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ZWEITES KAPITEL

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Ganz zu Anfang, im dunklen Treppenhaus, war Dottie recht sonderbar zumute. Da schlich sie nun, erst zwei Tage nach Kays Hochzeit, zu einem Zimmer hinauf, das ausgerechnet Haralds ehemaligem Zimmer gegenüberlag, wo mit Kay das Gleiche passiert war. Ein beklemmendes Gefühl – wie früher, wenn die Clique zur gleichen Zeit ihre Tage bekam. Man wurde sich auf eigentümliche Weise seiner Weiblichkeit bewusst, die wie die Gezeiten des Meeres der Mond regierte. Seltsame, belanglose Gedanken gingen Dottie durch den Kopf, als der Türschlüssel sich im Schloss bewegte und sie sich zum ersten Mal allein mit einem Mann in dessen Wohnung befand. Heute war Mittsommernacht, die Nacht der Sonnenwende, da die Mädchen ihr höchstes Gut darbrachten, damit es reiche Ernte gebe. Das wusste sie von ihren folkloristischen Studien über den Sommernachtstraum. Ihr Shakespeare-Lehrer war sehr an Anthropologie interessiert. Er hatte sie im Frazer die alten Fruchtbarkeitsriten nachlesen lassen und dass die Bauern in Europa noch bis vor Kurzem zu Ehren der Kornjungfrau große Feuer anzündeten und sich dann in den Feldern paarten. Das College, dachte Dottie, war fast zu reich an Eindrücken. Sie fühlte sich vollgepfropft mit interessanten Gedanken, die sie nur ihrer Mutter, aber keinesfalls einem Mann mitteilen konnte. Der hielte einen wahrscheinlich für verrückt, würde man ihm, wenn man gerade seine Jungfräulichkeit verlieren sollte, von der Kornjungfrau erzählen. Selbst die Clique würde lachen, wenn Dottie gestand, dass sie ausgerechnet jetzt Lust auf ein ausgiebiges Gespräch mit Dick hatte, der so wahnsinnig attraktiv und unglücklich war und so viel zu geben hatte. Freilich würde die Clique nie im Leben glauben, dass sie, Dottie Renfrew, jemals hierhergekommen war, in ein Dachzimmer, das nach Bratfett roch, zu einem Mann, den sie kaum kannte, der kein Hehl aus seinen Absichten machte, der mächtig getrunken hatte und sie ganz offensichtlich nicht liebte. So krass ausgedrückt konnte sie es selbst kaum glauben, und der Teil ihres Ichs, der ein Gespräch wünschte, erhoffte wohl immer noch eine Frist, wie beim Zahnarzt, wo sie sich jedes Mal über alles Mögliche unterhielt, um den Einsatz des Bohrers noch einmal aufzuschieben. Dotties Grübchen zuckte. Was für ein verrückter Vergleich! Wenn die Clique das hören könnte!

Und dennoch, als »es« geschah, war es gar nicht so, wie die Clique oder selbst Mama es sich vorgestellt hätten, überhaupt nicht eklig oder unästhetisch, obwohl Dick betrunken war. Er war äußerst rücksichtsvoll, entkleidete sie langsam und sachlich, als nehme er ihr nur den Mantel ab. Er tat ihren Hut und Pelz in den Schrank und öffnete dann das Kleid. Der konzentrierte Ernst, den er den Druckknöpfen widmete, erinnerte sie an Papa, wenn er Mamas Partykleid zuhakte. Sorgfältig zog er ihr das Kleid über den Kopf, musterte erst das Firmenetikett und dann Dottie, ob sie auch zueinander passten, ehe er es, im gemessenen Schritt, zum Schrank trug und sorgfältig auf einen Bügel hängte. Danach faltete er jedes weitere Kleidungsstück zusammen, legte es umständlich auf den Sessel und besah sich dabei jedes Mal stirnrunzelnd das Firmenetikett. Als sie ohne Kleid dastand, wurde ihr sekundenlang etwas flau, aber er beließ ihr das Unterkleid, genau wie beim Arzt, während er ihr Schuhe und Strümpfe auszog und Büstenhalter, Hüftgürtel und Hemdhose öffnete, sodass sie, als er ihr mit größter Sorgfalt, um ihre Frisur nicht zu zerstören, das Unterkleid über den Kopf zog, schließlich, nur mit ihren Perlen bekleidet vor ihm stehend, kaum noch zitterte. Vielleicht war Dottie deshalb so tapfer, weil sie so oft zum Arzt ging oder weil Dick sich so unbeteiligt und unpersönlich verhielt, wie man es angeblich gegenüber einem Aktmodell in der Malschule tat. Er hatte sie, während er sie auszog, überhaupt nicht berührt, nur einmal versehentlich gekratzt. Dann kniff er sie leicht in jede ihrer vollen Brüste und forderte sie auf, sich zu entspannen, im selben Ton wie Dr. Perry, wenn er ihr Ischias behandelte.

