobische Menschen hier das Grausen bekommen konnten. Schon nach zwei Biegungen war der Eingang nicht mehr zu sehen und die Windungen nach vorne machten es unmöglich abzuschätzen, wie lange sie noch durch die drückende Dämmerung abwärts straucheln mussten. Die nächste Biegung war steil, fast ein 90-Grad-Winkel und Raimund vorne ging nicht schnell genug. Andreas musste stehen bleiben und bemerkte, dass er nicht mehr sicher war, ob der Eingang rechts oder links von ihm lag und wie weit er entfernt war. Er konnte seinen Atem hören, aber auch spüren, dass er schnell und heiß war. Und er ärgerte sich. Platzangst war für ihn nie ein Thema – konnte es nicht sein, wenn er bei Ausgrabungen effektiv arbeiten wollte –, aber dieser dunkle künstliche Tunnel löste Beklemmungen bei ihm aus. Heute Abend, wenn er in seine Wohnung zurückgekehrt sein würde, wollte er analysieren, was dieser Tunnel in ihm bewirkte. Aber nicht hier und nicht jetzt.
„Oh, Fafnir. Du Mächtiger. Du Schlauer!“
Vor ihm rief Raimund und ein Lichtschein war zu sehen. Hinter der letzten Biegung öffnete sich ein Gesteinsrund, über dessen zackigen Rand der blaue Himmel thronte. Umgeben von echten und künstlichen Felsen standen die drei Männer wie am Boden eines Vulkankraters und blickten auf einen See, in dessen Mitte ein steinerner Drache ruhte. Im algengrünen Wasser blitzte etwas in den Sonnenstrahlen und bei näherem Hinsehen konnten sie Geldmünzen erkennen. Opfergaben an den Drachen, damit er seinen Besuchern Glück brachte.
„Wie aufgeklärt unser Zeitalter doch ist“, dachte Andreas bei sich.
Laut aber sagte er: „Na, wenn das Fafnir ist, dann ist er aber in letzter Zeit nicht mehr ganz so springlebendig wie berichtet. Und der soll den Rhein bewacht haben?“
Jerara, der nicht ganz vertraut war mit der Sage, stieß Andreas an: „Erzähl mal.“
Der Wissenschaftler überlegte kurz und begann dann zu erklären: „Eigentlich werden hier zwei Legenden gemischt. In der nordischen Mythologie gibt es drei Zwerge, von denen einer Fafner hieß.“
„Zwerge? Ich dachte, es geht hier um Drachen?“
„Nur nicht so ungeduldig, mein junger Padawan“, ließ sich Raimund hören, nachdem er sich auf einen der großen Findlinge in die Sonne gesetzt hatte und seine Kollegen, aber auch den steinernen Drachen und dessen künstliche Höhle beobachtete. Rechts von ihm war ein Durchgang in den Fels gehauen, dort schien der Rundweg weiterzugehen.
Jerara grinste. Natürlich kannte er das berühmte Filmzitat, das sein Professor gerade genutzt hatte, und er neigte anerkennend den Kopf.
„Also, wie wird aus einem Zwerg ein Drache?“, fragte er dann.
