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Оглавление»Können Sie mir vielleicht verraten, Horaz, warum Arthur meine Stunden geflissentlich schwänzt? In drei Wochen hab’ ich ihn nur dreimal im Französischen Zimmer gesehen, jedesmal Donnerstag zum Diktat, das er mir schließlich nicht einmal abgibt. Ich höre, er kommt im Juli zur Prüfung, das rührt an meine Verantwortlichkeit: Was fang’ ich nun mit ihm an?«
»Kein Grund, sich über Arthur aufzuregen, Madeleine. Er schwänzt Ihre Stunden nicht geflissentlich, sondern nur gewohnheitsmäßig, zu mir kommt er auch nicht. Die Prüfung wird er hinausschieben – und zuletzt gewiß nicht in Sprachen ablegen. Interessiert er sich überhaupt für etwas, dann noch am ehesten für Biologie und Chemie, weit stärker aber für Landwirtschaft; seine Lieblingsbeschäftigung ist, die Kühe zu melken. Alles andere langweilt ihn. Dazu kommt, daß er in seinem Liebeshandel – Sie wissen natürlich, wer es ist« (Madeleine weiß es nicht) »recht unglücklich ist, also mag ich ihn nicht auch noch quälen. Ja? Was gibt es denn, Lalage?«
Horaz beantwortet eine häusliche Frage seiner Frau, dann fährt er fort: »Schade, daß ein so, gesunder, natürlicher Bursch wie Arthur sich just dieses hysterische Mädel ausgesucht hat. Ja, ich weiß schon, Lalage, man kann in solchen Dingen nicht gut von ›Aussuchen‹ reden. Du hast recht, es hat ihn eben erwischt, und er ist nicht imstande, sich von ihr loszureißen. Eine fatale Anhänglichkeit, denn es gibt hier doch noch andere kleine Schönheiten mit einem unvergleichlich liebenswürdigeren Gemüt. Imogen aber benimmt sich wie eine ausgepichte Kokette und tut dann wiederum so unschuldig, als wüßte sie nicht, wie die Kinder zur Welt kommen.«
»Wie die Kinder nicht auf die Welt kommen, sagtest du wohl besser, Horaz, um die andere veraltete Frage kümmern sich unsere Buben und Mädel längst nicht mehr. Ich weiß nicht genau, wie weit hier so ein Gebändel zu gehen pflegt, gibt es hier aber einmal ein Malheur, dann gewiß nicht auf die übliche schlichte Art«, sagt Lalage im Verschwinden. Horaz der Jüngere hat nämlich eben sein Erwachen durch kräftiges Gebrüll angekündigt.
Madeleine ist ein für allemal nach Tisch zum Tee im Horazwagen eingeladen, der ist keine Karawane, sondern einer der ehemaligen Eisenbahnwaggons, die, erinnern wir uns, von Tristan bald nach seiner Ankunft innen und außen farbig angestrichen wurden und die später wohnungsmäßig eingerichtet worden sind.
Mit wie wenigem sich diese jungen Leute begnügen, wie bescheiden sie mit allem vorlieb nehmen, denkt Madeleine. Wie selbstverständlich besorgt Lalage jede Arbeit, die ihr durch die augenblicklichen Verhältnisse zugemutet wird! Auch Horaz läßt sich nämlich, wie Tristan, von seinen Schülern mit Haut und Haar verspeisen, auch er hat in seinem vorläufigen Daheim Abend für Abend die Mitbewohner der Wagen zu Gast, und Lalage, die doch tagsüber mit den Ansprüchen ihres lebhaften Söhnchens, seiner Fütterung, seinem Bad, seinen Säckchen, Spielhöschen und Jäckchen, weidlich beschäftigt ist, steht, sobald es acht Uhr geschlagen hat, in ihrer winzigen Küche, mit der Zubereitung belegter Brote und dem Aufgießen des Tees für ein hungriges Dutzend befaßt. Wann eigentlich findet sie Zeit für sich selbst, für Horaz?
Erstaunlich genug ist es, denkt Madeleine, daß diese jungen Menschen, die sich doch alle »agnostisch« nennen, Männer und Frauen, mit wortkarger, selbstverständlicher Mitmenschlichkeit in einer wahrhaft urchristlichen Gemeinschaft aufgehen, ohne sich auch nur den bescheidensten Rest persönlicher Abgeschlossenheit zu sichern.