Er gab ihr ein Buch mit Zeichnungen und verschwand in der Kammer, und Dottie saß im Sessel und bemühte sich, nicht zu lauschen. Das Buch auf dem Schoß, betrachtete sie eingehend das Zimmer, um mehr über Dick zu erfahren. Zimmer konnten einem eine Menge über einen Menschen erzählen. Dieses hatte ein Oberlicht und ein großes Nordfenster, für ein Männerzimmer war es ungemein ordentlich. Da war ein Zeichenbrett mit einer Arbeit, die sie brennend gern angesehen hätte, da war ein einfacher langer Tisch, der aussah wie ein Bügeltisch, an den Fenstern hingen braune Wollvorhänge, auf dem schmalen Bett lag eine braune Wolldecke. Auf der Kommode stand die gerahmte Fotografie einer blonden, auffallenden Frau mit kurzem strengen Haarschnitt, wahrscheinlich Betty, die Ehefrau. Ein Foto, vermutlich Betty im Badeanzug, sowie einige Aktzeichnungen waren mit Reißzwecken an der Wand befestigt. Dottie hatte das bedrückende Gefühl, dass sie ebenfalls Betty darstellten. Sie hatte sich bisher alle Mühe gegeben, nicht an Liebe zu denken und kühl und unbeteiligt zu bleiben, weil sie wusste, dass Dick es nicht anders haben wollte. Es war rein körperliche Anziehung, hatte sie sich immer wieder vorgesagt, im Bemühen, trotz ihres Herzklopfens kühl und beherrscht zu bleiben, aber jetzt plötzlich, als sie nicht mehr zurück konnte, war es um ihre Kaltblütigkeit geschehen und sie war eifersüchtig. Schlimmer noch, ihr kam sogar der Gedanke, Dick sei vielleicht pervers. Sie schlug das Buch auf ihrem Schoß auf und sah wieder Akte vor sich, signiert von irgendeinem modernen Künstler, von dem sie noch nie gehört hatte. Sie wusste nicht, was sie, nur eine Sekunde später, eigentlich erwartet hatte, aber Dicks Rückkehr erschien ihr im Vergleich weniger schlimm.

Er kam in kurzen weißen Unterhosen, hatte ein Handtuch mit eingewebtem Hotelnamen in der Hand, schlug die Bettdecke zurück und breitete es über das Laken. Er nahm ihr das Buch fort und legte es auf einen Tisch. Dann sagte er Dottie, sie solle sich auf das Handtuch legen, forderte sie wieder mit freundlicher, dozierender Stimme auf, sich zu entspannen. Während er eine Minute lang, die Hände in die Hüften gestützt, dastand und lächelnd auf sie hinunterblickte, bemühte sie sich, natürlich zu atmen, dachte an ihre gute Figur und rang sich ein zaghaftes Lächeln ab. »Es wird nichts geschehen, was du nicht willst, Baby.« Die sanfte Nachdrücklichkeit, mit der die Worte gesprochen wurden, verrieten ihr, wie angstvoll und misstrauisch sie wohl aussah. »Ich weiß, Dick«, erwiderte sie mit einer kleinen, schwachen, dankbaren Stimme und zwang sich, seinen Namen zum ersten Mal auszusprechen. »Möchtest du eine Zigarette?« Dottie schüttelte den Kopf und ließ ihn auf das Kissen zurückfallen. »Also dann?« – »Ja. Gut.« Als er zum Lichtschalter ging, durchzuckte sie dort unten wieder das erregende Pochen, wie schon im italienischen Restaurant, als er sie gefragt hatte: »Willst du mit mir nach Hause kommen?« und dabei seinen tiefen, verhangenen Blick auf sie heftete. Jetzt drehte er sich um und sah sie, die Hand am Schalter, wieder unverwandt an. Ihre Augen weiteten sich vor Staunen über das merkwürdige Gefühl, das sie an sich wahrnahm, als stünde die Stelle dort im Schutz ihrer Schenkel in Flammen. Sie starrte ihn, Bestätigung suchend, an, sie schluckte. Als Antwort löschte er das Licht und kam, seine Unterhose aufknöpfend, im Dunkeln auf sie zu.

Diese Wendung versetzte sie einen Augenblick lang in Angst. Sie hatte niemals diesen Teil des männlichen Körpers gesehen, außer an Statuen und einmal mit sechs Jahren, als sie unverhofft Papa in der Badewanne erblickt hatte, doch sie hatte damals den Verdacht, es sei etwas Hässliches, dunkelrot Entzündetes, von borstigen Haaren umgeben. Darum war sie dankbar, dass ihr dieser Anblick erspart wurde. Sie hätte ihn, meinte sie, nicht ertragen können, und hielt, zurückzuckend, den Atem an, als sie den fremden Körper über sich spürte. »Spreiz deine Beine«, befahl er. Gehorsam öffnete sie ihre Schenkel. Seine Hand berührte sie da unten, reibend und streichelnd. Ihre Schenkel öffneten sich immer weiter, und sie gab jetzt schwache stöhnende Laute von sich, fast als wollte sie, dass er aufhöre. Er nahm seine Hand fort, Gott sei Dank, und fummelte einen Augenblick herum. Dann fühlte sie, wie das Ding, vor dem sie sich so fürchtete, in sie eindrang; gleichzeitig verkrampfte sie sich in Abwehr. »Entspann dich«, flüsterte er. »Du bist so weit.« Es war erstaunlich warm und glatt, aber sein Stoßen und Stechen tat fürchterlich weh. »Verdammt«, sagte er, »entspann dich. Du machst es nur schwieriger.« In diesem Augenblick schrie Dottie leise auf, es war ganz in sie eingedrungen. Er hielt ihr den Mund zu, legte ihre Beine um sich und bewegte es in ihr hin und her. Anfangs tat es so weh, dass sie bei jedem Stoß zusammenzuckte und sich ihm zu entwinden suchte, aber das machte ihn anscheinend nur umso entschlossener. Dann, oh Wunder, während sie noch betete, dass es bald vorüber sein möge, fand sie so etwas wie Gefallen daran. Sie begriff, worauf es ankam, auch ihr Körper antwortete jetzt den Bewegungen Dicks, der es langsam und immer wieder in sie hineinstieß und langsam wieder zurückzog, als wiederhole er eine Frage. Ihr Atem ging schneller. Jede neue Berührung, wie das Ritardando eines Geigenbogens, steigerte ihre Lust auf die kommende. Dann plötzlich meinte sie, in einem Anfall von anhaltenden krampfartigen Zuckungen zu vergehen, was sie, kaum war es vorbei, so verlegen machte wie ein Schluckauf. Denn es war, als habe sie den Menschen Dick völlig vergessen. Und er, als hätte er es gemerkt, ließ von ihr ab und presste dann jenes Ding auf ihren Bauch, gegen den es schlug und stieß. Dann zuckte auch er stöhnend zusammen und Dottie fühlte etwas Klebrig-Feuchtes an ihrem Leib herabrinnen.

