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DRITTES KAPITEL

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»Besorg dir ein Pessar«, brummte Dick zum Abschied, als er sie am anderen Morgen mit energischem Griff zur Tür schob. Dottie war wie vom Donner gerührt. In ihrer Verwirrung verstand sie: »Besorg dir ein Pekari«, und durch ihr verstörtes Gemüt huschte filmgleich das Bild des borstigen Nabelschweins aus der Zoologiestunde. Entsetzliche Erinnerungen an Krafft-Ebing stellten sich ein und an das Mädchen, das sich in Vassar einmal einen Ziegenbock gehalten hatte. War das etwa eine Variante des Witzes von der alten Jungfer, die sie eigentlich kennen sollte? Tränen traten ihr in die Augen, die sie zurückzudrängen suchte. Anscheinend hasste Dick sie für das, was sich in der Nacht zwischen ihnen abgespielt hatte. Manche Männer benähmen sich hinterher so, wenn sie ihren Begierden freien Lauf gelassen hätten, behauptete Kay.

Ihr Frühstück war äußerst unerfreulich gewesen. Dick hatte es zubereitet und sich nicht von ihr helfen lassen. Rühreier und Kaffee und der Rest eines Kranzkuchens aus der Bäckerei – weder Obst noch Fruchtsaft. Beim Essen sprach er fast kein Wort, gab ihr einen Teil der Zeitung und vertiefte sich, kaffeetrinkend, in den Sportteil und die Annoncen. Als sie ihm den Nachrichtenteil geben wollte, schob er ihn ungeduldig von sich. Bis dahin hatte sie sich gesagt, dass er vielleicht mit dem falschen Fuß aufgestanden sei, wie Mama zu sagen pflegte. Papa war auch schon mal morgens schlecht gelaunt. Jetzt allerdings erkannte sie, dass es sinnlos war, sich noch weiter etwas vorzumachen – sie hatte ihn verloren. Im Schlafrock, mit zerzaustem Haar, dem grausamen, bissigen Lächeln und dem bitteren Spott erinnerte er sie an jemand. Hamlet – natürlich –, der Ophelia von sich stößt. »Geh in ein Kloster.« – »Ich liebte Euch nicht.« Aber sie durfte nicht wie Ophelia sagen: »Umso mehr wurde ich betrogen.« (Was die Klasse für die ergreifendste Stelle des ganzen Stückes hielt.) Dick hatte sie ja nicht betrogen, sie selbst hatte sich etwas vorgemacht. Sie starrte ihn an und schluckte schwer; eine Träne stahl sich aus einem Auge.

»Ein Empfängnisverhütungsmittel für Frauen«, erläuterte Dick ungeduldig. »Ein Stöpsel. Du bekommst ihn bei einer Ärztin. Frag deine Freundin Kay.« Nun dämmerte es ihr. Ihr Herz tat einen Freudensprung. Bei einem Menschen wie Dick, so frohlockte ihr weiblicher Instinkt, war das sicher die Sprache der Liebe. Aber man durfte einen Mann nicht merken lassen, dass man seiner auch nur eine Sekunde lang nicht sicher gewesen war. »Ja, Dick«, hauchte sie und drehte den Türknauf hin und her, während ihr schmelzender Blick ihm verriet, welch erhebender Moment dies sei, so etwas wie ein gegenseitiges Gelöbnis. Zum Glück würde er nie darauf kommen, dass sie an das Pekari gedacht hatte! Ihr beseelter Gesichtsausdruck veranlasste ihn, eine Braue zu heben und die Stirn zu runzeln. »Ich liebe dich nicht, das weißt du, Boston«, sagte er warnend. »Ja, Dick«, erwiderte sie. – »Und du musst mir versprechen, dass du dich nicht in mich verliebst.« – »In Ordnung, Dick«, erwiderte sie noch leiser. – »Meine Frau findet, ich sei ein Schweinehund, aber im Bett mag sie mich noch immer. Damit musst du dich abfinden. Wenn du das willst, soll es mir recht sein.« – »Ich will es, Dick«, sagte Dottie mit schwacher, aber fester Stimme. Dick zuckte die Achseln. »Ich glaub’ dir nicht, Boston. Aber wir können es ja versuchen.« Er lächelte nachdenklich. »Die meisten Frauen nehmen mich nicht ernst, wenn ich meine Bedingungen stelle. Hinterher leiden sie. Insgeheim wollen sie mich in sie verliebt machen. Ich verliebe mich aber nicht.« Dotties warme Augen blickten ihn spitzbübisch an. »Und Betty?« – Er wandte den Kopf nach der Fotografie. »Du glaubst, ich liebe sie?« Dottie nickte. Er sah sehr ernst aus. »Ich werde dir etwas sagen«, erklärte er. »Ich habe Betty lieber als alle Frauen, die ich gekannt habe. Ich bin noch immer scharf auf sie, wenn du das Liebe nennst.« Dottie senkte den Blick und schüttelte den Kopf. »Aber ihretwegen werde ich mein Leben nicht ändern, und deshalb ist Betty gegangen. An ihrer Stelle hätte ich dasselbe getan. Betty ist ganz Frau. Sie liebt Geld, Abwechslung, Aufregung, Geselligkeit, Kleider, Besitz.« Er rieb sich den kantigen Unterkiefer mit dem Daumen, als brüte er über einem Kreuzworträtsel. »Ich hasse Besitz. Es ist komisch, denn es sieht so aus, als hasste ich ihn, weil er Beständigkeit bedeutet, nicht wahr?« Dottie nickte. »Aber ich liebe Beständigkeit; das ist ja das Unglück.« Er hatte sich in eine Erregung hineingesteigert; seine Finger zuckten nervös.

Dottie kam er plötzlich übertrieben kindlich vor, wie einer der vielen jungen Rettungsschwimmer in Cape Ann, die in ihren Booten am Strand auf und ab trieben und manchmal bei Mama im Cottage erschienen, um mit ihr über ihre Zukunft zu sprechen. Aber natürlich! So einer musste er, der in Marblehead unter den Urlaubern aufgewachsen war, auch einmal gewesen sein. Er hatte die Figur eines Schwimmers und sie konnte ihn sich vorstellen, wie er in der roten Mannschaftsjacke grübelnd im Rettungsboot saß. Mutter behauptete, dass die Zwischenstellung der jungen Männer, die zwar mit den Sommergästen zusammenkamen, aber nicht zu ihnen gehörten, sich in vielen Fällen auf ihr ganzes weiteres Leben auswirkte.