Noch über etwas anderes wundert sich Madeleine: Wie kommt es denn, daß es mitten im Kriege in der Télème-Abtei eine solche Fülle junger, gutaussehender, hochgewachsener, anscheinend gesunder Lehrer gibt? Wie kommt’s, daß Horaz, sechs Fuß hoch, breitschultrig, brillenlos, wenn auch ungewöhnlich bleich von Antlitz, im »Krähennest« Latein, die Landessprache und Literaturgeschichte unterrichtet, statt in Italien oder Burma in Malariasümpfen zu kampieren? Gewiß aber ist diese Möglichkeit ihm jederzeit gegenwärtig und die Ursache, warum er einen ausgedienten Eisenbahnwagen als ihm gemäße Unterkunft ansieht. Sie ist der Grund, warum Lalage sich vor keiner Arbeit scheut und jede Unbequemlichkeit klaglos auf sich nimmt.
Wie nun ist er, wie sind die anderen – ›Tamino, der Flötenspieler und Griechischlehrer, Newton, der Physik und Chemie, Euklid, der Mathematik unterrichtet, Lysander, der, statt Archäologie zu treiben, kleinen Buben und Mädchen Holzschnitzen und Wachsfigurenkneten beibringt – wie sind sie alle, wie ist Tristan, dem Würgengel entgangen? Wahrscheinlich ist es ein gemeinsames Schicksal, ein gemeinsamer Glücksfall, der die Herzen hier so aufgelockert hat, daß in der Télème-Abtei jeder jedem gehört.
Da sie einander viermal täglich in den Speisesälen und unzählbar oft in den Höfen und auf den Gründen des Lavendelhofs begegnen, sollte man meinen, sie hätten bereits genug voneinander gesehen –» aber nein: Immer ist, wenn es halb neun schlägt, irgendwer bei irgendjemandem zu Gast. Einladungen können gar nicht früh genug festgesetzt werden, man müßte sich darauf vormerken, wie auf einen Theatersitz.
Vielleicht hängt diese ausgedehnte Geselligkeit damit zusammen, daß sie Vorwand ist, um einen Einzigen oder eine Einzige bei sich zu sehen, solange man nämlich einander noch nicht nah genug gekommen ist, um der anderen entraten zu können; eine Weile später wird jeder Vierte und Fünfte, der Dritte zumal, als Störung empfunden werden – und noch später wiederum sind die anderen nicht mehr bloßer Vorwand noch Störung, sie sind willkommen, man ist nun einander sicher, ist heimlich, zu ungesellschaftlicher Zeit, einander beigesellt, und nimmt zwischendurch wieder Interesse an anderem.
Madeleine kommt nach einiger Zeit darauf, daß es im »Krähennest« lauter Krähenpaare gibt, nicht nur unter den Schülern haben Florizel und Olivia, Fenton und Rosalind, Malcolm und die hüftenschwingende Jessica –, haben Bassanio und die liebliche Juliet, Benedikt und Beatrice, Arthur und Imogen zueinander gefunden, auch im Stab der Lehrer und Pflegerinnen, der Haus- und Landarbeiter, Köchinnen und Küchenmädchen ist man mehr und minder ernsthafte Bindungen eingegangen, wovon die meisten wohl binnen kurzem von anderen gleich ernsthaften abgelöst werden dürften, während einige sogar zur tragischen Folgerung der Ehe führen mögen.
Die Frage, die vor nicht ganz vier Jahren an der nämlichen Stelle von Jacques und Antonius auf etwas zynische Weise erwogen und erörtert wurde, hat jetzt die selbstverständlichste, die natürlichste Lösung gefunden. Auch jetzt gibt es im »Krähennest« einen ehrgeizigen jungen Lehrer, der schlechterdings mit nichts Geringerem als einer jungen Löwin zufriedenzustellen wäre – so hört es sich wenigstens an –, und doch leibt er bereits seit geraumer Zeit mit der leisesten, zurückhaltendsten, kühlsten und förmlichsten unter allen Krähennestlingen, mit Isabella, der Oberschwester, in stillschweigendem Einverständnis.