Minuten vergingen. Im Zimmer war es ganz still. Durch das Oberlicht konnte Dottie den Mond sehen. Sie lag da, Dicks Last noch immer auf sich. Wahrscheinlich war etwas schiefgegangen – vermutlich ihre Schuld. Sein Gesicht war abgewandt, sodass sie es nicht sehen konnte. Sein Oberkörper quetschte ihr so sehr die Brüste, dass sie kaum Luft bekam. Ihre beiden Körper waren nass, sein kalter Schweiß tropfte auf ihr Gesicht, klebte ihr die Haare an die Schläfen und rann wie ein Bächlein zwischen ihren Brüsten. Es brannte salzig auf ihren Lippen und erinnerte sie trostlos an Tränen. Sie schämte sich der Glücksgefühle, die sie empfunden hatte. Offensichtlich war sie ihm nicht die richtige Partnerin gewesen, sonst würde er irgendetwas sagen. Vielleicht durfte die Frau sich dabei nicht bewegen? »Verdammt«, hatte er gesagt, als er ihr weh tat, in einem so ärgerlichen Ton wie ein Mann, der sagt: »Verdammt, warum können wir nicht pünktlich essen?« oder etwas ähnlich Unromantisches. Hatte etwa ihr Aufschrei alles verdorben? Oder hatte sie am Schluss irgendwie einen Fauxpas begangen? Wenn Bücher doch bloß etwas ausführlicher wären. Krafft-Ebing, den Kay und Helena antiquarisch gekauft hatten und aus dem sie ständig vorlasen, als wäre es besonders komisch, beschrieb nur Scheußlichkeiten, wie Männer es mit Hennen trieben, und erklärte selbst dann nicht, wie es gemacht wurde. Der Gedanke an die Blondine auf der Kommode erfüllte sie mit hoffnungslosem Neid. Wahrscheinlich stellte Dick jetzt gerade schlimme Vergleiche an.

Sie spürte seinen feuchtwarmen Atem und roch den schalen Alkoholdunst, den er stoßweise verströmte. Im Bett roch es merkwürdig penetrant, sie fürchtete, sie sei daran schuld. Ihr kam der grässliche Gedanke, Dick könnte eingeschlafen sein. Sie machte ein paar zaghafte Bewegungen, um sich von seinem Gewicht zu befreien. Die feuchte Haut ihrer aneinanderklebenden Körper machte ein leise schmatzendes Geräusch, als sie sich von ihm löste, aber es gelang ihr nicht, ihn abzuwälzen. Da wusste sie, dass er schlief. Wahrscheinlich war er müde, sagte sie sich zu seiner Entschuldigung, er hatte ja so dunkle Schatten um die Augen. Aber im Herzen wusste sie, dass er nicht wie ein Zentner Backsteine auf ihr hätte einschlafen dürfen. Es war der endgültige Beweis – sofern es noch eines solchen bedurfte –, dass sie ihm nicht das Geringste bedeutete. Wenn er morgen früh beim Aufwachen entdeckte, dass sie verschwunden war, würde er vermutlich heilfroh sein. Oder vielleicht erinnerte er sich dann nicht einmal, wer bei ihm gewesen war. Sie konnte nicht einschätzen, was er alles getrunken hatte, ehe er sich mit ihr zum Essen traf. Wahrscheinlich war er einfach sternhagelvoll. Es gab für sie nur eine Möglichkeit, sich nicht noch mehr zu vergeben, nämlich sich im Dunkeln anzuziehen und heimlich zu verschwinden. Aber vorher musste sie in dem unbeleuchteten Gang das Badezimmer finden.

Dick fing an zu schnarchen, die klebrige Flüssigkeit überzog wie eine Kruste ihren Bauch. Sie konnte unmöglich in den Vassar-Club zurückkehren, ohne das vorher abzuwaschen. Dann durchfuhr sie ein Gedanke, der fast schlimmer war als alles andere. Wenn er nun einen Erguss gehabt hätte, während er noch in ihr war? Oder wenn er eins von diesen Gummidingern benutzt hatte und es zerrissen wäre, als sie zuckte, und er darum sich so schnell aus ihr zurückgezogen hatte? Sie wusste vom Hörensagen, dass die Gummidinger reißen oder undicht sein können, dass eine Frau von einem einzigen Tropfen schwanger werden kann. Entschlossen wand und stemmte Dottie sich, um sich endlich zu befreien, bis Dick den Kopf hob und sie, ohne sie zu erkennen, im Mondlicht anstarrte. Es stimmt also, dachte Dottie unglücklich. Er war einfach eingeschlafen und hatte sie vergessen. Sie wollte aus dem Bett schlüpfen.

