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Angst vor der Dunkelheit

Ich hatte immer schreckliche Angst im Dunkeln. Als ich als buddhistische Nonne in Korea lebte, waren die Lebensumstände sehr einfach, und die Toiletten befanden sich außerhalb des Gebäudes. Ich hatte große Angst davor, nachts rauszumüssen, weil ich die Vorstellung hatte, ein Mann mit einem Messer würde sich von hinten anschleichen und mich angreifen. Eines Winters beschlossen meine Mit-Nonnen und ich, fünf Nächte lang zu meditieren und nicht zu schlafen. Ich war sehr beunruhigt. Wie sollte ich es schaffen, nachts zur Toilette zu gehen? Ich ging also zu meinem Zen-Meister Kusan Sunim und bat ihn um Rat. Er sagte mir, dass ich immer dann, wenn die Angst hochkäme, zum Kern meiner Meditation zurückkehren sollte, und das ist im koreanischen Zen die Frage: »Was ist das?«

Ich dachte, die Frage des Zen-Meisters würde wie eine Art Talisman funktionieren und mich von daher vor jeder Gefahr beschützen. Es funktionierte gut. Meine Angst schwand, wenn ich hinaus zur Toilette ging, und ich überstand diese Nachtsitzungen. Einige Zeit später dämmerte es mir, dass es sich dabei überhaupt nicht um einen Zaubertrick gehandelt hatte. Mein Lehrer hatte mir die Aufmerksamkeit für den gegenwärtigen Augenblick als Geschenk gemacht. Sobald ich auf dem Weg zur Toilette zu meiner Frage »Was ist das?« zurückkehrte, fühlte ich keine Angst mehr, sondern spürte, wie meine Füße den Boden berührten, und realisierte, dass ich mich tief in den Bergen in einem großen koreanischen Kloster befand. Wer sollte überhaupt wissen, dass ich da war, geschweige denn mich mitten in der Nacht angreifen wollen?

Solche Gefühlsmuster haben uns oft im Griff, und wir verstärken sie dann durch vertraute Gedankenmuster. Es ist ganz natürlich, im Dunkeln Angst zu haben. Es ist ein guter Überlebensmechanismus und eine wertvolle Anpassungsstrategie. Weil wir im Dunkeln nicht gut sehen können, ist unser autonomes Nervensystem aktiviert, und wir sind bereit, beim leisesten Anzeichen von Gefahr zu fliehen. Auch heute noch ist dieser Mechanismus für eine Frau, die sich allein in einem ihr unbekannten Stadtteil bewegt, wichtig. Doch im ländlichen Korea war ich des Nachts viel sicherer als am Tage, wenn sich alle möglichen Menschen auf dem Klostergelände aufhielten. Einige Verhaltensmuster sind instinktive Reaktionen, die eigentlich nicht länger sinnvoll sind. Doch wenn Sie uns im Griff haben, erleben wir die Angst und den Stress, die sie auslösen.

Wer verändert sich?

Mein Neffe und meine Großmutter kamen nicht gut miteinander zurecht. Einmal mussten beide für vier Wochen allein im Haus meiner Mutter zubringen, und ich wurde gerufen, um als Friedensstifterin zu wirken. Als ich kam, war der Krieg bereits erklärt, und beide sprachen nicht mehr miteinander. Da meine Großmutter 85 war und mein Neffe 24, dachte ich, dass mein Neffe leichter einlenken könnte als meine Großmutter. Ich nahm ihn beiseite und fragte ihn, was ihn denn so an ihr aufrege. Er sagte, er habe Schwierigkeiten mit der Art und Weise, wie sie die Dinge tue, und selbst wenn sie über etwas sprächen, wären sie nie einer Meinung.

Ich fragte ihn, ob er glaube, es sei realistisch, von unserer Großmutter zu erwarten, sie würde sich ihm zuliebe ändern. Er dachte eine Weile darüber nach und stimmte dann zu, dass Großmutter zu alt und festgefahren sei, um sich zu ändern. Er akzeptierte, dass er nichts anderes tun könne, als sich an sie anzupassen und sich anders zu verhalten. Ein Waffenstillstand wurde erklärt und ein Frieden hergestellt, der für die Dauer von drei Wochen auch zu halten versprach. Und ich konnte leichten Herzens wieder abreisen. Ein paar Monate später hörte ich zufällig, wie mein Neffe meiner Mutter, die gerade Probleme mit der Großmutter hatte, erklärte, dass sie wirklich nicht von ihrer Mutter erwarten könne, ihr Verhalten zu ändern, und dass sie stattdessen selbst flexibler sein solle.

