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Kapitel 2

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Freitag, 2. Juni 2017

Müde von der Arbeit schloss Ludwig die Glastür zu seinem Unternehmen ab. Er war spät dran. Seine Frau und seine beiden Kinder warteten sicher schon ungeduldig auf ihn. Am Nachmittag hatte er sie angerufen und ihr gesagt, dass es heute später werden würde. Sie hatte etwas von nicht schlimm und Yoga-Kurs gesagt. Aber er war so beschäftigt gewesen, dass er nicht richtig zugehört hatte. Er hatte versprochen, zur Entschädigung mit ihr und den Kindern essen zu gehen.

Ludwig machte sich zu Fuß auf den Weg. Seine Angestellten fanden das merkwürdig. Jemand hatte ihm einmal im Scherz vorgeworfen, er würde durch sein Verhalten das Geschäft schädigen. Sein Haus lag nur etwa einen Kilometer vom Stammhaus in Lamme entfernt. Was sollte er also mit dem Auto fahren? Er machte sich auf den Weg durch die Lammer Wiesen. Er wollte noch schnell zum Bäcker im Einkaufszentrum nahe dem Sportplatz, wo sein Junge am Wochenende immer Fußball spielte. Er lächelte bei dem Gedanken. Seine Kinder waren sein ganzer Stolz. Er war wirklich ein Glückspilz. Er hatte eine schöne, junge Frau und sein Geschäft lief hervorragend. Gerade hatte er eine neue Filiale in Osnabrück eröffnen können.

Schon von weitem kam ihm der Duft von frischen Backwaren entgegen. Er lief über den Parkplatz und betrat die Bäckerei. Frau Winke bediente ihre Kunden wie immer freundlich und gut gelaunt, nur ihre Auszubildende Rabea schien heute etwas mürrisch zu sein. Er betrachtete die blonde junge Frau und lächelte sie an. Doch sie schien es nicht wahrzunehmen. Frau Winke überreichte ihm schließlich die große Papiertüte mit zehn Normalen, nachdem er an die Reihe gekommen war. Er klemmte sich die Tüte unter den Arm. Sie knisterte leise. Er freute sich schon auf das Abendessen mit Sandra und den Kindern. Die Brötchen würden sie am nächsten Morgen zum Frühstück essen. Sonnabends frühstückten sie immer alle zusammen. Er konnte sich das erlauben, denn Paul war ein zuverlässiger Geschäftsführer, der ihn vertreten würde, bis er gegen Mittag kam. Sandra mochte eigentlich lieber frische Brötchen, aber die Kinder wollten sie aufgebacken aus dem Ofen. Das krachte so schön beim Hineinbeißen. Er ging zum Ausgang und wandte sich nach rechts. Der Parkplatz war voller Autos, dennoch sah er keine Menschenseele. Alles schien sich in den Geschäften des Einkaufszentrums versteckt zu halten. Plötzlich bemerkte er einen großen, kräftigen Mann von vielleicht Mitte Vierzig, der sich an seiner Beifahrertür zu schaffen machte. Ludwig sah, wie er sich aufrichtete. Unvermittelt verzog der Mann vor Schmerzen das Gesicht und griff sich an die Brust. Wie ein Sack brach er auf dem Parkplatz zusammen. Erschrocken ließ Ludwig seine Brötchentüte fallen und rannte zu dem am Boden Liegenden.

„Was ist mit Ihnen? Kann ich ihnen helfen?“

Der Mann lag auf der Seite und atmete nicht. Ludwig berührte ihn an der rechten Schulter und versuchte vorsichtig, ihn auf den Rücken zu wälzen. In dem Moment drehte der Mann sich blitzschnell um und packte ihn mit der linken Hand am Nacken. Er presse ihm ein weiches Tuch auf Mund und Nase. Ludwig fühlte, wie sich ätzende chemische Dämpfe in seine Lungen fraßen. Dann verlor er das Bewusstsein.