Dick setzte sich auf und rieb die Augen. »Ach, du bist es, Boston«, murmelte er undeutlich und legte den Arm um ihre Taille. »Verzeih, dass ich eingeschlafen bin.« Er erhob sich und knipste die Stehlampe an. Dottie bedeckte sich hastig mit dem Leinentuch und wandte ihr Gesicht ab, denn sie hatte immer noch Hemmungen, ihn splitternackt zu sehen. »Ich muss nach Hause, Dick«, sagte sie kleinlaut und blickte verstohlen auf ihre Wäsche, die gefaltet auf dem Sessel lag. »Musst du?«, fragte er in spöttischem Ton. Sie konnte sich vorstellen, wie seine rötlichen Augenbrauen hochschnellten. »Du brauchst dich nicht erst anzuziehen und mich hinunterzubringen«, fuhr sie rasch und bestimmt fort und starrte dabei auf seine schönen nackten Füße. Breitbeinig stand er auf dem Teppich. Er bückte sich nach der Unterhose und sie sah zu, wie er hineinstieg. Dann hob sie langsam die Augen und traf seinen forschenden Blick. »Was ist los, Boston?«, fragte er freundlich. »Mädchen laufen doch in ihrer ersten Nacht nicht nach Hause. Hat’s dir sehr weh getan?« Dottie schüttelte den Kopf. »Blutest du?«, wollte er wissen. »Komm, lass mich nachschauen.« Er hob sie hoch, schob sie an das Bettende, das Leintuch glitt mit, auf dem Handtuch war ein kleiner Blutfleck. »Das allerblaueste«, sagte er, »aber nur eine winzige Kleinigkeit. Betty hat wie ein Schwein geblutet.« Dottie schwieg. »Heraus mit der Sprache, Boston«, rief er und wies mit dem Daumen auf die gerahmte Fotografie. »Verdirbt etwa sie dir die Laune?« Dottie machte eine tapfere verneinende Bewegung. Etwas aber musste sie sagen. »Dick«, sie schloss vor Scham die Augen, »meinst du, ich müsste eine Spülung machen?« – »Eine Spülung?«, fragte er verständnislos. »Aber warum denn? Wozu?« – »Nun, falls du … du weißt doch … Empfängnisverhütung«, murmelte Dottie. Dick starrte sie an und lachte dann plötzlich aus vollem Halse. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und warf den schönen Kopf in den Nacken. »Mein liebes Kind«, sagte er, »wir wandten soeben die älteste Form der Empfängnisverhütung an. Coitus interruptus nannten es die alten Römer, und es ist wirklich verdammt unangenehm.« – »Ich dachte nur …«, sagte Dottie. »Nicht denken! Ich verspreche dir, kein einziges Spermium schwimmt hinauf, um dein untadeliges Ovum zu befruchten. Wie bei dem Mann in der Bibel ergoss sich mein Samen auf die Erde oder vielmehr auf deinen wunderhübschen Bauch.« Mit einer raschen Bewegung zog er, ehe sie ihn hindern konnte, das Leinentuch von ihr fort. »Jetzt«, befahl er, »sag mir, was du denkst.«

Dottie schüttelte den Kopf und errötete. Nichts in der Welt hätte sie dazu bewegen können, denn die Wörter machten sie schrecklich verlegen. Sie war schon an den Worten »Spülung« und »Empfängnisverhütung« fast erstickt. »Wir müssen dich säubern«, bestimmte er nach sekundenlangem Schweigen. Er schlüpfte in Schlafrock und Hausschuhe und verschwand im Badezimmer. Es schien ihr geraume Zeit zu dauern, bis er mit einem feuchten Handtuch zurückkam und ihr den Bauch wusch. Dann trocknete er sie ab, indem er sie mit dem trockenen Ende des Tuches kräftig rubbelte, und setzte sich neben sie aufs Bett. Er selbst wirkte viel frischer, als habe er sich gewaschen, und roch nach Mundwasser und Zahnpulver. Er steckte zwei Zigaretten an, gab ihr eine und stellte den Aschenbecher zwischen sie.

»Du bist gekommen, Boston«, bemerkte er im Ton eines zufriedenen Lehrers. Dottie sah ihn unsicher an. Meinte er etwa das, woran sie nur ungern dachte? »Wie bitte?«, murmelte sie. – »Das heißt, dass du einen Orgasmus gehabt hast.« Aus Dotties Kehle erklang ein noch immer fragender Laut. Sie war ziemlich sicher, dass sie begriff, was er meinte, aber die neue Vokabel verwirrte sie. »Eine Klimax«, ergänzte er in schärferem Ton. »Bringt man euch das Wort in Vassar bei?« – »Ach«, sagte Dottie, fast enttäuscht, dass es nichts anderes war, »war das …?« Sie brachte die Frage nicht zu Ende. »Das war’s.« Er nickte. »Soweit ich es beurteilen kann.« – »Das ist also normal?«, wollte sie wissen und fühlte sich bereits viel wohler. Dick zuckte die Achseln. »Nicht für Mädchen mit deiner Erziehung. Jedenfalls nicht beim ersten Mal. Obgleich man dir’s nicht ansieht, bist du wohl sehr sinnlich.«

Dottie errötete noch mehr. Laut Kay war eine Klimax etwas sehr Ungewöhnliches, etwas, was der Ehemann nur durch sorgfältiges Eingehen auf die Wünsche der Frau und durch geduldige manuelle Stimulation zuwege brachte. Schon die bloße Terminologie ließ Dottie schaudern. Bei Krafft-Ebing gab es eine scheußliche Stelle, ganz auf lateinisch, über die Kaiserin Maria Theresia und den Rat des Hofarztes an den Prinzgemahl, die Dottie überflogen hatte und so schnell wie möglich zu vergessen suchte. Aber selbst Mama hatte angedeutet, dass Befriedigung etwas sei, was sich erst nach langer Zeit und Erfahrung einstelle, und dass die Liebe dabei eine entscheidende Rolle spiele. Aber wenn Mama über Befriedigung sprach, war nicht genau zu ersehen, was sie damit meinte, und auch Kay drückte sich nicht klar aus, wenn sie nicht gerade aus Büchern zitierte. Polly Andrews hatte sie einmal gefragt, ob es dasselbe leidenschaftliche Gefühl sei, wie wenn man sich küsste (damals war Polly verlobt), und Kay hatte gesagt: Ja, es sei ziemlich dasselbe. Aber jetzt glaubte Dottie, dass Kay sich geirrt hatte oder Polly aus irgendeinem Grunde nicht die Wahrheit sagen wollte. Dottie hatte sehr häufig ähnliche Gefühle gehabt, wenn sie mit jemand schrecklich Attraktivem tanzte, aber das war etwas ganz anderes als das, was Dick meinte. Fast schien es, als rede Kay wie der Blinde von der Farbe. Oder als meinten Kay und Mama etwas völlig anderes, und diese Sache mit Dick war anormal. Und doch wirkte er so zufrieden, wie er dasaß und Rauchringe blies. Wahrscheinlich wusste er, weil er so lange im Ausland gelebt hatte, mehr als Mama und Kay.