Die Befassung mit ihren heiteren, beglückenden und nur sehr selten, wie in Arthurs Fall, trübseligen und beunruhigenden Herzenssachen bindet die jungen Krähen an ihr Nest, sie wissen gut genug, nirgends ließe man ihnen ähnliche Freiheit, nirgendwo anders brächte man ihren Wünschen so viel Verständnis entgegen: Sie halten nämlich für Güte und Nachsicht, was bloß schlaue Berechnung ist!
»Solltest du nicht«, fragt Tristan mit verdächtiger Sanftmut seine Freundin Hermione, »in den neuen Prospekt die Ankündigung einfließen lassen: ›Für passende Liebschaften kann die Leitung zwar keine Gewähr übernehmen, doch leistet sie solchen, die sich in ihrem Wirkungskreis anspinnen, weitestgehenden Vorschub …‹?«
Hermione funkelt Tristan an: »Freilich paßt es dir nicht, daß Bassanio sich neuerdings so viel mit Juliet abgibt und daß Malcolm ganz überraschend der hüftenschwingenden Jessica nachläuft. Du möchtest eben deine Buben lieber für dich allein behalten, einzig«, fügt sie augenzwinkernd hinzu, »um sie in jener Askese zu bewahren, die allein der hohen Kunst gemäß ist.«
Tristan zuckt gleichmütig die Achseln, er ist an solche Eifersuchtsanwandlungen und Temperamentsausbrüche bei Hermione gewöhnt. Am besten ist es, sie gar nicht zur Kenntnis zu nehmen.
Madeleine hätte in diesem nebelig-düsteren Land der triefenden Winter und der wässerig zerfließenden Sommersonne – im Lande der gotischen Kathedralen, der grauen Steinhecken und grauen Steindörfer mit den tief herabhängenden, pagodenartig geschwungenen Strohdächern, der schwelenden Laubscheiterhaufen und überhohen Schornsteine, deren Rauch von den tief niederwehenden Wolkenfederbüschen kaum mehr zu unterscheiden ist –, sie hätte in diesem Bereich der schweigsam-schwerfälligen Erwachsenen bei der Jugend nicht so viel unverbindliche Leichtherzigkeit erwartet, nicht solch ein Schmetterlingswesen in Liebesdingen.
In dem verwahrlosten Park, zwischen verfallenen Gutshäusern und eilig zusammengestoppelten Notstandsbaracken, längs der roh zusammengefügten Steinmauer, die da und dort von Efeu und gelb blühendem Winterjasmin freundlich übergrünt ist, kommen sie herabgeschritten, paarweis:
Die Jünglinge und Knaben grobbeschuht, in langen und weiten Hosen aus geripptem Samt, in allen Schattierungen des Laubes: von zartem Birkengrün zu dem schwärzlichen der Stechpalme, in allen Farben der Baumrinde, von Ahornsilber und Haselbraun zum Olivengrün der Eibe. Über dem farbigen Hemd, dessen zurückgeschlagener Kragen – einen zarten oder sehnigen Hals freigibt, tragen sie eine Holzfällerbluse aus Leder oder eine bunte Wolljacke, sie gehen barhaupt, die blonde oder braune Locke rechts oder links übers Auge fallend.
Die Mädchen sind alle nacktbeinig, viele auch bloßfüßig in luftigen Sandalen, manche tragen grobe Wollsocken zu derben, holzbesohlten Halbschuhen, ihre Röcke aus Baumwolle oder Cheviot sind kurz, die Wollschliefer oder Windjacken nachlässig übergeworfen, ihr lockiges oder straffes Haar fällt lang auf die Schultern hinab, bei wenigen nur ist es knabenhaft kurz gehalten; mehrere darunter sind lieblich, andere Teufelsschönheiten, einige jünglingshaft mager, andere vollbusig und wellenhüftig, jede aber ist mit einem bescheidenen Reiz ausgestattet, und zwar genau demjenigen, der Malcolm oder Lorenzo, Bassanio oder Laertes, Lancelot oder Hamlet, Florizel oder Benedikt – Herzklopfen verursacht.