Sonnabend, 3. Juni 2017

Ohne jede Rücksicht sang Sina Hanke ihren Hit Wir sind atemlos dem noch im Halbschlaf liegenden Norbert Wenger ins linke Ohr. Am liebsten hätte er seine Dienstwaffe gezogen und seinen Radiowecker erschossen. Dem Untersuchungsrichter würde er später erklären, er habe in Notwehr gehandelt.

Denn wir sind atemlos, atemlos, wenn wir uns lieben!“

Das Gerät hatte seine besten Zeiten eindeutig hinter sich. Es schepperte und klirrte bei jedem hohen Ton, der Sina Hankes Kehle entwich. Norbert sah auf die Zeitanzeige. 6.30 Uhr. Die Nacht war kurz gewesen, denn wie üblich hatte Norbert bis in den späten Abend in der Polizeidirektion gesessen, wo sie endlich nach langen Ermittlungen den Mord an einer Braunschweiger Prostituierten aufgeklärt hatten. Er schmeckte noch das kalte, herbe Kelters Pilsener, das er heimlich mit seinen Kollegen auf die Lösung des Falls getrunken hatte. Am Ende war es so spät gewesen, dass er sich zu Hause das Zähneputzen gespart hatte. Wozu hätte er sich auch beeilen sollen? Zu Hause war niemand, der auf ihn wartete. Er war achtundvierzig Jahre alt und geschieden. Dieses Schicksal teilte er wahrscheinlich mit vielen Kollegen. Die Ehe mit Susanne war kinderlos geblieben. Eines Tages hatte sie wortlos die Koffer gepackt, ihm einen Zettel mit der Aufschrift Hasta la Vista, Baby auf dem Küchentisch hinterlassen und war aus dem gemeinsamen Haus im Heidberg ausgezogen. Früher hatten sie viel zusammen gelacht. Susanne hatte einen sehr trockenen Humor, der in ihrem gemeinsamen Freundeskreis immer für eine Menge Heiterkeit gesorgt hatte. Er rechnete nach, wie lange er das Haus in der Stralsundstraße nun schon allein bewohnte. War es wirklich drei Jahre her, seit sie gegangen war? Schon oft hatte er überlegt, das Haus zu verkaufen. Seine Besoldungsgruppe als Hauptkommissar war nicht so üppig, dass er es dauerhaft allein würde halten können. Doch Norbert hoffte noch immer, dass Suse eines Tages zu ihm zurückkehren würde, und deshalb blieb er dort wohnen.

Das Klingeln seines Diensthandys riss ihn aus seinen Gedanken.

„Da bist du ja gerade nochmal davongekommen", sagte er grimmig zu seinem Radiowecker.

Wir feiern die Nacht, bis der Tag erwacht", antwortete dieser ungerührt. Er nahm das Gespräch entgegen.

„Wenger?“

„Morgen, Nobbe, na, noch in Morpheus Armen gelegen?“

„Was ist los, Erkan?“

Er machte keinen Hehl aus seiner schlechten Laune. Sina Hanke hatte ihm eindeutig den Tag verdorben.

„Toter am Kreuzteich. Ein Jogger hat ihn gefunden. Sieht nach Mord aus.“

„Bin in zwanzig Minuten da."

