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Als Madeleine nach den beiden ersten Lehrstunden, die ohne besonderen Unfall verlaufen sind, in ihr Zimmer hinunter will, wird sie durch einen Anruf aufgehalten. Ein schöner hochaufgeschossener Bursch, dem eine rotblonde Wotanslocke das rechte Auge verdeckt, sagt, indem er errötet: »Madame Madrus, Tristy – Herr Tristan mein’ ich«, verbessert er sich schnell, »läßt fragen, ob Sie nicht mit ihm eine Tasse Tee nehmen möchten?«

»Mit Vergnügen, wo denn?«

»Hier, gleich neben dem ›Französischen Zimmer‹.«

Über ein paar Stufen hinauf geleitet der Jüngling Madeleine in eine kleine Stube, deren Hauptwand von einem Kamin, einer Türe und einem Büchergestell beinahe ausgefüllt ist. Im Kamin flammt ein großes Feuer – sehr erwünscht, denn die Radiatoren im Französischen Zimmer geben, ungleich den Heizröhren in Madeleines Schlafzimmer, gar keine Wärme ab. Über dem Kamin hängt eine verkleinerte und etwas eingeschlagene Kopie des Wiener Giorgione, die anderen Wände tragen hausgemachten Bilderschmuck, von Tristans Schülern, läßt sich annehmen. Dem Giorgione gegenüber, der in solcher Umgebung beinahe akademisch wirkt, gibt es ein Nachtcafé mit hingelümmelten Gästen, die trübe Biesterfarbe drückt die Hoffnungslosigkeit der Situation überzeugend aus, die Formensprache ist von Daumier übernommen, aber eigenwüchsig verjüngt; daneben hängt etwas in schwärzlichem Absinthgrün, von roten und schwefelgelben Farbflecken aufgehellt, es ist – nicht gleich zu unterscheiden – ein Vorhang oder eine schimmlige Hauswand, an der zwei Nachtbummler niedergesunken sind, kaum körperlicher, als wären’s ihre leeren schwarzen Gewänder. Links davon ist etwas Solideres, etwas Altmodischeres, eine Schneelandschaft, die an den winterlichen Semmering erinnert, und dem Fenster gegenüber ein spanischer Hof, ein »patio«, mit grellem Granatbusch an der Mauer und grellblauem Himmel darüber, ein hübsches Bildchen, aber ganz ausgestochen und blind gemacht von seinem Nachbarn, einer Jahrmarktszene mit einem ockerfarbenen Zelt, einem Zirkuskomödianten auf hohen Stelzen und einem Ringelspiel im Hintergrund. Die Zeltwand auf der einen Seite – der Stelzengänger auf der anderen, neigen sich gegeneinander, so daß sie ein ausgespartes Rhomboid abgrenzen.

»Wie das«, sagt Madeleine zu Tristan, der eben mit einem Teebrett hereinkommt, »an Tiepolo erinnert! Nicht in den Farben –, Tiepolo gebrauchte weder Ocker noch gebrannte Terra di Siena, sein Blau ist heller, und sein eigentümliches Rosa fehlt hier –, aber der Form nach. Das hier gemahnt mich an eines der Passionsbilder in San Tommà in Venedig, wissen Sie, welches ich meine?«

»Ich bin leider niemals in Venedig gewesen und kenne Tiepolo nur in Auswahl; es kann aber sein, daß ich Benedict etwas von ihm gezeigt habe, das ihn nun beeinflußt hat.«

»Alles reine Erfindung, keine Naturstudien?«

»Nicht für diese Art Bilder. Ich halte einen Aktkurs, und einen Abendkurs, Kostüm mit lebendem Modell, leider kommen nicht alle zum Aktkurs, obzwar er doch so wichtig ist. Nehmen Sie Zucker, einen Löffel, zwei?«

»Zwei, wenn’s nicht zu unbescheiden ist.«

»Keineswegs, wir haben hier Zucker in Fülle, wir leben hauptsächlich von Milch und Tee, Brot, Butter und Jam, die übrige Kost heißt nicht viel, für Ihren französischen Gaumen wird sie vollends ungenießbar sein. Ich habe mir ja in Paris kein gutes Restaurant leisten können, aber in jeder Crêmerie speist man fürstlich, gegen unseren Schlangenfraß gehalten. Ich weiß nicht, warum wir so heruntergekommen sind, früher war’s recht gut, und die Köchin hat nicht gewechselt, bloß ihre Laune; noch sind wir in der Belieferung wesentlich schlechter dran, ich glaube, der wahre Grund ist Heros unglückliche Liebe.«

»Zu Spargel, Artischocken und Poulards, oder zu einem Lebewesen?«

»Schon eher das letztere.«

»Und ihr trauriges Geheimnis ist allgemeiner Besitz?«

»So ungefähr. Alle unsere kleinen Affären hier sind es. Man nimmt Herzensangelegenheiten ungemein natürlich in Télème und erkundigt sich nach ihrem Befinden, als wär’s ein Schnupfen. Wie geht es übrigens dem Ihrigen?«