„Durch Gier“, antwortete Andreas und setzte sich auch auf einen der warmen Felsbrocken. „Fafner hatte zusammen mit seinen Brüdern einen Goldschatz erlangt – wie sie dazu gekommen sind, würde jetzt zu weit führen. Fafner war der gierigste der Zwerge, hat seine Brüder ausgetrickst, seinen Vater getötet und sich mit dem Schatz in einer Höhle verschanzt. Dort lauerte er auf dem Gold und verwandelte sich durch den Fluch des Goldes langsam in einen Lindwurm.“
„Aha, und der hat dann den Rhein bewacht.“
„Nicht ganz. Er wurde von seinem eigenen Bruder getötet und des Goldes beraubt. Wagner hat dann diese Geschichte in seinem Ring-Zyklus adaptiert, hat aus dem Lindwurm einen Drachen gemacht und ihn von Island ins Rheinland transportiert. Das passte genau in den Zeitgeist des damaligen Deutschland, das gerade die eigene Schönheit und Mythologie wiederentdeckte. Geschichten über einen Drachen, der auf der höchsten Spitze des Siebengebirges hauste und vorbeiziehende Schiffe auf dem Rhein in Brand setzte, hatte es schon seit Jahrhunderten gegeben. Bei Wagner und schließlich auch im Volksglauben wuchsen beide Geschichten zusammen und seitdem heißt es, Fafnir – jetzt mit i, statt mit e – habe über den Rhein geherrscht und Jungfrauen gefressen, bis ihn Siegfried, der weder Zwerg noch sein Bruder war, erschlagen und in seinem Blut gebadet hat. Dadurch wurde Siegfried unverletzlich, außer an einer Stelle, wo ein Blatt geklebt hatte und kein Drachenblut hingekommen war.“
Jerara starrte gedankenschwer auf den steinernen Drachen und ließ sich das Gehörte durch den Kopf gehen: „Seid ihr denn dann sicher, dass die Menschen das Geld in seinen Teich werfen als Glücksbringer? Warum nicht, um ihn milde zu stimmen?“
„Als Opfergabe? Statt der Jungfrauen von früher nun Münzen? Sehr symbolhaft. Aber ob sich die Besucher dessen bewusst sind?“
Raimund stand auf und klopfte sich den Staub von der Hose: „Ihr wisst schon, dass ihr über eine Steinfigur sprecht? Wenn es ein echter Drache wäre – okay. Aber das hier?! Ist Stein! Es kann weder Glück noch Unglück bringen noch Jungfrauen verschlucken. Also bitte: Die nächste Abteilung der Drachenwelt wartet auf uns. Die Nachfolger der Drachen.“
Mit diesen Worten kletterte er die wenigen ungleichen Stufen durch den Ausgang hinauf und verschwand hinter einer Biegung. Seine Begleiter hatten bald zu ihm aufgeschlossen und zu dritt schlenderten sie durch den kleinen Reptilienzoo, der in mehreren liebevoll angelegten Abteilungen Echsen, Schlangen und Spinnen in ihren Terrarien zeigte.
Ganz am Ausgang lag eines der größeren Gehege, in dem ein großer grüner Leguan in seinem Futternapf stand und hastig knackige Salatblätter kaute. Sein prächtiger gezackter Kragen ragte vom Rücken in die Höhe.
„Da kann man doch wirklich der Vermutung erliegen, er könnte ein Nachfahre des Drachen sein.“
Der australische Post-Doc warf einen Blick durch die Gitter und schüttelte den Kopf: „Als ich 17 war und bei meinen Großeltern den Sommer verbracht habe, klebte ein Buntwaran an der Hauswand, als ich rausgehen wollte. Das war ein Drache.“
„Wieso?“, fragte Andreas und überlegte, ob er schon einmal von einem lethal giftigen Waran gehört hatte. Ihm fiel sofort der Komodowaran ein, aber der lebte nicht in Australien, sondern nun einmal ausschließlich auf Komodo.
Jerara ging auf den Ausgang zu, als er lapidar antwortet: „Weil die Viecher zwei Meter groß werden können. Wenn du einmal in das Maul eines menschengroßen Warans geschaut hast, der dich morgens auf der Veranda angähnt, erlangst du Respekt vor der Schöpfung.“
Die beiden älteren Wissenschaftler blieben im Reptilienzoo zurück und schauten sich verwundert an. Einmal mehr wurde ihnen bewusst, dass ihr Post-Doc aus einer vollkommen anderen Welt stammte.
Der stand schon wieder auf dem sonnenbeschienenen Asphaltweg, der zum Gipfel und der darauf thronenden Burgruine führte, und blickte über die unbestreitbar romantische Landschaft mit bewaldeten Hügeln und dem glitzernden ruhigen Rhein in seinem breiten Talbett.
„Wunderschön“, murmelte er.