Er drückte auf den kleinen roten Hörer. Dann duschte er schnell und putzte sich notdürftig die Zähne, um die Bierfahne loszuwerden. Er zog sich seinen kragenlosen dunkelgrauen Pulli und eine schwarze Jeans an. Die modische nussbraune Lederjacke, die er sich gerade einige Tage zuvor beim Sale in den Herzog-Arkaden gekauft hatte, war wahrscheinlich zu warm, dennoch nahm er sie mit. Er warf einen Blick in den schlichten raumhohen Spiegel, der noch aus Suses Zeiten stammte, und stellte fest, dass er für sein Alter mit seinem vollen dunklen Haar noch ziemlich vorzeigbar war. Nur sein Bauchansatz machte ihm ein wenig Sorgen. Verdammtes, leckeres Kelters! Er trat aus der Haustür, schloss ab und ging zu seinem Auto, um zu dem Ort zu fahren, den Erkan ihm mitgeteilt hatte. Norbert parkte sein Auto auf dem kleinen Parkplatz hinter der Bushaltestelle. Er zog sich einen weißen Kunsstoffoveral an und streifte Plastikhüllen über seine Schuhe. Dann begab er sich auf den Spazierweg zum Kreuzteich. Riddagshausen war offenbar schon wach. Von weitem sah er, dass das Gelände um den Teich bereits weiträumig vor neugierigen Blicken gesichert worden war. „Polizeiabsperrung“ stand da in schwarzen Buchstaben auf dem rot-weiß gestreiften Plastikband. Er fragte sich, wie oft er in seinen nächsten Dienstjahren noch unter einem solchen Band würde hindurchkriechen müssen. Eine große Traube Schaulustiger hatte sich an der Absperrung versammelt, offenbar in der Hoffnung, einen spektakulären Blick auf das erhaschen zu können, was dort vor sich ging. Einige jüngere Zuschauer hatten ihre Smartphones hervorgeholt und filmten das Geschehen, wahrscheinlich um später dafür auf Facebook möglichst viele Likes zu ergattern. Er merkte, wie er wütend wurde, und machte einen sinnlosen Versuch, die Gaffer zu verscheuchen. Dann hob er das Absperrband hoch und lief über den Weg, der rechts am Kreuzteich vorbeiführte, in Richtung Fundort der Leiche. Er sah, wie seine Kollegen von der Spurensicherung sich an dem Ort zu schaffen machten, Bodenproben entnahmen und die in der Nähe des Toten wachsenden Pflanzen untersuchten. Auch das Ufer des Kreuzteiches wurde in Augenschein genommen. Der Polizeifotograf machte Aufnahmen von allem, was mit dem Tod des Mannes in Verbindung stehen konnte. Nachdem die Spurensicherung ihre Arbeit beendet hatte, trat Norbert Wenger zu dem Rechtsmediziner, der begonnen hatte, den Toten zu untersuchen.

„Wer hat ihn gefunden?"

„Ein gewisser Marvin Rehbein...Rehlein, keine Ahnung, Yildiz hat seine Personalien aufgenommen und ihn für elf Uhr ins FK1 bestellt."

„Todesursache?"

Wieder einmal versuchte er, seinen bayrisch-schwäbischen Akzent zu verbergen. Immerhin lebte er seit über zwanzig Jahren in Braunschweig. Zumindest gelang es ihm inzwischen, seinen norddeutschen Kollegen in Sachen Sparsamkeit beim Sprechen knallhart Konkurrenz zu machen. Aber Hochdeutsch würde er wohl niemals lernen. Anfangs hatte er seine Schwierigkeiten mit der kurz angebundenen Art der Braunschweiger gehabt. Er hatte sie als arrogant und unhöflich, darüber hinaus als stocksteif und humorlos empfunden. Doch mit der Zeit hatte er sich an die dröge Mentalität der Niedersachsen gewöhnt. Seine Heimatstadt Augsburg vermisste er nur noch bezüglich gewisser kulinarischer und alkoholischer Genüsse, wobei er einem guten Kelters Premium vor jedem bayrischen Bier den Vorzug gegeben hätte. Aber echte schwäbische Maultaschen, Kässpätzle und Schupfnudeln hatte er im Norden bislang für seine schwäbischen Geschmacksnerven nur als ungenießbare Fakeversionen auf Jahrmärkten gefunden.