»Ich bin für ein männliches Leben«, sagte er. »Bars. Landleben. Fischen und Jagen. Ich liebe Männergespräche, die nichts Bestimmtes aussagen wollen, sondern sich ewig im Kreis bewegen. Darum trinke ich. Paris passte zu mir – all die Maler, Journalisten und Fotografen. Ich bin der geborene Heimatlose. Wenn ich ein paar Dollars oder Francs habe, bin ich zufrieden. Ich werde es als Maler nie zu etwas bringen, doch ich kann zeichnen und leiste anständige, saubere Arbeit. Aber ich hasse Veränderungen, Boston, und ich selbst ändere mich auch nicht. Das ist der Grund, warum ich mit Frauen nicht auskomme. Frauen erwarten von einer Beziehung, dass sie sich ständig verbessert, und wenn sie das nicht tut, glauben sie, sie verschlechtert sich. Sie glauben, dass ich sie, je länger ich mit ihnen schlafe, umso lieber haben werde, und wenn dem nicht so ist, dann meinen sie, ich sei ihrer überdrüssig. Aber für mich bleibt es immer gleich. Wenn es mir beim ersten Mal gefällt, dann weiß ich, dass es mir auch weiterhin gefällt. Du hast mir heute Nacht gefallen und wirst mir weiterhin gefallen. Aber bilde dir bloß nicht ein, dass du mir mit der Zeit besser gefallen wirst.« Bei den letzten Worten nahm seine Stimme einen zänkischen, drohenden Ton an. Er sah böse auf sie hinunter und wippte in seinen Hausschuhen auf und ab. Dottie spielte mit der zerfransten Quaste seines Schlafrockgürtels. »Ja gut, Dick«, flüsterte sie. – »Wenn du das Ding hast, kannst du es herbringen. Ich hebe es für dich auf. Ruf mich an, wenn du bei der Ärztin gewesen bist.« Schaler Alkoholdunst schlug ihr entgegen. Sie trat einen Schritt zurück und wandte den Kopf zur Seite. Sie hatte gehofft, Dick besser kennenzulernen, aber seine seltsamen Lebensanschauungen nahmen ihr jetzt auf einmal allen Mut. Wie sollte sie ihn zum Beispiel in den Sommer einbauen? Er schien sich nicht klarzumachen, dass sie genau wie sonst nach Gloucester fahren musste. Wenn sie verlobt wären, könnte er sie dort besuchen, aber das waren sie natürlich nicht und würden es auch nie sein. Das hatte er deutlich zu verstehen gegeben. Nun, da sie seine Bedingungen kannte, meldeten sich, zu ihrem Entsetzen, die ersten Zweifel. Was, wenn sie ihre Jungfernschaft durch einen Menschen verloren hatte, der ihr nicht nur Angst machte, sondern, wie er selbst sagte, auch durch und durch nichts taugte?

Sekundenlang hing Dottie in der Luft, aber ihr war die Überzeugung anerzogen worden, dass es ein Zeichen von schlechter Klasse sei, seiner Menschenkenntnis zu misstrauen. »Ich kann dich nicht ausführen«, sagte er jetzt sanft, als habe er ihre Gedanken erraten. »Ich kann dich nur einladen hierherzukommen, wann immer du in der Stadt bist. Ich habe dir nichts zu bieten als mein Bett. Ich gehe weder ins Theater noch in Nachtlokale und nur selten in Restaurants.« Dottie öffnete den Mund, aber Dick schüttelte den Kopf. »Ich mag keine Damen, die meine Rechnungen zahlen wollen. Was ich mit meinen Plakaten und Gelegenheitsarbeiten verdiene, genügt für meine bescheidenen Bedürfnisse. Fahrgeld, Alkohol und ein paar Konserven.« Dotties gefaltete Hände machten eine Geste des Mitleids und der Reue. Sie hatte vergessen, dass er arm war. Natürlich sprach er deswegen so barsch und kurz angebunden über die Fortsetzung ihrer Beziehung – sein Stolz zwang ihn dazu. »Du musst dir keine Gedanken machen«, beruhigte er sie. »Ich habe eine Tante in Marblehead, die mir hin und wieder einen Scheck schickt. Eines Tages, falls ich lang genug lebe, beerbe ich sie. Aber ich hasse Besitz, Boston – verzeih, wenn ich in dir die Angehörige einer bestimmten Klasse sehe. Ich hasse die Gier nach Besitz. Ich mache mir nichts aus dieser Gesellschaft im Umbruch.« Dottie fand, es sei an der Zeit, gelinde zu protestieren. Dicks Tante wäre wohl kaum mit seinen Ansichten einverstanden. »Aber Dick«, sagte sie ruhig, »es gibt falschen und echten Besitz. Wenn jeder so denken würde wie du, hätte sich die Menschheit nie weiterentwickelt. Dann würden wir noch immer in Höhlen wohnen. Ja, nicht einmal das Rad wäre erfunden! Der Mensch braucht einen Anreiz, wenn auch vielleicht nicht immer einen finanziellen …« Dick lachte. »Du bist sicher die fünfzigste Frau, die mir das sagt. Es spricht für die Allgemeinbildung von euch Mädchen, dass ihr, kaum trefft ihr Dick Brown, sofort von Rad und Hebelkraft redet. Eine französische Prostituierte belehrte mich sogar über den Drehpunkt.« – »Leb wohl, Dick«, sagte Dottie rasch, »ich darf dich nicht von der Arbeit abhalten.« – »Willst du denn nicht meine Telefonnummer haben?«, fragte er und schüttelte in gespieltem Vorwurf den Kopf. Sie reichte ihm das blaulederne Adressbuch, und er trug mit einem dicken Zeichenstift schwungvoll seinen Namen und die Telefonnummer seiner Zimmerwirtin ein. Er hatte eine sehr markante Handschrift. »Bis dann, Boston.« Er nahm ihr langes Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte es zerstreut hin und her. »Also, vergiss nicht: keinen Unsinn machen. Nicht verlieben. Ehrenwort.«

Ungeachtet dieser Abmachung hüpfte Dotties Herz vor Glück, als sie drei Tage später neben Kay Petersen im Wartezimmer der Ärztin saß. Taten bedeuten mehr als Worte, und was immer Dick sagen mochte, es war eine Tatsache, dass er sie hergeschickt hatte, um gleichsam durch den Ring oder das ringförmige Pessar, das die Ärztin verschrieb, ferngetraut zu werden. Mit frisch gewelltem Haar und einem leuchtenden Teint, dem man die Kosmetikbehandlung ansah, wirkte sie ruhig und selbstsicher, wie eine zufriedene, erwachsene Frau, fast wie Mama und ihre Freundinnen. Das Wissen um die Dinge verlieh ihr diese Gelassenheit. Kay hatte es kaum glauben wollen, aber Dottie hatte ganz allein eine Beratungsstelle für Geburtenkontrolle aufgesucht. Dort hatte man ihr die Adresse einer Ärztin gegeben sowie einen Stapel von Prospekten über eine Unzahl verschiedener Pessare mit allen Vor- und Nachteilen – Tamponeinlagen, Schwammeinlagen, Intrauterinpessare, Portiokappen, Seidenringe, Ketten et cetera. Man hatte Dottie ein neues Fabrikat empfohlen, das von der gesamten Ärzteschaft der USA befürwortet wurde. Margaret Sanger hatte es in Holland entdeckt, man importierte es jetzt zum ersten Mal in großen Mengen in die Staaten und auch die einheimischen Hersteller durften es kopieren. Es vereinigte das Maximum an Schutz mit einem Minimum an Unannehmlichkeit und konnte, nach Anleitung eines Facharztes, von jeder halbwegs intelligenten Frau angewendet werden.