„Kommt.“ Raimund klopfte ihm sanft auf die Schulter. „Lasst uns eine Drachenwurst essen und dann zur Ruine wandern.“
Mit einem scharf gewürzten Würstchen im Magen und einer Wegekarte in der Hand, die von Kinderhand gezeichnet worden schien, machten sie sich auf, wieder am Schloss vorbei und dann über den gewundenen Weg in den Wald hinein, der sich unterhalb der Burgruine erhob. Der Asphalt wand sich um übermannsgroße Felsbrocken und über plätschernde Bachläufe und verlief durch eine tiefe Schlucht.
„Diese langgestreckten Täler“, rief Raimund über seine Schulter nach hinten zu seinen Gefährten, „nennt man Siefen. Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass durch eine Lautverschiebung aus dem Siefengebirge das Siebengebirge geworden ist. Und da zu einem so markanten Gebirge nicht nur der Namen, sondern auch die Entstehungsgeschichte klangvoll sein muss, sprach der Volksmund bald davon, dass sieben Riesen den Lauf des Rheins freigeschaufelt hatten. Wo sie ihre Spaten abstreiften, entstanden die Berge, durch die wir jetzt laufen.“
Andreas war stehengeblieben. Neben ihm ragte eine steile Felswand empor. Seine Hand strich sanft über das Gestein und kratzte vorsichtig daran. Dann ging er in die Hocke, holte sein Smartphone hervor und schaltete dessen Taschenlampen-App ein. Knapp über dem Boden, dort wo es durch die dichten Bäume dämmerig war, leuchtete er hin und schaute angestrengt auf den Lichtpunkt.
Raimund kannte diese Haltung von seinem Kollegen. Höchste berufliche Anspannung, kurz vor einer Erkenntnis.
„Andreas?“
„Treffer.“ Er richtete seine lange Gestalt wieder auf und strich noch einmal über die Felswand. „Hier war zwar kein Steinbruch, aber das ist eindeutig Trachyt. Mir waren diese typischen Pockennarben aufgefallen.“ Auf Raimunds Nicken hin sprach er weiter: „Es ist ja Vulkangestein, das in flüssiger Form mit Gasblasen durchsetzt ist. Beim Erkalten hinterlassen die entweichenden Gase dann diese rauen kleinen Hohlräume. Die Struktur ist deshalb ganz grob und zackig und ist hier so gut zu sehen, weil wohl gerade ein größeres Felsstück abgebrochen ist.“
Erschrocken starrte Jerara erst nach oben und trat dann zwei Schritte zurück, näher hin zum Talrand.
„Es gibt hier Steinschlag?!“, fragte er entsetzt. Ihnen waren schon zwei Familien mit einer ganzen Meute von Kindern entgegengekommen. So einen Weg konnte man sie doch nicht nutzen lassen!
„Ja, das passiert hier immer wieder. Ein anderer Weg hoch zum Gipfel wurde deswegen schon gesperrt. Immerhin befinden wir uns auf einem noch immer aktiven Vulkan. Das darf man nie vergessen. Und die Menschen unserer vorherigen Generationen haben auch zu gierig und zu unvorsichtig den Stein abgebaut. Aber genau deswegen hat man die gefährlichen Stücke befestigt und gesiegelt.“ Mit einem misstrauischen Blick schaute Raimund nach oben. Zwischen dem dunklen Blätterwald blitzten Sonnenstrahlen hindurch und er glaubte, bereits die Silhouette der Burgruine erahnen zu können. „Aber dass es noch immer zu Abbrüchen kommt – hier auf dem zugelassenen Weg – finde ich beunruhigend. Das müssen wir melden. Lasst uns schnell nach oben gehen.“
„Sekunde noch. Das müsst ihr euch ansehen.“
Andreas hatte sich noch einmal hingehockt und machte nun ein Foto von der untersten Abbruchkante. Dann reichte er sein Smartphone weiter. Auf dem Bildschirm war die raue Struktur des Trachyts sehr gut zu erkennen, doch in den Stein eingelassen war noch etwas anderes, vielleicht eine Schleifspur, vielleicht aber auch mehr.
„Ein Fossilabdruck?“ vermutete Jerara. Er war sich nicht ganz sicher. Die Vertiefungen waren dafür beinahe nicht sehr deutlich, aber als Archäologe hatte auch er schon früh ein gutes Gefühl für solche Funde entwickelt.