Wenn Menschen übereinstimmende Muster haben, dann neigen sie zu einem harmonischen Miteinander. Sind die Muster nicht kompatibel, kommt es leicht zu Spannung und Streit. Vor allem aus diesem Grund entwickeln sich soziale und kulturelle Strukturen. Im Allgemeinen mögen Menschen es nicht, wenn ihre Muster zerstört werden. Sie haben es lieber, wenn die Dinge in gewohnter Weise vor sich gehen. Damit fühlen sie sich wohl. Doch führt das auch zu der Art von Stagnation und Starre, gegen die jüngere Generationen rebellieren, um ihre eigene Identität zu finden. Trotzdem wird selbst ein rebellischer Teenager einige tradierte elterliche Verhaltensmuster übernehmen, während er auf der anderen Seite neue Gewohnheiten und neue Wege, mit Dingen umzugehen, entwickelt. Mit der Zeit existiert Altes und Neues nebeneinander und bereichert sich sogar. Stabilität und Wandel sind für das Wachstum und die Entwicklung eines Menschen und einer Gesellschaft gleichermaßen notwendig. Und so findet man beim Hinterfragen der eigenen Verhaltensmuster einige, die vollkommen zweckmäßig sind, und andere, die man radikal ändern sollte.

Ich beobachte oft die schmerzvollen Auswirkungen, die durch die negativen Muster eines Menschen verursacht werden, und wünsche ihm so sehr, dass er sieht, was er tut - und sich dann ändert. Der Schmerz, den Menschen sich selbst und anderen bereiten, ist so offenkundig, dass man sich wundert, warum sie dieselben Dinge immer wieder sagen oder tun. Eingefleischte Verhaltensmuster sind nicht so einfach zu überwinden, ungeachtet dessen, wie wohltuend es für den Betreffenden wäre, sein Verhalten zu ändern. Das erste Problem, dem wir uns stellen müssen, ist, dass es sehr schwierig sein kann, eigene Gewohnheiten klar zu erkennen. Einige mögen uns bewusst sein, während wir blind für andere sind, bis uns jemand darauf stößt.

Blind für Gewohnheiten

Als junge Nonne in Korea gehörte es zu meinen Aufgaben, mich um die westlichen Besucher zu kümmern, die gelegentlich unser Kloster aufsuchten, und ihre Fragen zum Buddhismus zu beantworten. Unglücklicherweise war es für mich immer schwierig, mich an die vielen Begrifflichkeiten und Lehrsätze zu erinnern, auf die der Buddhismus oft so stolz ist. Eines Nachmittags versuchte ich die Vier Edlen Wahrheiten zu erklären (und mich an sie zu erinnern!) - die Grundlage der buddhistischen Lehre. Ich war erleichtert, als mir wenigstens die ersten beiden einfielen: die Wahrheit des Leidens und, als dessen Ursprung, die des Begehrens. Doch ich konnte nicht die dritte nennen, obwohl sie mir auf der Zunge lag. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie ein Mönch einen Eimer voller Kaki-Früchte davontrug, die ich am Nachmittag gepflückt hatte. Ich sprang auf, lief zu ihm hin, riss ihm den Eimer aus der Hand und machte ihm unmissverständlich klar, wem die Kaki-Früchte gehörten. Als ich zu unseren Gästen zurückkehrte, fielen mir die letzten beiden edlen Wahrheiten ein: Es kann ein Ende des Begehrens geben, und es gilt den Edlen Achtfachen Pfad zu kultivieren.

Nachdem die Besucher gegangen waren, fragte mich eine Nonne, die in der Nähe gesessen und die ganze Situation beobachtet hatte, ob ich etwas Seltsames bemerkt hätte. »Seltsames?«, sagte ich.

»Ja, in deinem Verhalten«, erwiderte sie.

»In meinem Verhalten?«

»Ja, du wurdest so wütend, als du bemerkt hast, dass der Mönch deinen Eimer mit den Kaki-Früchten davongetragen hat, während du gerade dabei warst, die Vier Edlen Wahrheiten zu erklären. Das war seltsam.«

Erst als sie das so sagte, wurde mir bewusst, was ich getan hatte. Ich hatte gedankenlos und blind auf den »Dieb« »meiner« Kaki-Früchte reagiert.

Ein Verhaltensmuster kann uns so zur Gewohnheit werden, dass wir kaum noch bemerken, zu was es uns treibt. Man fühlt automatisch, denkt automatisch und handelt automatisch. Gefühle, Gedanken und körperliche Empfindungen sind so miteinander verwoben, dass nur schwer zu erkennen ist, welches das automatische Verhalten ausgelöst hat. In solchen Momenten wissen wir vielleicht nur, dass wir uns im Klammergriff eines Verhaltensmusters befinden, das für uns und andere schmerzvolle Folgen hat. Wir verstärken diese Muster oftmals durch unser sich wiederholendes Denken und Fühlen und kommen dadurch zu der Überzeugung, dass wir keine Wahl haben, als so zu sein, wie wir sind. Wie oft denken oder sagen wir, um uns für irgendetwas, das wir getan haben, zu rechtfertigen: »So bin ich einfach. Da kann ich nichts dran machen.« Doch sind wir wirklich so in unseren Gewohnheiten gefangen, wie wir glauben?

Wenn etwas Unerwartetes geschieht, was tun wir dann? Oft sind wir in dem uns vertrauten Drehbuch gefangen und identifizieren uns damit, aber das muss nicht so sein. Kleine Veränderungen können einen interessanten und entscheidenden Unterschied machen.