Diesen Artikel, eine auf einen Spiralrand montierte Gummikappe, gab es in verschiedenen Größen, und jetzt sollte in Dotties Scheide festgestellt werden, welche für sie die richtige und die bequemste sei, ähnlich wie man beim Augenarzt ein Brillenglas ausprobiert. Die Ärztin würde das Pessar einsetzen und, wenn sie die richtige Größe gefunden hatte, Dottie anleiten, wie man es einlegte, wie man es mit einer Verhütungscreme einschmierte, indem man einen Klecks davon in die Mitte tat, wie man in die Hocke ging, das Pessar mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand zusammendrückte, mit der linken Hand die Schamlippen teilte und es dann so einschob, dass es auf den Gebärmutterhals aufsprang, und wie man schließlich mit dem Mittelfinger der rechten Hand nachfühlte, ob die Cervix oder der Gebärmutterhals auch wirklich ganz durch den Gummi verschlossen war. Wenn das mehrfach zur Zufriedenheit der Ärztin geübt worden wäre, würde Dottie lernen, wie und wann man eine Spülung machte, wie viel Wasser man verwenden, in welcher Höhe man den Irrigator aufhängen und wie man die Schamlippen fest um das eingefettete Mundstück drücken müsse, um die besten Resultate zu erzielen. Beim Verlassen der Praxisräume würde die Schwester ihr einen festen Umschlag aushändigen, der eine Tube Vaginalsalbe und ein flaches Kästchen mit dem Pessar enthielt. Die Schwester würde ihr dann noch die Pflege des Pessars erklären: Nach jedem Gebrauch waschen, sorgfältig abtrocknen und, bevor man es in den Kasten zurücklegt, mit Talkumpuder einstäuben.

Kay und Harald fielen fast in Ohnmacht, als sie erfuhren, was Dottie hinter ihrem Rücken getrieben hatte. Sie besuchte sie in ihrer Wohnung, brachte ihnen als Hochzeitsgeschenk ein antikes silbernes Milchkännchen mit – das typische Alte-Tanten-Geschenk – und einen Strauß weißer Pfingstrosen. Die tief enttäuschte Kay rechnete sich aus, dass man für dasselbe Geld etwas Schlichtes und Modernes bei Jensen, dem dänischen Silberschmied, bekommen hätte. Dann verschwand Harald in der Küche, um das Abendessen zu machen (Muschelhaschee auf Toast, eine Konservenneuheit), und Dottie erzählte Kay, die wissen wollte, was sie inzwischen erlebt habe, seelenruhig, dass sie sich Dick Brown zum Liebhaber genommen habe. Auf Dottie passte diese hoheitsvoll klingende Formulierung einfach grandios. Das musste Kay unbedingt Harald erzählen. Es war anscheinend erst vergangene Nacht passiert, in Dicks Atelier, und bereits heute war Dottie in die Beratungsstelle für Geburtenkontrolle gelaufen und hatte sich die vielen Prospekte besorgt, die jetzt in ihrer Handtasche steckten. Kay wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, aber ihr Gesicht verriet wohl, wie entsetzt sie war. Dottie musste verrückt geworden sein. Hinter seiner virilen Fassade, wie Harald das nannte, war Dick Brown ein völlig verkorkster Mensch, ein Trinker und erbitterter Weiberfeind mit einem grässlichen Minderwertigkeitskomplex, weil seine mondäne Frau sich von ihm getrennt hatte. Seine Motive waren völlig klar – er benutzte Dottie, um an der Gesellschaft Rache zu nehmen für die Wunde, die sie seinem Ego zugefügt hatte. Kay konnte es kaum erwarten, wie Harald die Sache psychologisch zerpflücken würde, sobald sie erst allein wären. Aber trotz aller Ungeduld forderte sie Dottie auf, zum Essen zu bleiben, sehr zu Haralds Erstaunen, der ein Tablett mit Cocktails hereinbrachte. Wenn Harald erst im Theater war, würde Dottie bestimmt noch mehr erzählen. »Ich musste sie einladen«, entschuldigte sie sich bei einem kurzen Gespräch in der Küche. Sie flüsterte ihm ins Ohr: »Etwas Furchtbares ist passiert, und wir sind verantwortlich: Dick Brown hat sie verführt.«

Immer wieder sah sie Dottie an, aber sie konnte sie sich einfach nicht mit einem Mann im Bett vorstellen: Sie wirkte so brav, mit ihren Perlen, dem Schneiderkostüm mit weißem Besatz, dem eleganten marineblauen Strohhut und wie sie so heiter gelassen ihren Cocktail aus der Russel-Wright-Schale nippte und sich den Eiweißschnurrbart von der Oberlippe wischte.

Harald meinte später, sie sei auf ihre eichkätzchenhafte Art ein recht appetitliches Ding, mit diesen freundlichen braunen Augen, die stillvergnügt strahlten, und den langen Wimpern, die bei jedem Blick, den sie auf ihn richtete, zu flattern schienen. Doch er merkte nicht, wie viel auf das Konto ihrer Kleidung ging. Dottie verdankte es ihrer cleveren Mutter, dass sie sich so schick anzog. Sie war die Einzige aus der Bostoner Gruppe in Vassar, die sich nicht in Tweed und Wollschals hüllte, was die armen Dinger wie hagere ältliche Gouvernanten auf einem Sonntagsspaziergang wirken ließ. Nach Haralds Ansicht versprach ihre vollbusige Figur, die sich unter ihren schräg geschnittenen Blusen abzeichnete, ein sinnliches Temperament. Wahrscheinlich, das musste Kay sich eingestehen, hatte es tatsächlich etwas zu bedeuten, dass Dick selbst und anscheinend sogar aus eigener Initiative Dottie aufgefordert hatte, sich ein Pessar anpassen zu lassen. »Du sollst mich um Rat fragen?«, wiederholte Kay erstaunt und einigermaßen geschmeichelt, nachdem Harald gegangen war und sie zusammen das Geschirr spülten. Sie hatte immer geglaubt, dass er sie nicht leiden könne. Pessare waren ihr zwar ein Begriff, sie selbst jedoch besaß keines. Mit Harald benutzte sie immer Zäpfchen, und sie genierte sich ein wenig, das Dottie einzugestehen, da Dottie sie offenbar derartig überflügelt hatte, und das nach einer einzigen Nacht … Sie beneidete Dottie um ihre Tatkraft, mit der sie die Beratungsstelle für Geburtenkontrolle aufgesucht hatte. Sie selbst hätte als Unverheiratete niemals den Mut dazu aufgebracht. Ob es wohl ein gutes Zeichen sei, dass Dick ihr das nahegelegt hatte, wollte Dottie wissen, und Kay musste zugeben, dass es ganz so aussah. Es könne nur bedeuten, dass Dick regelmäßig mit ihr zu schlafen gedenke – wenn man das für gut hielt.