Andreas nickte: „Die Adern eines Farns. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, noch keine ausgewachsene Pflanze. Wir sehen hier zwar nur einen kleinen Ausschnitt, aber immerhin die Hauptader mit Abzweigungen. In Anbetracht der Tatsache, dass Ur-Farne baumgroß werden konnten, ist das hier klein.“
Raimund blickte den Weg entlang und über das Tal hinweg. Vor seinem geistigen Auge fielen die Bäume des Laubwaldes um, wurden überwuchert von grünem und gelbem Moos, taubengroßen bunten Pilzen und dicken Schlingpflanzen. Dazwischen erhoben sich Farnbäume, die sachte im Wind wiegten. Ein tropischer Dschungel entstand in seiner Vorstellung, ein Dschungel, der den unglaublichsten Arten Heimat und Zuflucht gewesen war. Natürlich hatten alle Generationen, die hier Stein abgebaut hatten, Beweise davon gefunden. Und wer wollte es einem römischen Sklaven oder einem ungebildeten Leibeigenen des Mittelalters verdenken, wenn er beim Anblick eines versteinerten zwei Meter großen Riesentausendfüßlers zu der Überzeugung kam, die Überreste eines Drachen vor sich zu haben? Dass er Angst hatte und sich in seinen heidnischen oder christlichen Glauben rettete, in dem es Geschichten von Lindwürmern und Schreckgestalten gab, die besiegt und niedergerungen werden konnten? Und durch diese Geschichten nur die Bestätigung seiner Ängste fand?
Mühsam verscheuchte der Professor dieses lebendig-grüne undurchdringliche Trugbild vor seinen Augen und schloss sich seinen Kollegen an, die schon einige Schritt vorausgegangen waren, und er ertappte sich dabei, dass er immer wieder die Steilwand hinaufschaute, aus Sorge vor einem weiteren Abbruch.
Bald öffnete sich der Wald vor ihnen, sie sahen, dass das letzte Stück Weg parallel zu den Bahngleisen verlief und dann auf eine große Aussichtsplattform führte.
Es war ein wunderbarer Tag. Die Sicht ging weit über hundert Kilometer und der breite Strom des Rheins unter ihnen glitzerte in der Sonne wie von Silber durchzogen. Ein Glaskubus für Veranstaltungen erhob sich neben den breiten Stufen, die nicht nur zu einem Biergarten führten, sondern auch zum Verweilen und Genießen einluden. Etliche Paare, aber auch Familien mit Kindern saßen hier und picknickten im Schatten der geschwärzten Burgruine, die alles überragte. Düster, das untere Drittel im Wald verborgen, ragte sie wie ein zersplitterter Zahn in den blauen Himmel. Die Metallgitter zur Sicherung der Touristen, die es wagten hinaufzuklettern, reflektierten schmerzhaft hell die Sonnenstrahlen. Alles an dieser Ruine wirkte trutzig, dominant, ja beinahe abweisend und dennoch ließen sich nicht wenige Besucher auf das Abenteuer ein, in die oberste Spitze hinaufzusteigen. Von dort oben musste die Aussicht gigantisch sein. Kein Wunder, dass die Burg an dieser Stelle errichtet worden war, als Vorposten, um das Rheinland zu schützen, denn jeder Feind, jeder Angriff, jedes Annähern nur musste schnell entdeckt worden sein.
Die Forscher teilten sich auf. Jerara ging weiter zum kleinen Rund auf der anderen Seite der Plattform. Dort standen ein Kriegerdenkmal und Fernglasinstallationen, die man mit 50-Cent-Münzen füttern musste, um sie bedienen zu können. Die Cents waren es dem Australier wert, eines der Ferngläser in Betrieb zu nehmen, und er spähte in alle Richtungen und auch nach oben auf die Burg, auf dessen Zinnen nun Raimund erschienen war. Er schien etwas in der Steinmauer der Burgfeste zu untersuchen, ging einmal rund, dann noch einmal und verschwand schließlich aus Jeraras Blickfeld, weil der Professor wieder nach unten kletterte.