„Das Opfer ist wahrscheinlich mehrfach überfahren worden, hier, er ist von oben bis unten mit riesigen Hämatomen übersät, und ich vermute, dass es in seinem Körper keinen Knochen mehr geben wird, der nicht gebrochen ist. Er muss Fesseln getragen haben, seine Handgelenke weisen Einschnitte auf. Möglicherweise von einem Kabelbinder. Außerdem hat er eine Schnittwunde im Gesicht, die vielleicht von einem Unterbodenblech oder ähnlichem stammt. Die KTU wird die Kleidung des Toten jedenfalls auf Lackreste oder ähnliches untersuchen müssen. Aber die Verletzungen sind typisch."

Norbert mochte den jungen Rechtsmediziner. Sie duzten sich seit einiger Zeit, obwohl Dr. Christoph Zutschke dreizehn Jahre jünger war. Norbert bewunderte Menschen, die nach einer abgeschlossenen Berufsausbildung noch einmal die Schulbank drückten, um von vorn anzufangen. Zutschke hatte ihm einmal erzählt, dass er früher Physiotherapeut gewesen sei, ihm das aber irgendwann nicht mehr gereicht hatte. Und so hatte er Medizin studiert. Er war leidenschaftlicher Forensiker und im Raum Braunschweig einer der Besten seines Fachs.

„Ist der Fundort auch der Tatort?"

„Die Spurensicherung hat nichts dergleichen ergeben", erwiderte Zutschke, „keine Reifenspuren auf dem Weg und auch nicht auf der Grasnarbe. Das Opfer wurde eindeutig post mortem hier abgelegt. Es muss zu Fuß hierher geschleppt worden sein."

„Also Vorsatz."

Zutschke nickte und grinste dabei.

„Ja, die Leiche ist jedenfalls nicht allein hierhergelangt."

„Todeszeitpunkt?"

Norbert war noch zu müde, um auf den Scherz des Rechtsmediziners einzugehen.

„Die Leichenstarre ist voll ausgebildet. Seinem Zustand nach muss er mindestens vierzehn Stunden tot sein. Die Nacht war nicht sonderlich heiß, deshalb gehe ich davon aus, dass er zwischen gestern Mittag 13.00 Uhr und 17.00 Uhr am Nachmittag sein Leben ausgehaucht hat. Genaueres..."

„...nach der Obduktion", beendete Norbert den Satz. „Ist etwas über die Identität bekannt?"

„Das fragst du am besten den schlauen Rolf. Ich bin hier nur der Leichenfledderer."

Zutschke hob bedauernd die Schultern und wandte sich wieder dem Toten zu. Norbert drehte sich um und ging zu dem Ermittler, der eigentlich Rolf-Peter Allershausen hieß. Er war der Leiter der KTU und ein begnadeter Kriminaltechniker, ein Umstand, dem er seinen Spitznamen verdankte. Wer war nur darauf gekommen? Norbert wusste es nicht mehr. Der fast zwei Meter große Techniker hatte offenbar bereits mitbekommen, was Norbert wissen wollte.

„Bei dem Toten handelt es sich um Ludwig König, dreiundfünfzig Jahre alt, steinreicher Besitzer des Nissan-Autohauses König GmbH in Lamme. Er hat Filialen in allen größeren Städten Niedersachsens und noch eine Infiniti-Vertretung in Hannover. Insgesamt sechs Autohäuser. Witziger Name übrigens. Dreh den mal um. Würde mich nicht wundern, wenn sein Haus aussieht wie Neuschwanstein. Jedenfalls ist der ein richtiger Geldsack. Seine Erben werden sich freuen."

Norbert musste immer an John Wayne denken, wenn Allershausen redete. Er hätte gut der Synchronsprecher des US-Schauspielers sein können. „Könnte da das Motiv liegen?" Er sah den Techniker an. Ihm als gebürtigem Bayern war die Namensgleichheit des Opfers und dem bayrischen König Ludwig II. natürlich bereits aufgefallen. Er hätte sich nicht gewundert, wenn der Spitzname des Toten „Kini“ gewesen wäre. Aber das würde er wohl nun nicht mehr erfahren. „Immerhin ist er überfahren worden. Vielleicht hat der Mord mit seinem Beruf zu tun."