Als sie sich über ihre eigenen Gefühle Rechenschaft ablegte, entdeckte Kay, dass sie sich ärgerte. Der Gedanke, dass Dottie im Bett besser war als sie, wurmte sie. Aber um der Wahrheit willen musste sie Dottie doch sagen, dass Dick sich im Fall einer flüchtigen Affäre mit Präservativen (wie Harald es anfangs auch getan hatte) oder dem Coitus interruptus begnügt hätte. »Er scheint dich gern zu haben, Renfrew«, erklärte sie und wrang den Spüllappen aus, »oder jedenfalls gern genug.« Das war auch Haralds Meinung.

Auf dem Weg zur Ärztin, auf dem Oberdeck eines Fifth-Avenue-Busses, berichtete Kay Dottie alles, was Harald ihr über die Regeln der Verhütung gesagt hatte. Er behauptete, es sei eine Etikette wie jede andere – nämlich ein Sittenkodex, der sich aus den sozialen Gegebenheiten entwickle und vom wirtschaftlichen Standpunkt aus zu betrachten sei. Ein Ehrenmann (und das war Dick in Haralds Augen) würde einem Mädchen niemals zumuten, das Geld für die ärztliche Konsultation, das Pessar, die Salbe und den Irrigator auszugeben, wenn er nicht beabsichtigte, so lange mit ihr zu schlafen, bis ihre Auslagen sich amortisiert hatten. Davon könne Dottie überzeugt sein. Ein Mann, der nur an ein flüchtiges Abenteuer denke, würde lieber dutzendweise Präservative kaufen, selbst wenn sie sein eigenes Vergnügen beeinträchtigten. Auf diese Weise sei er nicht an das Mädchen gebunden. Die unteren Klassen zum Beispiel würden die Verhütung niemals der Frau überlassen. Das mache nur der Mittelstand. Ein Arbeiter mache sich entweder keine Gedanken wegen einer möglichen Schwangerschaft oder misstraue dem Mädchen zu sehr, um ihr die Sache zu überlassen.

Dieses Misstrauen, hatte Harald gesagt, das tief in der männlichen Natur wurzele, hindere selbst Männer des Mittelstandes oder gehobener Berufe, Mädchen wegen eines Pessars zur Ärztin zu schicken. Zu viele Blitzhochzeiten hätten ihre Ursache darin, dass der Mann sich darauf verließ, dass das Mädchen das Pessar eingelegt hatte. Außerdem war da noch das ganze problematische Drum und Dran. Das unverheiratete Mädchen, das bei seinen Eltern lebte, benötigte für Pessar und Irrigator ein Versteck, das die Mutter beim Aus- und Aufräumen der Kommodenschubladen nicht sofort entdecken konnte. Das hieß, dass der Mann – außer er war verheiratet – ihre Sachen in seinem eigenen Badezimmer aufbewahren müsse. Die Obhut dieser Gegenstände nehme die Form einer heiligen Hüterschaft an. Wenn ihr Hüter nun einigermaßen feinfühlig sei, so schließe das Vorhandensein der betreffenden Gegenstände in seiner Wohnung den Besuch anderer Frauen aus, die womöglich im Medizinschrank herumstöberten oder sich gar für berechtigt hielten, ihren geheiligten Irrigator zu benutzen.

Bei einer verheirateten Frau sei, wenn es sich um eine ernsthaftere Beziehung handle, die Situation die gleiche: Sie kaufe sich ein zweites Pessar und einen zweiten Irrigator, die sie in der Wohnung ihres Liebhabers deponiere, und das Vorhandensein dieser Gegenstände habe auf die Dauer einen hemmenden Einfluss, wenn er die Neigung verspürte, sie zu betrügen. Ein Mann, dem diese wichtige Ausrüstung anvertraut wird, so Harald, sei gewissermaßen wie ein Bankangestellter gebunden. Wenn er sich mit einer anderen Frau einlasse, so tue er das wahrscheinlich in ihrer Wohnung oder einem Hotelzimmer oder sogar in einem Taxi – an irgendeinem Ort, der nicht durch jene geheiligten Mahner geweiht sei. So verpfände auch die verheiratete Frau ihre Liebe, indem sie das zweite Pessar ihrem Liebhaber anvertraue. Nur eine sehr grob gestrickte Frau würde für ihren Mann wie für ihren Liebhaber dasselbe Pessar benützen. Solange der Liebhaber das Pessar in seiner Obhut habe, wie der mittelalterliche Ritter den Schlüssel zum Keuschheitsgürtel seiner Dame, könne er sich ihrer Treue sicher sein. Obwohl auch das einen Irrtum nicht ausschließe. Harald hatte die Geschichte von einer abenteuerlustigen Ehefrau erzählt, die in der ganzen Stadt Pessare deponiert hatte, wie ein Matrose, der in jedem Hafen eine Frau hat, wohingegen ihr Mann, ein vielbeschäftigter Theaterdirektor, sich ihrer ehelichen Treue zu vergewissern glaubte, indem er täglich das Kästchen im Medizinschrank inspizierte, wo wohleingepudert das eheliche Pessar lag.

»Harald hat die Sache offenbar eingehend studiert«, bemerkte Dottie verschmitzt. »Ich habe es sehr schlecht erzählt«, erwiderte Kay ernst. »Wenn Harald es erzählt, sieht man die ganze Sache unter dem Gesichtspunkt des Besitzes, dem Fetischismus des Besitzes. Ich riet ihm, für den Esquire darüber zu schreiben. Der bringt manchmal ganz gute Sachen. Findest du nicht auch, dass er es tun sollte?« Dottie wusste darauf keine Antwort. Sie fand Haralds Auffassung ziemlich unerfreulich, so kalt und durchdacht, wenn er auch eine Menge davon verstehen mochte. Es war jedenfalls etwas völlig anderes als das, was man den Prospekten über Empfängnisverhütung entnahm.

Ferner, zitierte Kay, bereite die Beseitigung von Pessar und Irrigator gewisse Schwierigkeiten, wenn eine Beziehung zu Ende sei. Was soll der Mann mit diesen hygienischen Reliquien anfangen, wenn er – oder die Frau – des anderen überdrüssig ist? Man könne sie nicht wie Liebesbriefe oder einen Verlobungsring durch die Post zurückschicken, obwohl auch das schon mancher Rohling getan hätte. Andererseits könne man sie auch nicht in den Abfalleimer werfen, wo Hausmeister oder Zimmerwirtinnen sie finden würden. Sie ließen sich nicht verbrennen, ohne einen fürchterlichen Gestank zu verursachen, und sie für eine andere Frau aufzuheben sei bei unseren bürgerlichen Vorurteilen undenkbar. Man könne sie eventuell, eingewickelt in Papier, spätnachts zu einem der öffentlichen Abfallkörbe tragen oder in den Fluss werfen, aber Freunde von Harald, die das einmal getan hatten, waren dabei tatsächlich von der Polizei ertappt worden. Wahrscheinlich hatten sie sich zu auffällig benommen. Die Beseitigung von Pessar und Irrigator, dem Corpus delicti einer Liebesaffäre, sei, wie Harald sich ausdrückte, genauso schwierig wie die Beseitigung einer Leiche. »Ich sagte, man könne es doch genauso machen wie die Mörder in einem Kriminalroman: sie in der Kofferaufbewahrung der Grand Central Station abgeben und dann den Aufbewahrungszettel wegwerfen.« Kay lachte in ihrer schallenden Art, aber Dottie schauderte. Es würde absolut nicht komisch sein, wenn sich ihr und Dick das Problem einmal stellen sollte. Sooft sie an die Zukunft dachte, an die entsetzlichen Komplikationen, die eine heimliche Liebesbeziehung mit sich brachte, hätte sie am liebsten aufgegeben. Und Kays Ratschläge, wenn auch zweifellos gut gemeint, schienen darauf angelegt, sie durch ihre Unerbittlichkeit und ihren Zynismus zu deprimieren.