Andreas währenddessen lehnte an der Balustrade der Aussichtsplattform, starrte über den Biergarten hinweg hoch zur Ruine, hatte seine Aufmerksamkeit aber nicht auf seinen Kollegen gerichtet. Vielmehr hörte er mit, was ein Fremdenführer gerade einer Touristengruppe erklärte. Andreas bedauerte, dass er leider auch nicht bis zum letzten Detail mit der regionalen Legenden- und Geschichtswelt vertraut war, und so hoffte er, das eine oder andere Detail zu hören, das er noch nicht kannte. Der Post-Doc kam zurück und stellte sich zu ihm. Gemeinsam warteten sie auf Raimund, der gerade wieder auftauchte, mit einem verzückten Lächeln auf dem Gesicht.
„Ihr glaubt nicht, was da hinten steht. Ein Märchenautomat! Wenn man Geld einwirft, erscheint eine Drachenmarionette und erzählte die Geschichte vom Drachenfels. Da muss ich mit meiner Nichte mal hin.“
Von der Seite wurden auf einmal Stimmen laut. Die Touristengruppe setzte sich zur Rückfahrt in Bewegung, doch ein Mann war stehengeblieben. Er lehnte in Positur an der Balustrade, sein Bauch genau so üppig wie die Glatze, und rief zu niemandem bestimmte: „Hey, wir können noch nicht los. Ihr müsst doch noch ein Selfie von mir machen.“
Jerara prustete los, Raimund gab ein glucksendes Lachen von sich, aber Andreas drehte sich sehr ernst zu ihnen um: „Habt ihr das gehört?“
„Na, das war doch laut genug.“
„Ich meine doch nicht den Touristen. Der Guide!“
Der Professor schaute noch einmal zur Seite und sah, dass neben dem lauten Touristen noch immer der Fremdenführer stand. Bei ihm war ein weiteres Mitglied der Besuchergruppe geblieben und blickte über die Begrenzungsmauer hinunter Richtung Rhein. Ein recht steiler, begrünter Abhang tat sich dort auf, der direkt am Ufer des Rheins endete, doch auch der Anfang eines sandigen Weges war zu sehen. Stufen führten von einer kleinen Passage durch die Mauer an der Plattform hinunter zu einer natürlichen Terrasse und weiter auf den Pfad.
„Ich glaube, wir haben die Feinheiten seiner Ausführungen verpasst. Was war denn?“
Andreas drehte sich zu seinen Begleitern um, nachdem auch er den Berg hinabgespäht hatte.
„Wir befinden uns hier oberhalb des Drachenlochs. Jugendliche klettern immer mal gerne dahin als Mutprobe, denn es ist schwierig zu erreichen, weil es genau in der Drachenrutsche liegt.“
„Der was?“
„Die Drachenrutsche. Der Fremdenführer hat gerade erklärt, dass die abgetragenen Trachytbrocken diesen Hang hinuntergeschleift wurden, direkt zum Rhein und den dort wartenden Transportschiffen.“
„Sie wurden geschleift“, wiederholte Raimund langsam und verstehend. Dann klopfte er Andreas auf die Schulter. „Gut. Wirklich sehr gut.“
Jerara blickt von einem zum anderen, dann hatte auch er zusammengesetzt, was die beiden anderen dachten.
„Das ist aber ein bisschen weit hergeholt. Nur weil Schleifspuren auf Ennis Knochen waren, muss das nicht bedeuten, dass die von der Drachenrutsche stammen. Man hätte doch bemerkt, wenn eine junge Frau zwischen den ganzen Felsblöcken mit auf ein Schiff verladen worden wäre.“
Das konnten weder Raimund noch Andreas sofort entkräften, aber sie wussten ja auch nicht, wie der Verladevorgang von Statten gegangen war. Da mussten sie sich noch informieren, mussten recherchieren, aber die Möglichkeit gleich ausschließen wollten sie nicht.
„Ich gehe da mal runter und schaue mich ein bisschen um“, sagte Andreas und griff nach seinem Rucksack, den er neben sich an die Steinmauer gelehnt hatte.