»Was grübelst du so, Boston?« Dottie fuhr zusammen. »Wenn eine Frau sehr sinnlich ist«, bemerkte er sanft, »so ist das großartig. Du musst dich deshalb nicht schämen.« Er nahm ihr die Zigarette ab, drückte sie aus und legte seine Hände auf ihre Schultern. »Komm«, sagte er, »was du jetzt empfindest, ist ganz natürlich. ›Post coitum omne animal triste‹, wie der römische Dichter sagt.« Er ließ seine Hand über die Rundung ihrer Schulter hinabgleiten und berührte leicht ihre Brustwarze. »Dein Körper hat dich heute Abend in Erstaunen versetzt. Du musst ihn kennenlernen.« Dottie nickte. »Weich«, murmelte er und drückte die Warze zwischen Daumen und Zeigefinger. »Detumeszenz, das ist es, was du im Augenblick durchmachst.« Dottie hielt fasziniert den Atem an, alle Zweifel verflogen. Als er fortfuhr, die Warze zu drücken, richtete diese sich auf. »Erektiles Gewebe«, belehrte er sie und berührte die andere Brust. »Schau«, sagte er, und beide blickten darauf. Die Brustwarzen waren hart und voll, von einer kreisförmigen Gänsehaut umgeben. Auf ihrer Brust wuchsen ein paar schwarze Haare. Dottie wartete gespannt, eine große Erleichterung erfasste sie. Das waren dieselben Ausdrücke, die Kay aus einem Eheberater zitiert hatte. Da unten begann es abermals zu pochen. Ihre Lippen öffneten sich. Dick lächelte. »Fühlst du etwas?« Dottie nickte. »Möchtest du es noch einmal?«, fragte er und betastete sie prüfend. Dottie machte sich steif und presste die Schenkel zusammen. Sie schämte sich der heftigen Empfindung, der seine tastenden Finger auf die Spur gekommen waren. Aber er behielt die Hand dort zwischen ihren geschlossenen Schenkeln und ergriff ihre Rechte mit seiner anderen, führte sie in den auseinanderfallenden Schlafrock und drückte sie auf jenen Körperteil, der jetzt weich und schlaff und eigentlich ganz niedlich zusammengerollt dalag, wie eine dicke Schnecke. Er saß noch immer neben ihr und sah ihr ins Gesicht, während er sie dort unten streichelte und ihre Hand fester gegen sich drückte. »Da ist eine kleine Erhöhung«, flüsterte er. »Streichle sie.« Dottie gehorchte staunend. Sie fühlte, wie sein Glied steifer wurde, und das gab ihr ein seltsames Machtgefühl. Sie wehrte sich gegen die Erregung, die sein kitzelnder Daumen über der Scheide hervorrief, und als sie merkte, wie er sie beobachtete, schloss sie die Augen, und ihre Schenkel öffneten sich. Er löste ihre Hand und sie fiel keuchend hintenüber aufs Bett. Sein Daumen setzte sein Spiel fort und sie gab sich dem willenlos hin, völlig auf einen bestimmten Höhepunkt der Erregung konzentriert, die sich jäh in einer nervösen, flatternden Zuckung entlud. Ihr Körper spannte sich, bäumte sich und lag dann still. Als seine Hand sie abermals berühren wollte, schlug sie sie sacht beiseite. »Nicht«, stöhnte sie und rollte sich auf den Bauch. Die zweite Klimax, die sie jetzt durch den Vergleich mit der ersten erkennen konnte, machte sie nervös und verwirrt. Sie war weniger beglückend, eher, als würde man unbarmherzig gekitzelt oder müsste dringend aufs Klo. »Hat dir das nicht gefallen?«, fragte er und drehte ihren Kopf auf dem Kissen, sodass sie sich vor ihm nicht verstecken konnte. Der Gedanke, dass er sie beobachtete, während er das mit ihr tat, war ihr grässlich. Langsam schlug Dottie die Augen auf, entschlossen, die Wahrheit zu sagen. »Das andere gefiel mir besser, Dick.« Dick lachte. »Ein nettes, normales Mädchen. Manche Mädchen mögen dies lieber.« Dottie schauderte, sie konnte zwar nicht leugnen, dass es sie erregt hatte, aber es kam ihr fast pervers vor. Es war, als errate er ihre Gedanken. »Hast du es je mit einem Mädchen gemacht, Boston?« Er packte sie am Kinn, um sie eindringlich mustern zu können. Dottie errötete. »Gott bewahre!« – »Du kommst aber wie die Feuerwehr. Wie erklärst du dir das?« Dottie schwieg. »Hast du es je mit dir selbst gemacht?« Dottie schüttelte heftig den Kopf, allein die Vorstellung verletzte sie. »In deinen Träumen?« Dottie nickte widerwillig. »Ein bisschen. Nicht bis zum Ende.« – »Üppige erotische Fantasien einer Chestnut-Street-Jungfrau«, bemerkte Dick und räkelte sich. Er stand auf, ging zur Kommode, holte zwei Pyjamas und warf einen davon Dottie zu. »Zieh dich an und geh ins Badezimmer. Für heute Nacht ist der Unterricht zu Ende.«