»Danke, viel besser. Vielleicht sind sie dann – die Herzensangelegenheiten mein’ ich – nicht viel mehr als ein Schnupfen? Rhume au cœur. O weh, das ist die Glocke, ich muß ins Französische Zimmer hinüber. Wen hab’ ich nur jetzt?«

Madeleine blickt auf ihren Stundenplan. »Gruppe B. Das sagt mir nicht viel: Können Sie mir vielleicht verraten, was es bedeutet?«

»Gruppe B besteht aus Buben und Mädeln, die vom nächsten Juli in einem Jahr zur Prüfung kommen; A kommt heuer daran, C in zwei Jahren. B ist eine besonders erfreuliche Zusammenstellung, die Begabtesten der ganzen Schule, scheint mir. Sie haben Benedict darunter, der den Jahrmarkt gemalt hat, Diego, von dem der Patio herrührt, Beatrice, das gescheiteste Mädel der Télème-Abtei … Wissen Sie übrigens, wie Sie später ins Haupthaus und in die Speisesäle gelangen? Nein? Florizel!«

Hinter dem Vorhang, der das nächste Zimmer – die Werkstatt – abschließt, kommt ein schöner Bursch hervor, nicht der nämliche wie vorhin, wenn auch ihm eine Wotanslocke übers Auge hängt, diesem hier über das linke.

»Florizel, wollen Sie so gut sein und Madame den Weg zu den Fleischtöpfen zeigen, wenn’s soweit ist? Sie erwarten Madame um halb eins vor dem Französischen Zimmer.«

»Seheher ggegern, mit dem grogrögrösten Vergnügen, wirklich!«

Florizel, sehr vergnügt, weil er nun zu Ende gestottert und zwei ganze Worte tadellos herausgebracht hat, verneigt sich, Madeleine nickt Tristan zu und zieht sich in ihren Bereich zurück.

Nachdem sie Gruppe B und Gruppe A überstanden hat, findet sie richtig den Jüngling, ihrer wartend, auf der Schwelle. Draußen ist es kalt und neblig, die hohen Eschen tragen Wattefetzen an ihrem Gezweig, Krähen fliegen blauschwarz durch die feuchte Stille, ein Flugzeug zieht gedämpften Geräusches vorüber, es ist, als wäre man auf Meeresgrund und sähe nahe dem Spiegel die Schatten großer und kleiner Schiffe hingleiten.

»Wie gegegefällt es Ihihihnen dedenn im Krähehehennest, Madame Madrus?«

»Wo? Im Krähennest? Was ist das?«

»Ununsere Schuschule. Ein Spispitzname.«

»Ich dachte, sie heiße Télème-Abtei?«

»Offifiziell, auauf den Drucksorsorten schon, aaaber wiwiwir hahahaben sisie umumumgegetauft, haben Sie denn das Krähennest nicht gesehen?«

Florizel strahlt, er hat einen ganzen Satz fehlerlos herausgebracht.

»Eine ganze Menge Krähennester sogar, dort drüben …« Madeleine streckt die Rechte nach den hohen Eschen aus, worin, neben weißen Flocken Nebels, viele schwarze Nesterklumpen aufgehängt sind.

»Dadas sisind nicht diedie richrichtigtiggen. Bloße Nachahmung. Sie gehöhören gagar nicht uuuns. Dododort bebebeginnt schoon der Kirkirchenhohof.«

»Der Kirchhof ?«

»Der Kirchenhof, eiein Nanachbabargugut, ees heißt soso wewewegen deder Nähe deeer Kirchehe. Unununser Kräkräkrähennest ist einzig.«

»Und die Bedeutung? Ihr seht mir doch nicht gerade nach Krähen aus, seid eine zwar lärmende, aber doch eher bunte und vergnügte Volière.«

»Aaaber wiwiwir beibeiheißen eieinander wiewie diediedie dooort droooben.«

Aus dem Krähennest kommt kreischender Lärm. Zwei große schwarze Vögel trachten einander aus dem Nest zu werfen, sie schelten, schreien, krächzen einander an, kehren sich endlich den Rücken.