„Andreas! Das ist bestimmt nicht erlaubt und es ist sicherlich gefährlich“, versuchte der Professor seinen Freund zurückzuhalten.
Der aber nickte nur, zog aus einer der vielen Taschen seines Gepäcks einen Karabinerhaken hervor, an dem ein Kletterseil befestigt war, zwinkerte seinen Begleitern einmal zu und versteckte das Seil wieder, um dann schnell die schmalen Stufen zwischen der Mauer hinunterzulaufen. Wenige Schritte ging er auf dem Weg, an dessen Rand ein Holzwegweiser ausschilderte, wie weit es bis zu dem Städtchen war, das unterhalb der Burg am Flussufer schlummerte. Doch Andreas hatte nicht vor, sich an vorgegebene Richtungen zu halten. Mit einem raschen Blick nach oben vergewisserte er sich, dass niemand von der Aussichtsplattform aus zuschaute, um kein schlechtes Vorbild für Schulklassen oder Wagemutige zu sein, aber irgendjemand guckte immer. Also zückte er sein Smartphone und schrieb eine Nachricht an Jerara: „Lenk die ab!“
Der Australier grinste, nickte seinem Kollegen unten zu und wandte sich an Raimund.
„DAS“, sagte er laut. „ist der perfekte Ort für eine Tai Chi Kata. Just perfect!“
Raimund ließ den Kopf sinken und legte beschämt eine Hand über die Augen. Er wusste, was kam. Seine beiden jungen Begleiter waren „ein Kopf und ein Arsch“, wie man im Rheinland sagte, wenn es darum ging, Konventionen nicht einzuhalten.
Zwischenzeitlich war der Australier quer über die Aussichtsplattform gelaufen, hatte sich Schuhe und Strümpfe ausgezogen, das T-Shirt ebenso, die Hosenbeine der Jeans bis über die Waden hochgekrempelt und war in die Mitte der Plattform getreten. Für Sekunden sammelte er sich mit geschlossenen Augen. Dann begann er mit den langsamen konzentrierten Übungen von Kampfsportbewegungen, die in Zeitlupe ausgeführt wurden. Raimund wusste, dass es inzwischen auch in Deutschland, gerade in den Großstädten, Gang und Gäbe war, diese asiatischen Fitness- und Konzentrationsübungen in der Öffentlichkeit, gerne in Parks, auszuüben, manchmal in Gruppen. Die meisten aber praktizierten Tai Chi allein. Selten erregte das noch Neugier.
Hier jedoch, im Schatten eines mittelalterlichen Gemäuers, ausgeübt von einem Aborigine, war es doch ein Hingucker, vor allem, weil Jerara sehr geschickt war und seine Bewegungen fließend und anmutig, aber dennoch kraftvoll wirkten. Sein gestählter Körper glänzte in der Sonne.
Die ersten Touristen hatten schon ihre Smartphones gezückt und filmten. Ein junges Mädchen mit langen blonden Haaren, vielleicht 16 Jahre alt, starrte den Post-Doc unverhohlen verzückt an. Er nahm sie an die Hand, führte sie neben sich in die Mitte des Platzes und begann von vorne, langsamer. Und sie folgte seinen Bewegungen. Jerara winkte einem Ehepaar zu, das interessiert zuschaute, und beide kamen zu ihm und dem Mädchen. Voller Bewunderung beobachtete Raimund seinen Adlatus, wie der immer mehr Besucher in seinen Bann zog.