Infolgedessen, fuhr Kay fort, schicke ein Junggeselle, der bei Verstand sei, ein Mädchen nur dann wegen eines Pessars zum Arzt, wenn ihm viel an ihr liege. Schwierigkeiten träten lediglich bei bürgerlich verheirateten Frauen oder bei Mädchen der Gesellschaft auf, die mit den Eltern oder anderen Mädchen zusammenwohnten. Es gebe freilich auch Frauen leichteren Kalibers, geschiedene Frauen und alleinstehende Sekretärinnen und Büroangestellte mit eigener Wohnung, die sich ihre Ausrüstung selbstständig besorgten und ihren Irrigator an die Badezimmertür hängten, für jeden sichtbar, der bei einer Cocktailparty einmal das Bad benutzen musste. Einer von Haralds Freunden, ein erfahrener Regisseur, besehe sich grundsätzlich immer erst das Badezimmer, bevor er etwas mit einem Mädchen anfange. Hinge der Irrigator an der Tür, könne er mit neunzig Prozent Wahrscheinlichkeit beim ersten Versuch bei ihr landen.

Sie verließen den Bus an der unteren Fifth Avenue. Dotties Gesicht war voller Flecken – ein sicheres Zeichen dafür, dass sie nervös war. Kay gab sich mitfühlend. Dies sei ein wichtiger Schritt für Dottie, sie habe Dottie eine Vorstellung davon vermitteln wollen, wie wichtig es sei, viel wichtiger als der Verlust ihrer Jungfräulichkeit. Für eine verheiratete Frau sei es natürlich etwas anderes. Harald sei gleich dafür gewesen, dass sie Dottie begleite und sich ebenfalls ein Pessar anpassen lasse. Sowohl sie wie auch Harald verabscheuten Kinder und hatten nicht die geringste Absicht, welche in die Welt zu setzen.

Kay hatte in ihrer eigenen Familie erlebt, welche Belastung Kinder für eine Ehe bedeuten können. Der vielen Geschwister wegen musste Papa schwer schuften. Hätte er nicht so viele Kinder gehabt, wäre er vielleicht ein berühmter Spezialist geworden statt ein hart schuftender praktischer Arzt, an dessen Leistungen auf orthopädischem Gebiet und in der Meningitisforschung nun eine Station des Krankenhauses erinnerte. Dem armen Papa hatte es richtig Spaß gemacht, sie in den Osten nach Vassar zu schicken. Sie war die Älteste und Gescheiteste, und sie war davon überzeugt, dass er ihr zu dem Leben verhelfen wollte, das er selbst hätte haben können, draußen in der großen Welt, wo er die Anerkennung gefunden hätte, die er verdiente. Er wurde heute noch zu Forschungsarbeiten in die großen Laboratorien des Ostens eingeladen. Aber er meinte, er sei jetzt zu alt, um noch zu lernen, er verkalke schon. Er hatte Kay und Harald gerade einen fürstlichen Scheck geschickt. Sie waren darüber zu Tränen gerührt gewesen – es war viel mehr, als Mutter und er jemals für die Fahrt und Unterkunft ausgegeben hätten, wenn sie zur Hochzeit gekommen wären. Es sei ein Vertrauensbeweis, hatte Harald gesagt. Und sie und Harald hatten nicht die Absicht, dieses Vertrauen dadurch zu enttäuschen, dass sie Kinder kriegten, bevor Harald sich in der Theaterwelt einen Namen gemacht hatte. Das Theater – seltsamer Zufall – war eine von Papas großen Passionen. Er und Mutter besuchten in Salt Lake City alle Vorstellungen durchreisender Theatergruppen und gingen, wenn sie zu Ärztekongressen nach New York kamen, fast jeden Abend in eine Vorstellung.

Wie alle modernen Ärzte war Kays Vater für Geburtenbeschränkung und für die Sterilisierung von Verbrechern und Asozialen. Er würde Kays Verhalten sicherlich richtig finden. Wie er Dotties Verhalten beurteilen würde, war eine andere Frage. Kay selbst war entsetzt, als sie hörte, dass Dottie sich unter ihrem vollen Namen angemeldet hatte: Dorothy Renfrew, nicht einmal »Frau«! Als lebten sie in Russland oder Schweden statt in den braven alten USA. Viele, die nichts dabei finden würden, dass sie mit Dick geschlafen hatte – das konnte jedem passieren –, würden sie scheel ansehen, wenn sie wüssten, was sie, Kay, gerade jetzt vorhatte. Was man privat tut, geht keinen etwas an, aber dies war ja geradezu öffentlich! Sie sah sich argwöhnisch auf der Fifth Avenue um. Man konnte nie wissen, wer einen vielleicht aus einem fahrenden Bus oder Taxi beobachtete.

Sie wurde jetzt, in Begleitung Dotties, nervös und gleichzeitig wurde sie immer ärgerlicher auf Dick. Harald hätte ihr so etwas nie zugemutet. Nach den ersten paar Malen war er selbst in den Drugstore gegangen und hatte ihr die Zäpfchen und eine Frauendusche gekauft, um ihr die Begegnung mit dem Drogisten zu ersparen. Kay packte Dottie am Arm und führte sie über die Straße. Sie verfluchte den Tag, an dem sie Dick, den sie ja kannte, zu ihrer Hochzeit eingeladen hatte. Die Praxis der Ärztin konnte immerhin von der Polizei durchsucht, die Krankengeschichten konnten beschlagnahmt und in der Presse veröffentlicht werden, und das wäre das Ende für Dotties Familie, die dann wahrscheinlich Kay, als die erste Verheiratete der Clique, dafür verantwortlich machen würde. Sie empfand es als ein ziemliches Opfer, dass sie Dottie heute begleitete und moralisch stützte, obwohl diese ihr entgegenhielt, dass Geburtenregelung laut eines Gerichtsurteils, das Ärzten gestattete, Verhütungsmittel zu verschreiben, völlig legal und erlaubt sei.