„That's your job." Der schlaue Rolf packte seine Utensilien zusammen, um sich im nächsten Moment mitsamt seinem großen schwarzen Technikerkoffer in seinen schon etwas in die Jahre gekommenen goldfarbenen Peugeot zu setzen und in Richtung Polizeidirektion davonzubrausen. Dort würde er die Ergebnisse seiner Untersuchungen in einem kleinen, aber mit allen technischen Finessen eingerichteten Büro auswerten.

Nach dem Gespräch mit dem Rechtsmediziner und nachdem alle Arbeiten am Fundort erledigt worden waren, ging Norbert in Richtung Absperrband, wo er auf den Leichenwagen wartete, der die sterblichen Überreste Ludwig Königs in die Rechtsmedizinische Abteilung des Klinikums Celler Straße bringen würde. Seit einiger Zeit hatte das Fachkommissariat 1, kurz FK1, wie sich die Abteilung für Tötungsdelikte nannte, ein neues Bestattungsunternehmen unter Vertrag, nachdem man festgestellt hatte, dass der bisherige Bestatter der örtlichen Presse gegenüber allzu aufgeschlossen gewesen war, wenn es sich bei seinen Klienten um Tote handelte, die gewaltsam aus dem Leben gerissen worden waren. Der neue Bestatter hatte sich als schnell und zuverlässig und ebenso verschwiegen erwiesen und so den alten nach zwanzig Jahren abgelöst.

Von fern sah Norbert den Leichenwagen über die Ebertallee in Richtung Kreuzteich kommen. Er winkte dem Fahrer und seinem Helfer zu und bedeutete ihnen, hinter ihm herzufahren. Er hob das Absperrband an, um dem Totentransporter die Durchfahrt zu ermöglichen. Die Gaffer hatten die Szene inzwischen verlassen. Offenbar gab es nichts mehr, mit dem man seine Sensationsgier hätte befriedigen können. Am Fundort angekommen, öffneten die beiden Bestatter die Flügeltüren des Fahrzeuges und holten den silberfarbenen Zinksarg heraus, in dem König seine Fahrt in die Rechtsmedizin antreten würde. Ein paar Beamte entfernten schließlich das Band, nichts erinnerte nun noch daran, dass hier vor wenigen Stunden eine ganze Horde von Ermittlern nach den Spuren eines Mordes gesucht hatten. Gleich fallen die Spaziergänger am Teich ein, dachte Norbert. Sein Magen knurrte. Wie gern wäre er ins nahe gelegene Café Teatime gegangen, um zu frühstücken. Er blickte an sich hinunter und sah seine Kelters-Plauze. Zeit für einen Fastentag, dachte er, und stieg in seinen Wagen.