Ein leiser Pfiff weckte ihn aus seiner Trance und er schüttelte benommen den Kopf. Wie ihm war es auch allen anderen Touristen ergangen, denn niemand stand mehr an der Mauer-brüstung, um die weite Aussicht zu genießen. Alle hatten sich zu Jerara umgewandt. Ray blickte den Abhang hinab und sah seinen Kollegen noch immer auf dem sandigen Wanderweg stehen. Andreas hatte den Pfiff ausgestoßen; er wollte wissen, ob er endlich loslegen konnte. Verstohlen blickte sich der Professor um, dann reckte er die Hand über die Balustrade und zeigte „Daumen hoch“. Für wenige Sekunden sah Ray dabei zu, wie Andreas sich das Sicherungsgeschirr anlegte, das Seil einhakte und an einem größeren Baum vertäute, bevor er sich an den Abstieg machte. Dann wandte Alphen aber den Blick wieder ab und Jerara zu, um keine Aufmerksamkeit auf die sicherlich unerlaubte Kletteraktion zu lenken. Kaum eine Minute später beendete der Post-Doc seine Tai Chi Übung, verbeugte sich spielerisch bei dem Applaus, den er von seinen Mitstreitern – es waren inzwischen 20 Personen zusammengekommen, die mit ihm trainiert hatten – erhielt, kleidete sich schnell wieder vollständig an und schlenderte dann zu seinem Professor herüber.
„Wie sieht es aus?“, raunte er, als er zu Raimund an die Brüstung trat.
„Gut, Andreas hat sich auf den Weg gemacht. Jetzt können wir nur warten.“
Die Minuten zogen sich. Immer unruhiger wurden die beiden Wissenschaftler, die oben zurückgeblieben waren. Sie hörten nichts von ihrem Kollegen, er schickte auch keine WhatsApp-Nachricht mehr. Alles blieb still. Als sei die Zeit eingefroren. Die Sonne verschwand langsam hinter einem dichten Wolkenband und Raimund bemerkte, dass White neben ihm im stetigen Wind auf dem Plateau zu frösteln begann.
„Was macht er denn?“, fragte der Post-Doc seinen Professor. „Wollte er auch die Höhle tiefer erkunden?“
Ray hoffte, dass Andreas sich dieser Versuchung nicht hingegeben hatte. Er war immer für ein Kletterabenteuer über und unter Tage zu haben. Aber er würde sich nie ohne Eigensicherung in ein fremdes Höhlensystem begeben. Eigentlich…
Die Hände auf die grobe Mauer aufgestützt starrte Raimund den Hang hinab und spürte, wie sich sein Körper immer stärker verkrampfte. Kleine Steine schnitten in seine Handflächen und sein Nacken wurde steif von dem Versuch, so tief wie möglich die Bergseite hinabzustarren, ohne sich zu weit und zu auffällig über die Brüstung zu lehnen. Außerdem rasten seine Gedanken schon bei der Überlegung, was sie tun sollten, wenn Andreas nicht in den nächsten Minuten wieder auftauchte. Er hatte seinen Rucksack zwar nicht mitgenommen, aber ob darin ein zweites Seil für seine Begleiter bereitlag, wusste er nicht. Entweder Jerara oder Raimund selbst müssten schlimmstenfalls ungesichert, vielleicht an Andreas´ Halteseil geklammert, den Hang herunterhangeln, um zu schauen, was mit ihrem Kollegen geschehen war. Das war keine besonders erfreuliche Aussicht, die sich da vor ihm aufbaute. Oder …
Dann setzte auf einmal ein seltsam atonales Piepen ein. Nein. Ray korrigierte sich in Gedanken. Zwei Smartphones mit verschiedenen Klingeltönen schlugen simultan an. Er schaute zu Jerara, während sie gleichzeitig ihre noch immer summenden Telefone hervorzogen. In den Augen seines Post-Docs spiegelte sich die Sorge, die er selbst empfand.
Eine E-Mail mit Fotoanhängen von Andreas erschien auf dem Bildschirm. Der Professor tippte darauf und las noch den kurzen Text, als sein australischer Kollege bereits die Bilder geöffnet hatte und erschrocken keuchte. Dann erst sickerte die Bedeutung der wenigen Worte in sein Bewusstsein: „Ruft die Polizei!“
Entsetzt starrte Raimund auf das Bild, dass Jerara ihm auf seinem Smartphone entgegenhielt, sprachlos, voller Ekel und Bestürzung. Schlecht ausgeleuchtet und körnig blieben die Details verborgen. Dennoch unverkennbar stieg auf dem Bild ein großer Schwarm von Fliegen auf von etwas, das wie ein schleimiger, verwesender Fuß aussah. Maden ringelten sich daraus hervor. Und alles thronte auf einem Haufen blanker Knochen.