Als sie bei der Ärztin läuteten, musste Kay plötzlich über Dotties Gesichtsausdruck lachen, über ihren entschlossenen Blick. Und tatsächlich spiegelte sich Dotties Eifer in der militanten Strenge des Wartezimmers, das der Geschäftsstelle einer missionierenden Sekte glich. Auf der Rückenlehne des einzigen Polstersofas lagen zwei weiße Kopfschoner, an der braungetönten Wand stand eine Reihe gradlehniger Stühle. Der Zeitschriftenständer enthielt Exemplare von Hygieia, Parents, Consumers’ Research Bulletin, eine der letzten Nummern der Nation und eine alte Nummer von Harper’s. Auf Radierungen an den Wänden waren überfüllte Elendsviertel mit rachitischen Kindern abgebildet, und die Lithographie einer Krankenhausstation aus dem vorigen Jahrhundert zeigte junge Frauen, die, ohne Pflege und ihre Säuglinge neben sich, im Sterben lagen – an Kindbettfieber, flüsterte Dottie. Im Raum herrschte eine fast fromme Stille, es gab keine Aschenbecher und das dumpfe Surren eines Ventilators tat ein Übriges. Kay und Dottie zogen automatisch ihre Zigarettenetuis hervor, steckten sie jedoch nach einem prüfenden Rundblick wieder ein. Außer ihnen warteten noch zwei Patientinnen. Die eine, eine blasse magere Frau von etwa dreißig, hatte ein Paar Baumwollhandschuhe auf dem Schoß liegen und trug keinen Ehering – worauf Dottie Kay wortlos aufmerksam machte. Die zweite Patientin, mit randloser Brille und abgetragenen Schuhen, war bestimmt schon über vierzig. Der Anblick dieser alles andere als wohlhabenden Frauen sowie der Bilder an den Wänden hatte auf die Mädchen eine ernüchternde Wirkung. Kay musste unwillkürlich an das Wort vom »heilsamen Wirken des Arztes« denken, das die Elite von Salt Lake City so gern auf ihren Vater anwandte, und schämte sich nun der zynischen Art, mit der sie, wenn auch nur Harald zitierend, im Bus über Geburtenregelung gesprochen hatte. »Mädchen, streckt eure Fühler aus«, war das Lieblingswort der Lehrerin gewesen, die Kay am meisten schätzte, und Kay, die an die zahlungsunfähigen Patienten ihres Vaters erinnert wurde, sah zu ihrem Unbehagen, dass sie und Dottie in dieser Praxis nicht mehr waren als eine dekorative Randerscheinung.

Was Kay jedoch immer wieder vergaß, obwohl Harald es ihr unentwegt einhämmerte, war die Tatsache, dass sie und ihr Freundeskreis in der amerikanischen Gesellschaft, wie sie die beiden Frauen hier im Wartezimmer repräsentierten, keine Rolle mehr spielten. Gestern Abend, nach dem Theater, als alle drei auf ein Bier in ein Speakeasy gingen, hatte Harald das Dottie eingehend erklärt. Dass Roosevelt gerade jetzt vom Goldstandard abgegangen war, bedeute eine Unabhängigkeitserklärung vom alten Europa und die Ankündigung einer neuen dynamischen Epoche. Die N. R. A. und der Adler seien Symbole der Machtergreifung einer neuen Klasse. Ihre eigene Klasse, der gehobene Mittelstand, so sagte Harald, sei politisch und wirtschaftlich erledigt. Die besten von ihnen würden mit der aufsteigenden Klasse der Arbeiter, Bauern und Techniker verschmelzen, zu der er als Bühnentechniker gehörte. Man nehme zum Beispiel das Theater. Zu Belascos Zeiten sei der Regisseur König gewesen. Heute jedoch sei er nicht nur von seinen Geldgebern, unter Umständen einem ganzen Konsortium, abhängig, sondern fast noch mehr von seinem Chefbeleuchter, mit dessen Beleuchtungstechnik ein Stück stehe und falle. Hinter jedem Regisseur mit großem Namen, wie zum Beispiel Jed Harris, stehe ein genialer Beleuchter, wie hinter jedem Filmregisseur mit großem Namen ein genialer Kameramann. Für das Radio gelte das Gleiche: Wer zähle, seien die Ingenieure, die Männer im Senderaum. Ein Arzt hänge heutzutage von seinen Technikern ab, von den Männern im Laboratorium und im Röntgenzimmer. »Das sind die Jungens, die eine Diagnose bestätigen oder zerstören können.«

Gestern Abend hatte Kay sich an dem von ihm heraufbeschworenen Zukunftsbild vom Massenüberfluss durch die Maschinen begeistert. Es freute sie, dass er Dottie imponierte. Dottie hatte keine Ahnung gehabt, dass er sich so viel mit Soziologie beschäftigte, denn in seinen Briefen war davon nicht die Rede gewesen. »Als Individuen«, erklärte er, »habt ihr Mädels an die aufsteigende Klasse etwas weiterzugeben, genau wie das alte Europa an Amerika.« Kay genoss es, dass er den Arm um ihre Taille gelegt hatte, während Dottie mit großen Augen zuhörte, denn Kay wollte nicht hinter der Geschichte herhinken, zugleich war sie nicht vorbehaltlos für das Prinzip der Gleichheit. Sie sei, gestand sie, nun einmal gern die Überlegene. Harald hatte in der guten Stimmung von gestern Abend gemeint, dass das auch im neuen Zeitalter immer noch möglich wäre, auf andere Weise freilich.