Drei Monate zuvor

Manchmal kann ich das Gelaber nicht mehr ertragen. Ich sitze hier und höre mir das Gequatsche meiner Klienten an. Mein Gott, die tun alle so, als wäre das, was sie zu sagen haben, wirklich wichtig. Sie sitzen da auf dem Sessel und texten mich zu mit ihren kleinen Scheißproblemen. Am schlimmsten ist die Dicke, die sich hier jede Woche die Augen aus dem Kopf heult, weil ihr Alter sie sitzen gelassen hat. Kein Wunder, an so'n Schwabbel würde ich auch nicht mehr rangehen. Aber natürlich ist alles nur seine Schuld. Er hat sie mit einer Jüngeren betrogen. Mit einer hübschen, schlanken Blonden. Er hat fremdgefickt, hat sie gesagt. Ich hasse dieses Wort. Mama hat früher immer gesagt, sie will das böse Wort mit f in ihrem Haus nicht hören. Aber Schwabbel hat es gesagt. Gefickt. Am liebsten hätte ich gesagt, sie solle mal was für ihre Figur tun, dann würde ihr Alter auch wiederkommen. Aber das geht natürlich nicht. Das ist das Öde an diesem Beruf. Man kann nicht sagen, was man wirklich denkt. Manche meiner Klienten sind einfach austherapiert. Denen kann man nicht helfen. So wie dieser Alkoholiker. Heute war er wieder da. Natürlich hat er die Woche wieder mal nicht trocken überstanden. Ich habe seine Fahne schon gerochen, bevor er die Praxis betreten hat. Ich habe eine sehr empfindliche Nase, wenn es um Alkoholgeruch geht. So hat es bei uns immer gerochen. Tag und Nacht. Mama hatte immer eine Fahne. Wie ich sie dafür gehasst habe! Papa hat sich deswegen aus dem Staub gemacht. Ich hätte mitgehen sollen. Papa hat sein Leben wenigstens in den Griff gekriegt, nach damals. Aber Mama? Sie hat einfach weitergesoffen. Und ich konnte zusehen, wie ich klarkomme. Ein Wunder, dass ich die Schule beenden konnte, Abi gemacht hab, studiert hab. Mein Gott. Meine Voraussetzungen waren wirklich nicht optimal. Aber ich habe es geschafft. Für Julia. Der Alkoholiker hat noch nicht einmal ansatzweise sein Problem erkannt. Er weiß selber nicht, warum er säuft, hat er gesagt. Wie kann man nicht wissen, warum man säuft? Ich habe Alkohol noch nie angerührt. Ich weiß gar nicht, wie der schmeckt. Ich kann mir nicht vorstellen, was die Leute daran finden. Oder wieso man so viel trinken muss, dass man nicht mehr ohne sein kann. Aber es gibt immer eine Ursache, das weiß ich. Bei Mama ist mir wenigstens klar, woran es lag. Aber bei diesem Säufer? Keine Ahnung. Eigentlich ist es mir auch egal. Der hört nie damit auf, glaube ich. Jetzt ist der schon seit drei Monaten bei mir in Behandlung, und wir sind noch keinen Schritt weitergekommen. Irgendwann werde ich ihn als nicht therapierbar entlassen.

„Bin ich zu szpät?", fragte die kleine, blonde Frau erschrocken. Dabei sprach sie das sp des Wortes spät nicht mit dem üblichen sch-Laut aussprach, sondern nur mit einem scharfen, zischenden s-Laut vor dem p. Sie rupfte ihre Patchworkledertasche, die eher an einen schäbigen Sack als an eine Handtasche erinnerte, von ihrer Schulter und ließ sie auf den Boden fallen.

„Kommt drauf an, wer Sie sind.“ Max Kaltofen musterte die Unbekannte von oben bis unten.

„Sorry." Sie schlug peinlich berührt die Augen gen Himmel. Dann ging sie auf Kaltofen zu und streckte ihm ihre rechte Hand entgegen. Zögernd nahm er sie in seine, während er sein Gegenüber mit unverhohlenem Misstrauen musterte.

„Gaby Grothewohl, Hauptkommissarin. Ich bin die Neue. Ich soll mich bei Hauptkommissar Norbert Wenger melden."

„Der ist gerade an einem Tatort. Ich bin übrigens Kommissar Max Kaltofen.“ Er riss den linken Arm hoch und drehte sein Handgelenk vor sein Gesicht, um auf die Uhr zu schauen. „Herr Wenger müsste aber jeden Moment wieder kommen."