»Es wird, hoff’ ich«, sagt Madeleine, »zuletzt doch gut ausgehen, eine Krähe hackt, nach dem Sprichwort, der anderen kein Auge aus. Nur weiß ich freilich nicht, ob hier überlieferte Sprichwörter noch in Geltung stehen?«

»Sesehehen Sie, Madame Mamadrudrus, wir halten uns an diediedie Übüberlieferung, wenn sie uuns papaßt, in ananderen Fäfällen lelehlehnen wir uuuns dadadagegen auf. Aaber Sisie hahaben meine Frafrage nicht bebeantwowortet: wie es Ihihnen hier gefällt.«

»Das wär’ auch zu früh, ich kenn’ doch erst einen bescheidenen Teil – bescheiden soll sich natürlich nicht auf den Charakter, sondern nur auf die Anzahl meiner Schüler beziehen –, der jungen Krähen, und kenn’ mich in ihrem Nest noch so wenig aus, daß ich ohne Ihre Hilfe nicht einmal zur Krippe fände. Vielen Dank für die Führung, nur werden wir, fürcht’ ich, keinen Platz mehr bekommen.«

In der großen eichengetäfelten Halle sind drei lange Tische – einer vor dem Kamin, einer in der Nische des Treppenaufgangs, einer an der Querwand – dicht besetzt.

»Schauen wir weiter.«

Florizel öffnet eine Türe, aus der Helligkeit, Stimmengewirr und der flüchtige Blick heiterer Wandbilder kommt.

»Dededer grgroße Speispeisesasaal gegehört eieigentlich dededen Mimimittelschüschülern, wiwir nenennen ihn dedeshalb de Enenklave Dodorrit. Vivivielleicht ist im kleiikleinen nonoch etwas ffrrei.«

Florizel öffnet eine andere Tür, Madeleine erkennt zu Häupten des nächsten Tisches die Sekretärin; Tatjana winkt ihr zu.

»Ich habe einen Platz für Sie am unteren Tafelende vorbehalten, Madame Madrus. Sie, Florizel, werden vielleicht drüben bei Olivia ein Unterkommen finden.«

Madeleine findet auf dem ihr zugewiesenen Platz Gabel und Messer gekreuzt, das heißt, wird ihr bedeutet, daß dieser Platz reserviert ist. Der Tisch ist mit königsblauen Baumwolläufern von zweifelhafter Reinlichkeit umrandet und recht sorglos gedeckt, vor Tatjana steht ein Stoß dicker weißer Teller, es kommen zwei junge Mädchen mit einer riesigen Holztasse, von der sie an jedem Tisch zwei Schüsseln – Gemüse und Kartoffeln – abladen, eine dritte Schüssel steht bereits vor Tatjana, sie beginnt auszuteilen, ein hochgefüllter Teller wandert von Hand zu Hand abwärts, bis er vor Madeleine Halt macht, die es für ein Gesellschaftsspiel nimmt, und ihn weiterreichen will.

»Nein, Madame Madrus«, sagt ihr junger Nachbar, »das ist Ihr Teller.«

Madeleine begreift, daß, wer zu Häupten des Tisches sitzt, den ersten Gang austeilt, wer am Fußende sitzt, zuerst bedient wird. Mit dem Pudding geht es umgekehrt. Madeleine hat einen Stoß Dessertteller vor sich, später kommt die Reihe auszuteilen an sie.

Man erkennt zwar im Krähennest – denkt Madeleine – Überlieferungen nicht an, hat aber einige aus eigenem geschaffen, man kann offenbar ohne sie doch nicht ganz auskommen. Übrigens ist es schade, daß ich nicht von der Luft oder von Tabletten leben kann, ein voller Teller, Fleisch, Gemüse und Erdäpfel übereinandergehäuft und mit brauner Tunke begossen, dagegen kommt nicht einmal mein Luftveränderungshunger auf. Tristan hat recht: In jeder Pariser Crêmerie wird man appetitlicher bedient. –

Eine Schnitte Pain de luxe wäre mir lieber, aber freilich gibt es jetzt wohl kein Pain de luxe mehr in Paris, außer für den deutschen Generalstab, die deutsche Zivilverwaltung – und vielleicht noch für Ernest Mathieu. Für die anderen aber ist nun wohl jedes Stückchen Brot ein Luxus. Hat man hier übrigens keine festen Plätze, ist es nicht Sitte, daß jedem Tisch ein Lehrer vorsitzt? –

Sie muß das laut gedacht haben, denn ihre Nachbarin zur Linken, ein rotwangiges Mädchen mit aufgestülpter Nase, das geradewegs aus den Blättern des Struwelpeters ins Leben der Télème-Abtei getreten zu sein scheint, antwortet keck: »O nein, wer zuerst kommt, mahlt zuerst! Früher, ja, da ist jedem Tisch ein Lehrer vorgesessen, aber wir haben das abgeschafft, außerhalb der Schulzimmer sind wir alle gleich, da braucht’s keine Aufsicht.«

– Frecher Fratz! – denkt Madeleine und blickt das Struwelpeter-Mädchen still an.

– O je – denkt dieses –, es ist vielleicht besser, man läßt sich mit der Neuen nicht ein. Mademoiselle Tellier war jünger und, wenn auch manchmal sehr sarkastisch, leichter zu behandeln. Schade, daß sie jetzt in Richmond, Virginia, Französisch unterrichtet! –

Das Krähennest

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