Gestern Abend hatte er Dottie das Wesen der Technokratie erklärt, um ihr zu zeigen, dass man von der Zukunft nichts zu befürchten habe, wenn man ihr mit einem wissenschaftlich geschulten Intellekt begegne. In einer Wirtschaft der Fülle und der Muße, die die Maschine bereits ermöglicht habe, werde jeder nur ein paar Stunden am Tage arbeiten müssen. In einer solchen Wirtschaft werde seine Klasse, die Klasse der Künstler und Techniker, zwangsläufig nach oben kommen. Die Huldigung, die man heute dem Gelde darbringe, werde morgen den Ingenieuren und Freizeitgestaltern zuteilwerden. Mehr Muße bedeute mehr Zeit für Kunst und Kultur. Dottie wollte wissen, was mit den Kapitalisten geschehen würde (ihr Vater war im Importgeschäft), und Kay blickte fragend auf Harald. »Das Kapital wird in der Regierung aufgehen«, sagte Harald. »Nach kurzem Kampf. Das ist es, was wir zurzeit erleben. Der Administrator, der nichts anderes ist als ein Techniker im großen Stil, wird in der Industrie den Großkapitalisten ersetzen. Das Privateigentum wird sich immer mehr überleben und die Administratoren haben die Sache in die Hand genommen.« – »Robert Moses zum Beispiel«, warf Kay ein. »Mit seinen wunderbaren Parkanlagen und Spielplätzen hat er New York bereits ein völlig neues Gesicht gegeben.« Und dringendst empfahl sie Dottie, einmal nach Jones Beach zu fahren, das ihrer Meinung nach ein so faszinierendes Beispiel einer großzügigen Freizeitplanung sei. »Jeder Mensch in Oyster Bay«, ergänzte sie, »fährt jetzt zum Schwimmen dorthin. Man schwimmt nicht mehr im Club, man schwimmt in Jones Beach.« Das Privatunternehmen werde noch immer eine Rolle spielen, sofern es über genügend Weitblick verfüge. Radio City, wo er eine Zeitlang als Regieassistent gearbeitet habe, sei beispielhaft für eine Städteplanung vonseiten aufgeklärter Kapitalisten, den Rockefellers. Kay führte das Modern Museum an, das ebenfalls von den Rockefellers gefördert werde. Sie sei wirklich überzeugt, dass New York zurzeit eine neue Renaissance erlebe, bei der neue Medicis mit der öffentlichen Hand wetteiferten, um ein modernes Florenz zu schaffen. Man könne das sogar bei Macy’s sehen, wo aufgeklärte jüdische Kaufleute wie die Strausens eine Armee von Technikern aus der oberen Mittelklasse, Kay zum Beispiel, ausbilde, um aus dem Warenhaus mehr als ein Geschäft zu machen, etwas wie ein zivilisatorisches Zentrum, einen ständigen Basar mit Ausstellungsgegenständen von kulturellem Interesse, wie der alte Crystal Palace. Dann sprach Kay von den eleganten neuen Wohnblocks am Ufer des East River, schwarz, mit weißem Stuck und weißen Jalousien, sie seien ein weiteres Beispiel für intelligente Planung durch das Kapital. Vincent Astor hatte sie erstellt. Natürlich seien die Mieten ziemlich hoch, aber was bekam man nicht alles dafür! Einen Blick auf den Fluss, nicht weniger gut als der Blick von den Sutton-Place-Appartements, manchmal einen Garten, wie gesagt, die Jalousien, genau wie die alten, nur modernisiert, und eine ultramoderne Küche. Und wenn man bedachte, dass diese Blocks vor ihrer Renovierung durch die Astors mit ihrem Ungeziefer und den unhygienischen Aborten nur die Gegend verschandelt hatten. Andere Hausbesitzer seien bereits diesem Beispiel gefolgt, wandelten alte Mietskasernen in vier- und fünfstöckige Wohnblocks um, mit grün bewachsenen Innenhöfen und Zwei- und Drei-Zimmer-Wohnungen für junge Leute, manche davon mit offenen Kaminen, eingebauten Bücherregalen, nagelneuer Installation, Badezimmern, Toiletten sowie Kühlschrank und Herd. Da entfiel jede Raumverschwendung – es gab weder Dielen noch Speisezimmer, das seien überholte Einrichtungen. Harald, erklärte Kay, sei ein fanatischer Gegner jeder Raumverschwendung. Für ihn müsse ein Haus eine Wohnmaschine sein. Wenn sie erst eine eigene Wohnung fänden, würden sie sich alles einbauen lassen: Bücherregale, Schreibsekretäre, Kommoden. Die Betten wären Sprungfedermatratzen auf vier niedrigen Klötzen, und als Esstisch dächten sie an eine in die Wand versenkbare Platte in der Art eines Bügelbretts, nur breiter.

Kay war selten so glücklich gewesen wie gerade jetzt, da sie Dottie ihre Pläne für die Zukunft schilderte, während Harald mit kritisch hochgezogener Braue zuhörte und bei jedem Fehler korrigierend dazwischenfuhr. Dottie brachte dann einen Misston in die Unterhaltung, indem sie mit ihrer sanft rollenden Stimme fragte, was denn aus den Armen würde, die vorher in den Häusern gewohnt hatten. Wo zögen die hin? Mit dieser Frage hatte Kay sich nie beschäftigt, und auch Harald wusste keine Antwort, was ihn sofort merklich verstimmte. »Cui bono?«, sagte er. »Wer profitiert davon? He?«, und machte dem Kellner ein Zeichen, noch ein zweites Bier zu bringen. Darüber erschrak Kay, die wusste, dass er morgen früh um zehn mit einer zweiten Besetzung zu proben hatte. »Diese Frage ist ebenso simpel wie tief erschütternd«, fuhr er, zu Dottie gewandt, fort. »Was geschieht mit den Armen?« Er starrte düster vor sich hin, wie in ein Vakuum. »Fahren die Armen an den großen, weißen, keimfreien Strand von Mr. Moses, den Kay so faszinierend und gemeinnützig findet? Natürlich nicht, meine Damen! Sie haben weder das nötige Eintrittsgeld noch den Wagen, der sie hinbringen könnte. Der wird stattdessen zum Privatstrand der Oyster-Bay-Clique – einer Bande von Schiebern und deren Frauen, die mit ihren hübschen gepuderten Näschen an dem öffentlichen Trog schnuppern.« Kay sah, dass er immer mehr in Trübsinn versank (er bekam häufig solche skandinavischen Anfälle bitterer Verzweiflung), doch es gelang ihr, dem Gespräch eine harmlosere Wendung zu geben, indem sie die Rede auf Kochkunst und Kochrezepte brachte, eines seiner Lieblingsthemen, über das er sich dann auch Dottie gegenüber des Längeren ausbreitete, sodass sie um halb zwei Uhr zu Hause und im Bett waren.

Harald war eine sehr paradoxe Natur. Er griff oft aus heiterem Himmel gerade die Dinge an, die ihm am meisten am Herzen lagen. Als sie im Wartezimmer der Ärztin saß und verstohlen die anderen Patientinnen beobachtete, konnte sie sich sehr wohl vorstellen, dass er behaupten würde, sie und Dottie profitierten von dem Kreuzzug für die Geburtenregelung, der eine zahlenmäßige Begrenzung der Familien der Armen zum Ziel hatte. Im Geiste begann sie, sich zu verteidigen. Geburtenregelung, wandte sie ein, sei für diejenigen gedacht, die sie entsprechend anzuwenden und zu schätzen wussten – für die Gebildeten. Genau wie jene renovierten Wohnhäuser. Würde man den Armen gestatten, sie zu beziehen, würden sie sie, ungebildet wie sie waren, ohnehin sofort herunterwirtschaften.