Gaby Grothewohl schob die Unterlippe vor, während er sie neugierig betrachtete. Doch dann plapperte sie drauf los, woher sie kam, an welchen Fällen sie gearbeitet hatte und dass sie sich freue, eine neue Aufgabe in Angriff nehmen zu dürfen. Sie war eine etwas merkwürdige, aber durchaus nett anzusehende Erscheinung, höchstens einen Meter fünfundsechzig groß und recht üppig. Dennoch schien sie sehr wendig zu sein. Ihr Alter schätzte er auf Ende Dreißig. Ihr hellblond gefärbtes Haar war kraus und auf dem Kopf zu einem Gebilde zusammengebunden, das ihn an einen Staubwedel erinnerte. Am Haaransatz konnte man die wahre Haarfarbe erahnen, ein eher undefinierbares Straßenköterbraun. Um den Hals trug die Frau eine dicke goldene Kette, ihre Ohrläppchen zierten schwere goldene Kreolohrringe und an ihrem rechten Handgelenk klimperten circa zehn dünne goldene Armreifen, die alle, wie Max flüchtig bemerkte, unterschiedlich gemustert waren. In ihrer weißen Lederjacke, der hellblauen Jeansbluse und passender Hose sowie den weißen, protzigen Cowboystiefeln hätte er sie auf Anhieb niemals als Polizistin identifiziert. Ihre Lippen waren mit knallrotem Lippenstift geschminkt. Ihre Haut war so braun, dass er glaubte, sie sei direkt aus dem Urlaub am Ballermann gekommen, aber das konnte auch Make-up sein oder eine zu hoch eingestellte Sonnenbank. Am auffälligsten war jedoch ihre Sprache. Noch nie hatte er ein derart breites Braunschweigisch gehört. Er musste sich zusammenreißen, damit er nicht bei jedem ihrer Sätze losprustete. Das würde eine interessante Mischung, wenn die mit dem Bazi arbeitete. So nannte Max seinen bayerischen Vorgesetzten insgeheim, meinte es aber durchaus liebevoll. Die Kollegin schien seine Gedanken erahnt zu haben.

„Ja, Herr Kollege", sagte sie selbstbewusst und lächelte, „wir Bronschwaager sztolpern über szpitze Staane."

Max versuchte, sich das Grinsen zu verkneifen, aber es gelang ihm nicht. Er wollte gerade einen witzigen Kommentar ablassen, als die Bürotür aufging und Norbert Wenger eintrat. Max sah, wie sein Chef die neue Kollegin verwundert musterte und ihr dann die Hand reichte.

„Norbert Wenger", stellte er sich vor, „Sie sind sicher die neue Kollegin aus Hannover."

„Hauptkommissarin Gaby Grothewohl, sehr angenehm. Ja, Hannover. Aber ich froi mich, wieder in der alten Haamat zu saan."

Sie trug ihre Vorstellung so zackig vor, dass sich Max nicht gewundert hätte, wenn sie anschließend salutiert hätte. Er warf seinem Vorgesetzten einen Blick zu. Wieder gelang es ihm nur mühsam, sich das Lachen zu verbeißen. Um der Situation zu entkommen, bat er Gaby Grothewohl, ihm zu ihrem Schreibtisch zu folgen. Sogleich wollte sie sich häuslich einrichten, wurde jedoch von Norbert Wenger gebremst.

„Das können Sie später machen".

Max fand, dass es eine Spur zu unwirsch klang. Dann fügte Wenger etwas freundlicher hinzu: „Wir haben einen Mordfall. Männliche Leiche, dreiundfünfzig Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, Autohausbesitzer. Ist mehrfach überfahren worden. Das Motiv ist völlig unklar. Autohaus König GmbH, schon mal gehört?"

„Könich? DER Könich? Der mit der Infiniti-Vertretung und dem Nissan-Autohaus in Hannover?"

„Der mit DEN Nissan-Autohäusern in ganz Niedersachsen", verbesserte Wenger. Gaby Grothewohl stieß einen Pfiff durch die Zähne.

„Sind die Anjehörjen schon versztändigt worden?"

Wenger verneinte.

„Da fahren wir beide jetzt hin. Wollen Sie die Nachricht überbringen?"

Max hörte die Begeisterung in Gaby Grothewohls Stimme, als sie antwortete.

„Natürlich gern, wenn Sie das nicht machen wollen!"

„Wer überbringt schon gern Todesnachrichten?"

Sie standen auf und verließen das Büro. Nach einigen Augenblicken konnte Max durch das Fenster erkennen, wie die beiden in Richtung Dienstparkplatz liefen.

Der Prinzenparkmörder

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