Sie kommen über den lehmbraunen, überfluteten Weg, als gingen sie auf elysischen Gefilden, als berührten ihre Füße in dem groben Schuhwerk den schlammigen Boden kaum, und als wanderten sie jetzt nicht in ein abgenütztes, vernachlässigtes Haus mit ausgetretenen Holzstiegen, abbröckelndem Verputz, gesprungenen Wänden und rostigen Türschnallen hinüber, sondern als träten sie unter die hochgeschwungenen Schwibbogen ihres Luftschlosses ein, wo Puck und Ariel sie mit zarter Elfenkost bewirten.
Madeleine blickt ihnen nach, mit Rührung und heimlicher Trauer: bei solchem Anblick ist sie wieder siebzehnjährig – und zugleich durchtränkt, durchtränt von aller Erfahrung solcher, die immer mit ihrem Herzen gelebt haben. – Ihr beginnt zu früh – sagt sie sich –, Ihr verdammt euch dazu, vorzeitig, ehe Ihr euer Wesen kennt und für Bindungen reif seid, im engen Haushalt mit kleinlichem Pflichtenkreis eingefangen zu bleiben – oder Ihr kommt, gleichfalls vorzeitig, darauf, daß es nicht dauern kann, daß nichts dauern kann, gar nichts, und auch das ist schlimm, ist schlimmer, denn, wenn es beginnt, sollte man immer glauben, es könne nicht enden! Dann aber wird es für euch zum Gesellschaftsspiel, der Partner zu Tango und Foxtrott wird Liebespartner; er küßt, sobald die Musik abreißt, seiner Tänzerin die Innenfläche der linken Hand und fordert dann eine andere auf, wie auch sie sich einem anderen in die Arme gleiten läßt. Von einem zum anderen Mal wird es dünner, gewöhnlicher, reizloser, fadenscheiniger, man sollte nicht daran denken müssen, denn, trotz allem: Welch lieblicher Anblick! –
Nachzügler kommen, zwei, die nicht darnach aussehen, als schritten sie ihrem Luftschloß entgegen. Auf den ersten Blick dünken sie Madeleine ganz fremd, da sie näherkommen, erkennt sie in dem Burschen den jungen Arthur. So verwandelt sieht er aus, daß ihn zu verkennen begreiflich wird. Sonst blickt er gelangweilt, hochmütig und abwesend über jeden, der ihn anspricht, hinweg – oder durch ihn hindurch, jetzt sieht er zerknirscht und unglücklich drein, verbittert und gekränkt. Leise, unhörbar sogar auf die geringste Entfernung hin, sagt er etwas zu seiner Begleiterin, faßt mit seiner herabhängnden rechten Hand nach ihrer schlaff niederhängenden Linken, sie zuckt zurück, runzelt über ihren gewitterblauen Augen die braunen Brauen, ihr reizendes Gesicht ist verkniffen und verzerrt, noch leiser und zugleich zischend gibt sie ihm etwas Ununterscheidbares zur Antwort, da erblickt sie just Madeleine – und hat im Nu ihre Gesichtszüge geordnet und besänftigt, es ist jetzt ein außerordentlich hübsches, glattes Jungmädchenantlitz, das nämliche, welches Madeleine viermal wöchentlich im Französischen Zimmer vor sich hat.
Den Lehrern in der Télème-Abtei wird nicht das anderwärts übliche Klassenbuch mit Namensregister zur Verfügung gestellt, dadurch verlangsamt sich das Kennenlernen der Schüler, ohne solche sichtbare Beihilfe kann man in wenigen Wochen nicht gut hundertachtzig Namen auswendig behalten und mit den dazugehörigen Physiognomien bekleiden. Madeleine ist beinahe stolz darauf, daß sie Bassanio nicht länger mit seinem Doppelgänger Benedikt, Laertes nicht mehr mit Malcolm, und Romeo nicht mehr mit Florizel verwechselt, der Madeleines Gedächtnis übrigens durch sein Stottern freundlich unterstützt. Es wäre indessen solcher Irrtum verzeihlich, denn jedes Gesicht, jede Gestalt scheint im »Krähennest« zwiefach aufzutauchen: Nur die Kleine mit den schönen dunkelblauen Augen unter gewitternden Brauen – an deren Namen Madeleine sich nicht zu erinnern vermag – und Arthur mit dem aufrechtstehenden flammenden Schopf halten sich einsam abseits, einzig in ihrer Eigenart und unverwechselbar.