Nachdem sie das Badezimmer von innen verriegelt hatte, zog Dottie in Gedanken Bilanz. »Wer hätte das gedacht?«, zitierte sie Pokey Prothero, als sie in den Spiegel starrte. Ihr Gesicht mit den kräftigen Farben, den starken Augenbrauen, der langen geraden Nase und den dunkelbraunen Augen sah immer noch so aus wie das eines Mädchens aus Boston. Eine aus der Clique hatte einmal gesagt, Dottie sehe aus, als sei sie mit dem Doktorhut auf die Welt gekommen. An ihrer äußeren Erscheinung war etwas Magistrales, wie sie jetzt selbst bemerkte. In dem weißen Pyjama, aus dessen Kragen das kantige neuenglische Kinn ragte, erinnerte sie an einen alten Richter oder an eine Amsel auf einem Zaun. Papa sagte manchmal scherzend, sie hätte Anwalt werden sollen. Und doch gab es da noch das Lachgrübchen, das in der Wange lauerte, und ihre Tanzlust und Sangesfreude – womöglich war sie eine gespaltene Persönlichkeit, ein regelrechter Doktor-Jekyll- und-Mister-Hyde! Nachdenklich spülte sich Dottie mit Dicks Mundwasser den Mund und warf zum Gurgeln den Kopf in den Nacken. Sie wischte den Lippenstift mit einem Stück Toilettenpapier ab und musterte in Gedanken an ihre empfindliche Haut ängstlich die Seife in Dicks Seifenschüssel. Sie musste schrecklich aufpassen, aber erleichtert stellte sie fest, dass das Badezimmer peinlich sauber und mit Gebrauchsanweisungen der Zimmerwirtin tapeziert war: »Bitte verlassen Sie diesen Raum, wie Sie ihn vorzufinden wünschen. Danke für Ihr Verständnis.« oder »Bitte benutzen Sie beim Duschen den Badeteppich. Danke.« Die Zimmerwirtin, dachte Dottie, war wohl sehr großzügig, wenn sie nichts gegen Damenbesuch hatte. Immerhin hatte Kay hier oft ein ganzes Wochenende mit Harald verbracht.

Sie dachte nur ungern an die weiblichen Gäste, die neben der bereits erwähnten Betty Dick besucht hatten. Wie, wenn er neulich Abend, nachdem die beiden sie abgesetzt hatten, Lakey hergebracht hätte? Schwer atmend stützte sie sich auf das Waschbecken und kratzte nervös ihr Kinn. Lakey, überlegte sie, hätte nicht zugelassen, was er mit ihr getan hatte. Bei Lakey hätte er das nicht gewagt. Dieser Gedanke war jedoch zu beunruhigend, um weiter ausgesponnen zu werden. Woher wusste er eigentlich, dass sie es zulassen würde? Etwas war merkwürdig – sie hatte die ganze Zeit den Gedanken daran verdrängt –, er hatte sie überhaupt nicht geküsst, nicht ein einziges Mal. Dafür gab es natürlich Erklärungen: Vielleicht sollte sie seine Alkoholfahne nicht bemerken oder vielleicht roch sie selbst aus dem Mund …? Nein, sagte sich Dottie, so darfst du nicht weiterdenken. Eines jedoch war sonnenklar: Dick war einmal sehr verletzt worden, von Frauen oder von einer bestimmten Frau. Das verschaffte ihm eine Sonderstellung; jedenfalls gestand sie ihm diese zu. Wenn er nun einmal keine Lust hatte, sie zu küssen, so war das seine Sache. Sie kämmte sich mit dem Taschenkamm das Haar und summte dazu mit ihrer warmen Altstimme: »Er ist der Mann, der eine Frau wie mi-ich braucht.« Dann tat sie einen munteren Tanzschritt und stolperte, von dem langen Pyjama etwas behindert, zur Tür. Sie schnippte mit den Fingern, als sie das Deckenlicht an der langen Schnur ausmachte.

Als Dottie sich dann auf dem schmalen Lager neben dem fast schlafenden Dick ausstreckte, schweiften ihre Gedanken wie Zugvögel zärtlich zu Mama. Zwar wünschte sie sich einen erquickenden Schlaf nach diesem sehr anstrengenden Tag, aber es drängte sie auch, die Erfahrung der Nacht dem Menschen mitzuteilen, der ihr das Liebste auf der Welt war, der nie verurteilte, nie kritisierte, und der sich immer so sehr für das Tun und Lassen der jungen Leute interessierte. Brennend gern hätte sie ihrer Mutter den Schauplatz ihrer Einweihung beschrieben: das kahle Zimmer weit draußen in Greenwich Village, den Mondstrahl auf der braunen Wolldecke, den Zeichentisch, den Ohrensessel mit seinem adretten Bezug aus Markisenstoff – und dann natürlich Dick selbst, ein so origineller Mensch, mit seinem nervösen, fein gemeißelten Gesicht und seinem unglaublichen Wortschatz. Die letzten drei Tage waren angefüllt mit so vielen Einzelheiten, die Mama interessieren würden: die Hochzeit und wie sie hinterher mit ihm und Lakey das Whitney Museum besuchten und dann zu dritt in einem ulkigen italienischen Restaurant hinter einem Billardtisch aßen und Wein aus weißen Bechern tranken. Wie er und Lakey über Kunst diskutierten und wie sie dann am nächsten Tag, wieder zu dritt, in das Modern Museum gingen und in eine Ausstellung moderner Plastik, und wie Dottie nie im Leben darauf gekommen wäre, dass er überhaupt Augen für sie hatte, denn sie sah ja, wie fasziniert er von Lakey war (wer nicht?), und wie sie es noch immer fest glaubte, als er sich tags darauf zu Lakeys Abreise am Schiff einfand, unter dem Vorwand, ihr einige Adressen von Malern in Paris geben zu wollen. Und sogar, als er sie noch am Pier, nachdem das Schiff abgefahren war und eine gewisse Trübseligkeit sich eingestellt hatte, in dasselbe Lokal wie gestern zum Abendessen einlud (wie schwierig, es vom New Weston mit einem Taxi zu finden!), glaubte sie, sie verdanke das lediglich ihrer Freundschaft zu Lakey. Sie hatte eine Heidenangst davor gehabt, mit ihm allein zu essen, weil sie fürchtete, ihn zu langweilen. Und er war auch ziemlich schweigsam und abwesend gewesen, bis er ihr unvermittelt in die Augen gesehen und sie gefragt hatte: »Willst du mit mir nach Hause kommen?« Könnte sie jemals seinen beiläufigen Ton vergessen?