Vor kurzem verbrachte ich einige Stunden damit, ein Manuskript zu korrigieren, und dann löschte ich versehentlich alle Korrekturen, weil ich einen Befehl meines Computerprogramms falsch verstanden hatte. Das Wort »dumm« kam mir sofort in den Sinn. Doch obwohl ich etwas Dummes getan hatte, hieß das nicht, dass ich mich mit der inneren Stimme in meinem Kopf identifizieren musste, die mir sagte, welch dumme Person ich sei. Solche Dinge passieren aufgrund verschiedener Bedingungen und Ursachen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt Zusammentreffen. Doch es wäre falsch, sich mit auch nur einem dieser Umstände zu identifizieren. Es ist leicht und vielleicht auch verführerisch, sich zu sagen: »Ich bin wirklich dumm.« Doch sobald wir uns mit so etwas wie Dummheit identifizieren, fixieren wir uns auf eine enge und unvollständige Wahrnehmung unserer selbst.

Von Angst gepackt

»Da ist Angst in meinem Kopf« beschreibt eine Erfahrung. »Ich bin ängstlich« ist der Beginn einer Identifikation mit dieser Erfahrung. »Ich bin ein ängstlicher Mensch« verfestigt die Erfahrung. Zu anderen Zeitpunkten benutzen wir diese Sätze dann vielleicht, um eine ähnliche Erfahrung zu beschreiben. Doch jede erfasst eine für sich allein stehende Wahrnehmung, die wir von uns haben und die uns unterschiedlich empfinden lässt. Je öfter wir solche Sätze wiederholen, desto mehr verdrängen wir diese Wahrnehmung und dieses Gefühl.

»Wovor habe ich Angst?«, »Woher kommt die Angst?«, »Wer hat Angst?«. Solange wir uns diese Fragen stellen, erhalten wir uns die Möglichkeit, den Ursprung und die Bedingungen der Angst anzuschauen. Das wiederum lässt uns die Dinge anders wahrnehmen und die Identifikation und Erstarrung damit zu reduzieren. Es wird leichter möglich, mit uns selbst auszukommen, wenn wir weniger starre Ansichten darüber besitzen, wer wir sind. Denn sobald wir davon überzeugt sind, dass wir von Natur aus ein ängstlicher Mensch sind, stecken wir fest. Dann können uns die harmlosesten Dinge ängstigen. Es kommt uns dann so vor, als wäre Angst der natürliche Zustand.

Alle paar Jahre gehe ich nach Südafrika, um Meditation zu lehren. Durch die Bilder und Berichte in den Medien könnte man leicht meinen, dass dies ein sehr gefährliches Land sei. Und tatsächlich ist Südafrika das auch für einige Menschen an einigen Orten. Doch auf all meinen Reisen, die mich durch das ganze Land führten, war ich kein einziges Mal in Gefahr. Dennoch hatte ich in Südafrika große Angst. Warum?

Nach einer Weile erkannte ich, dass das, was mich in Angst versetzte, nicht die Gegenwart irgendeiner realen Gefahr war, sondern die Angst anderer Leute. Wann immer ich mit Südafrikanern zusammen war, die nervös und ängstlich waren, wurde auch ich nervös und ängstlich. Es war ein ansteckendes Gefühl. Doch war ich mit starken, optimistischen Leuten zusammen, die auch gegen die Apartheid gekämpft hatten, dann hatte ich überhaupt keine Angst. Seitdem strebe ich nach einer Furchtlosigkeit, die ich auch an andere weitergeben kann. Welch größeres Geschenk ist möglich, als sich und anderen geistigen Frieden zu geben?

Südafrika ist ein ausgezeichneter Ort, um zu lernen, mit Angst umzugehen. Solange ich keine auffälligen oder teuren Dinge trage oder mit mir herumschleppe und solange ich mich angemessen kleide, kann ich sicher sein, alles Nötige gemäß meinen Überlebensinstinkten getan zu haben. Dann kann ich das Leben genießen, wie es gerade kommt. Bei meinen Besuchen sozialer Projekte in den Townships oder meinen Treffen mit Menschen in ihren kleinen, rauchigen Hütten habe ich viel gelernt und erfahren. Ich treffe sie als Menschen, die ihr eigenes Leben führen, die leiden und sich freuen, so wie ich. Ich habe kein bedrohliches, eindimensionales Bild mehr von ihnen im Kopf. Sie sind einfach Menschen wie ich selbst, die versuchen, ein erfülltes Leben inmitten schwieriger Umstände zu führen.

Manchmal unterrichte ich auch Meditation in einem Männergefängnis in der Nähe von Kapstadt. Die meisten der Insassen, mit denen ich meditiere, sind Mörder oder haben andere Gewaltverbrechen verübt. Aber sie haben meditieren gelernt und praktizieren das sehr fleißig. Die Meditation hilft ihnen, ihre destruktiven Verhaltensmuster klarer zu erkennen und zu verstehen, warum sie da sind, wo sie jetzt sind. Viele von ihnen sehen die Zeit im Gefängnis als Gelegenheit zur persönlichen Veränderung. Sie sind vielleicht im Gefängnis eingesperrt, aber sie müssen nicht das Gefühl zu haben, auch geistig eingesperrt zu sein.

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