Aber wirklich staunen würde Mama darüber, dass keiner von beiden in den anderen verliebt war. Sie konnte sich förmlich hören, wie sie ihrer hübschen, strahlenden Mutter mit leiser Stimme zu erklären versuchte, dass sie und Dick auf einer völlig anderen Grundlage zusammenlebten. Der arme Dick, verkündete sie sachlich, liebe noch immer seine geschiedene Frau, und außerdem (an dieser Stelle holte Dottie tief Luft und wappnete sich) sei er von Lakey mächtig angetan – ihrer derzeit besten Freundin. In Dotties Vorstellung riss ihre Mutter die blauen Augen auf. Ihre Goldlocken zitterten, während sie verständnislos den Kopf schüttelte, und Dottie wiederholte mit allem Nachdruck: »Jawohl, Mama, ich kann es beschwören. Mächtig angetan von Lakey. Damit habe ich mich an jenem Abend abgefunden.« Diese Szene, die sie im Geiste probte, spielte sich im kleinem Boudoir ihrer Mutter in der Chestnut Street ab, obwohl sie in Wirklichkeit bereits in ihr Landhaus nach Gloucester gefahren war, wo Dottie morgen oder übermorgen erwartet wurde. Die zierliche Mrs. Renfrew hatte ihr mattblaues Kostüm aus irischem Leinen an, die nackten Arme waren vom Golfspielen gebräunt. Dottie trug ihr weißes Sportkleid und dazu braunweiße Schuhe. Sie beendete ihren Vortrag, starrte auf ihre Zehen, spielte mit den Falten ihres Rocks und wartete gelassen darauf, was ihre Mutter nun zu sagen hätte. »Ja, Dottie, ich verstehe. Ich glaube, ich verstehe.« Beide sprachen weiter, mit leiser, gleichmäßiger, wohltönender Stimme, ihre Mutter etwas mehr staccato und Dottie etwas rauer. Die Stimmung war ernst und nachdenklich. »Du bist sicher, Kind, dass eine Perforation des Hymen stattgefunden hat?« Dottie nickte nachdrücklich. Mrs. Renfrew, Tochter eines Missionsarztes, war in ihrer Jugend sehr kränklich gewesen, darum sorgte sie sich um die physische Seite einer Sache stets besonders.

Dottie wälzte sich unruhig im Bett. »Du fändest Mutter himmlisch«, sagte sie im Geiste zu Dick. »Sie ist eine schrecklich vitale Person und weitaus attraktiver als ich. Sehr klein, mit einer fantastischen Figur, blauen Augen und hellem Haar, das gerade erst grau wird. Ihre Krankheit wurde sie durch schiere Willenskraft los, als sie nämlich in der letzten Klasse im College Papa kennenlernte, gerade nachdem die Ärzte verlangt hatten, dass sie die Schule verließ. Weil sie der Meinung war, dass Kranke nicht heiraten dürften, wurde sie gesund. Sie hält sehr viel von der Liebe. Das tun wir alle.« Hier errötete Dottie und strich im Geiste die letzten Worte aus. Dick durfte nicht denken, dass sie ihr Verhältnis zerstöre, indem sie sich in ihn verliebte. Eine einzige derartige Bemerkung würde alles verderben. Um ihm zu zeigen, dass er hier nichts zu befürchten hatte, wäre es wohl das Beste, wenn sie ihren Standpunkt ein für allemal klarstellte. »Auch ich bin sehr religiös, Dick«, probierte sie und lächelte, wie um sich zu entschuldigen. »Jedoch halte ich mich für pantheistischer als die meisten Kirchgänger. Ich gehe zwar gern in Gotteshäuser, glaube aber, dass Gott überall ist. Meine Generation ist ein bisschen anders als die meiner Mutter. Wir alle empfinden, dass Liebe und Sex zweierlei sein kann. Das muss nicht so sein, es ist aber möglich. Man darf vom Sex nicht verlangen, dass er die Rolle der Liebe, und von der Liebe nicht, dass sie die Rolle des Sex übernimmt – das ist eigentlich ganz originell, nicht?«, fügte sie mit einem kleinen, nervösen Lächeln hinzu, als sie nicht mehr weiterwusste. »Eine der älteren Lehrerinnen sagte einmal zu Lakey, man müsse ohne Liebe leben, man müsse lernen, ohne sie auszukommen, um mit ihr leben zu können. Lakey war ungeheuer beeindruckt. Findest du das auch?« Dotties wortlose Stimme war nach und nach immer verzagter geworden, als sie dem schlafenden Mann an ihrer Seite ihre Weltanschauung vortrug.

In Gedanken hatte sie es gewagt, Lakeys Namen in Verbindung mit Liebe zu nennen, weil sie Dick beweisen wollte, dass sie auf die dunkle Schöne, wie er Lakey stets nannte, nicht eifersüchtig sei. Den Spitznamen Lakey mochte er nicht. Allerdings war Dottie aufgefallen, dass er sich immer nervös den Schlips zurechtzog, wenn Lakey sich ihm zuwandte, wie jemand, der sich unerwartet in einem Spiegel in der U-Bahn sieht, und dass er mit ihr immer ernst war, weder spöttisch noch giftig, auch wenn sie seine Meinung über Kunstfragen nicht teilte. Und doch, als sie dem Schiff nachwinkten und Dottie im Bemühen, sein Vertrauen zu gewinnen und Lakey mit ihm zu teilen, wiederholt flüsterte: »Ist sie nicht fabelhaft?«, zuckte er nur, wie irritiert, die Achseln.

»Sie hat Verstand«, erwiderte er schließlich kühl.

Jetzt aber, da Lakey auf hoher See schwamm, sie jedoch gemütlich mit Dick im Bett lag, versuchte Dottie es mit einer neuen Theorie. Wie, wenn Lakey ihn nur platonisch anzöge, sie selbst ihn aber körperlich mehr reizte? Lakey war schrecklich klug und wusste eine Menge, aber man hielt sie gemeinhin für kalt. Womöglich bewunderte Dick ihre Schönheit nur als Künstler, während er sie, Dottie, aus anderen Gründen vorzog. Der Gedanke war nicht sehr überzeugend, trotz allem, was Dick ihr gesagt hatte – dass ihr Körper sie in Erstaunen versetzt habe und so weiter. Kay behauptete, dass kultivierteren Männern am Vergnügen der Frau mehr gelegen sei als am eigenen. Aber Dick (Dottie hüstelte) schien nicht gerade von Leidenschaft überwältigt, nicht einmal, als er sie so schrecklich erregte. Traurigkeit beschlich sie, als sie an Kay dachte. Kay würde ihr ohne Umschweife erklären, dass ihr Lakeys Strahlkraft fehle und dass Dick sie offensichtlich als Ersatz für Lakey benütze, weil er einem so schönen, reichen und faszinierenden Geschöpf in diesem kahlen Zimmer niemals das Wasser reichen könne. »Dick würde kein Mädchen wollen, das Gefühle in ihm weckt«, hörte sie Kay mit lautem, diktatorischem Middlewest-Akzent dozieren, »wie Lakey das bestimmt tun würde, Renfrew. Du bist nichts als ein Ventil für ihn, ein Sicherheitsventil für eine Nacht.« Die Worte zermalmten Dottie wie eine Dampfwalze, denn es könnte so sein. Kay würde vermutlich auch behaupten, dass Dottie von ihrer Jungfernschaft erlöst werden wollte und Dick lediglich dazu benutzt habe. Entsetzlicher Gedanke. Ob Dick das etwa von ihr dachte? Kay meinte es gut, wenn sie die Dinge so nüchtern benannte, und das Furchtbare war, dass sie meistens recht hatte. Oder wenigstens klang es immer so, weil sie so völlig desinteressiert war und nicht ahnte, wie sehr sie andere verletzte. Sobald Dottie auch nur in Gedanken auf Kay hörte, verlor sie ihr ganzes Selbstbewusstsein und wurde zu dem, was sie Kays Meinung nach war: ein Mamakind und eine alte Jungfer aus Boston. Allen schwächeren Mitgliedern der Clique erging es ebenso. Kay bemächtigte sich, wie Lakey einmal sagte, ihrer Herzensangelegenheiten und gab sie zurück, eingelaufen und etikettiert, wie aus der Wäscherei. So war es im Fall von Polly Andrews’ Verlobung gewesen. In der Familie des Jungen, den sie heiraten wollte, gab es eine Geisteskrankheit, und Kay zeigte Polly so viele einschlägige Statistiken, dass Polly mit ihm brach, einen Nervenzusammenbruch erlitt und ins Krankenhaus musste. Und natürlich hatte Kay recht. Mr. Andrews war schon Belastung genug, man brauchte sich nicht auch noch mit einer depressiv veranlagten Familie zu verbinden. Kay riet Polly, mit dem Jungen zu leben, da sie ihn liebte, und später, wenn sie einmal Kinder haben wollte, einen anderen zu heiraten. Aber Polly brachte nicht den Mut dazu auf, so gern sie es auch getan hätte. Außer Lakey war die ganze Clique Kays Meinung, wenigstens was das Nichtheiraten anging, aber nicht eine hatte den Mut gehabt, es Polly ins Gesicht zu sagen. Kay sagte ihre Meinung rundheraus, wo die anderen nur tuschelten.

Dottie seufzte. Wenn Kay doch bloß nichts über Dick und sie erfahren würde! Aber das war wohl unvermeidlich, da Dick ja mit Harald befreundet war. Nicht weil Dick davon sprechen würde, dafür war er viel zu sehr Gentleman und auch zu rücksichtsvoll. Viel eher würde Dottie sich selbst verraten, denn Kay verstand sich ausgezeichnet darauf, einen zum Reden zu bringen. Zu guter Letzt vertraute man sich Kay an, denn ihre Ansicht zu hören schien immer noch besser zu sein, als sie nicht zu hören. Man hatte Angst, die Wahrheit zu fürchten. Außerdem konnte Dottie es unmöglich Mama erzählen – jedenfalls auf absehbare Zeit, denn ihre Mutter, die ja aus einer anderen Generation stammte, würde es niemals so sehen können wie Dottie, wenn sie sich auch noch so bemühte, und das würde sie besorgt und unglücklich machen. Sie würde Dick kennenlernen wollen, Papa würde sich anschließen und sich dann Gedanken über eine etwaige Ehe machen, die ja völlig ausgeschlossen war. Dottie seufzte abermals. Jemandem musste sie es erzählen, das wusste sie – natürlich nicht die intimsten Details, aber einfach die erstaunliche Tatsache, dass sie ihre Jungfernschaft verloren hatte –, und das konnte nur Kay sein.

Dann würde Kay über sie mit Dick sprechen. Davor hatte Dottie die allermeiste Angst. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Kay sie zerpflücken und analysieren, sich über ihre Krankengeschichte, die Clubs ihrer Mutter, die Geschäftsbeziehungen ihres Vaters und ihre gesellschaftliche Stellung in Boston auslassen würde, die Kay außerordentlich überschätzte: Sie gehörten durchaus nicht zu den oberen Zehntausend, den »Brahmanen« – ein grässliches Wort. Dotties Augen funkelten belustigt. Kay hatte keine Ahnung von Clubs und Gesellschaft, obgleich sie so sachverständig tat. Man müsste ihr wirklich einmal sagen, dass heutzutage nur noch Langweiler oder Außenseiter solche Dinge wichtig nahmen. Arme, ehrliche Kay! Fünf Versuche, so erinnerte sich Dottie, schon halb eingeschlafen, ehe es bei ihr soweit war, und so viel Blut und Schmerzen. Sagte Lakey nicht immer, sie hätte eine Haut wie ein Nilpferd? Sex war doch nur eine Frage der Anpassung an den Mann, wie beim Tanzen – Kay tanzte miserabel und wollte immer führen. Ihre Mutter hatte ganz recht, sagte sie sich genüsslich, während sie allmählich in Schlaf versank: Es ist ein großer Fehler, Mädchen zusammen tanzen zu lassen, wie das in so vielen zweitklassigen Internaten üblich war.

Die Clique

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