Auch Dotties Gedanken weilten beim vergangenen Abend. Sie war ganz begeistert davon, wie Kay und Harald ihr Leben vorausplanten. Wenn Kay im September bei Macy’s anfing, würde Harald sich morgens um das Frühstück kümmern, dann die Wohnung saubermachen und einkaufen, damit Kay am Abend, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, nur noch zu kochen brauchte. Schon jetzt brachte Harald ihr das Kochen bei. Seine Spezialitäten waren italienische Spaghetti, was jeder Anfänger lernen konnte, jenes Muschelhaschee, das sie neulich Abend gehabt hatten – ganz ausgezeichnet –, Fleischklöße, die in Salzwasser in einer heißen Kasserole (ohne Fett) gekocht wurden, und ein Hackbraten, den er von seiner Mutter gelernt hatte: ein Teil Rindfleisch, ein Teil Schweinefleisch, ein Teil Kalbfleisch, Zwiebelscheiben hinzufügen und mit einer Büchse von Campbells Tomatensuppe übergossen im Ofen backen. Dann war da noch sein Chili con Carne: ein halbes Pfund Hackfleisch, Zwiebeln, dicke Bohnen aus der Büchse und wieder Tomatensuppe. Man richtete es auf Reis an und es reichte für sechs Personen. Auch dies Rezept stammte von seiner Mutter. Um nicht ins Hintertreffen zu geraten, wie sie lachend sagte, hatte Kay an ihre Mutter geschrieben und um einige ihrer billigeren Hausrezepte gebeten: Kalbsnieren mit Pilzen, in Sherry gedünstet, und einen fabelhaften Salat in Aspik, »Grüne Göttin« genannt, aus Limonengelatine, Krabben, Mayonnaise und Avocados. Man konnte diese Mischung am Abend vorher in Förmchen gießen und am nächsten Tag auf Kopfsalat servieren. Sie hatten vor, an Sonntagen Gäste einzuladen, entweder zu einem späten Frühstück mit Rauchfleisch oder Corned-Beef-Haschee oder zu einem Eintopfgericht am Abend. Das Schlimme an der amerikanischen Küche, sagte Harald, sei ihr Mangel an Fantasie und die Angst vor Innereien und Knoblauch. Er gelte als recht guter Koch und tue an alles Knoblauch. Die Hauptsache bei einem Gericht seien die Zutaten. »Hör nur mal, wie Harald Gehacktes zubereitet. Er gibt Senf, Worcestershire-Sauce, geriebenen Käse – stimmt doch? – und grünen Paprika und ein Ei dazu. Nie käme man auf die Idee, dass es etwas mit dem alten, glasigen Hackfleisch zu tun hätte, das man uns im College vorgesetzt hat.« Ihr Lachen schallte durch das Speakeasy. Wenn Dottie etwas lernen wollte, so solle sie die Rezepte in der Tribune studieren. »Ich liebe die Tribune«, sagte sie. »Harald hat mich von der Times abgebracht.« – »Die Typografie der Tribune ist weit besser als die der Times«, warf Harald ein. »Was für ein Glück du hast!«, bemerkte Dottie voller Wärme. »Einen Mann zu finden, der sich für Kochen interessiert und keine Experimente scheut. Die meisten Männer, weißt du, sind in ihrem Geschmack furchtbar konservativ. Wie Papa, der von vorgekochten Gerichten nichts wissen will, außer den guten alten Bohnen am Samstag.« Ihre Augen funkelten verschmitzt, aber sie fand wirklich, dass Kay großes Glück hatte. »Du solltest eure Köchin dazu bewegen, dieses neue Bohnenrezept auszuprobieren. Man gibt einfach Tomatenketchup, Senf und Worcestershire-Sauce hinzu, bestreut sie mit viel braunem Zucker, bedeckt sie mit Speck und erhitzt sie im Ofen in einer feuerfesten Glasschüssel.« – »Das klingt höchst verlockend«, meinte Dottie, »aber Papa wäre entsetzt.« Harald nickte. Er setzte zu einer Vorlesung über die Vorurteile konservativer Kreise gegen Konserven an. Sie gingen auf eine alte Angst vor Vergiftung zurück, sagte er, die aus der Zeit stamme, da man im Hause einzumachen pflegte und die Lebensmittel leicht verdarben. Moderne Maschinen und eine sachgemäße Verarbeitung in den Fabriken hätten nun jede Bakteriengefahr ausgeschaltet, aber das Vorurteil bestehe immer noch, und das sei bedauerlich, weil viele Lebensmittelkonserven, wie Gemüse, auf dem Höhepunkt des Reifens gepflückt, auch manche Campbell-Suppen, an Geschmack alles übertrafen, was eine Köchin zu leisten vermöge. »Hast du mal die neuen Corn Niblets versucht?«, fragte Kay. Dottie schüttelte verneinend den Kopf. »Du solltest deiner Mutter davon erzählen. Es ist Vollkornmais. Köstlich. Fast wie frische Maiskolben. Harald hat sie entdeckt.« Sie überlegte: »Kennt deine Mutter den sogenannten Eisbergsalat? Es ist eine neue Salatsorte, sehr knusprig, und hält sich wunderbar lange frisch. Wenn du den mal gekostet hast, wirst du den alten Bostoner Kopfsalat nicht mehr sehen wollen.« Dottie seufzte. Ob Kay sich wohl klar machte, fragte sie sich, dass sie soeben das Todesurteil über Bostoner Salat, Bostoner dicke Bohnen und das Bostoner Kochbuch gefällt hatte?

Trotzdem nahm Dottie sich vor, wenn sie erst einmal in ihrem Landhäuschen in Gloucester angelangt sei, einige von Kays Tipps an ihre Mutter weiterzugeben. Der Gedanke an ihre Mutter lastete auf ihrer Seele, schon seit jenem schicksalhaften Morgen, an dem sie in den Vassar-Club zurückkam und erfuhr, dass sie zweimal telefonisch aus Gloucester verlangt worden war, am Vorabend und am frühen Morgen. Es war ihr unsagbar schwergefallen, ihre Mutter zum ersten Mal im Leben wirklich anzulügen und ihr vorzuschwindeln, sie hätte mit Polly in der Wohnung von Pollys Tante übernachtet. Es schnitt ihr noch immer ins Herz, dass sie ihrer Mutter nichts von ihrem Besuch bei der Beratungsstelle für Geburtenkontrolle und jetzt hier bei der Ärztin berichten konnte, was Mama, als ehemalige Vassar-Studentin, die mit Lucy Stoners und anderen Frauenrechtlerinnen zusammen im gleichen Jahrgang gewesen war, bestimmt enorm interessiert hätte. Das bedrückende Bewusstsein, dass sie etwas verschwieg, ließ sie umso aufmerksamer auf Kleinigkeiten von einigem Interesse achten, über die sie zum Ausgleich in Gloucester berichten könnte – zum Beispiel Kays und Haralds Speisezettel und Haushaltsführung, die Mama wahnsinnig amüsieren würden. Vielleicht konnte sie ihr sogar erzählen, dass Kay bei der Geburtenkontrollstelle gewesen sei und dass man sie zu dieser Ärztin hier geschickt hätte, damit sie sich diesen neuen Apparat besorge?

»Miss Renfrew«, rief die Schwester leise. Dottie fuhr zusammen und stand auf. Sie sah Kay mit einem letzten verzweifelten Blick an, wie eine Internatsschülerin, die in das Zimmer der Vorsteherin zitiert wird. Langsam, mit fast versagenden Knien, bewegte sie sich auf das Ordinationszimmer der Ärztin zu. Am Schreibtisch, im weißen Kittel, saß eine Frau mit olivfarbener Haut und einem dicken schwarzen Haarknoten. Die Ärztin sah sehr gut aus und mochte vierzig Jahre alt sein. Ihre großen glänzenden Augen ruhten kurz auf Dottie, während ihre breite Rechte mit den spitz zulaufenden Fingern auf einen Stuhl wies. Sie begann mit der Anamnese, als handle es sich um eine übliche Konsultation. Sachlich notierte ihr Bleistift Dotties Antworten über Masern, Keuchhusten, Hautekzeme und Asthma. Und doch fühlte Dottie einen warmen, hypnotischen Charme, den sie ausstrahlte und der Dottie mitzuteilen schien, dass sie sich nicht zu fürchten brauche. Fast erstaunt wurde sich Dottie klar, dass sie beide Frauen waren. Die weibliche Aura der Ärztin wirkte, ebenso wie der weiße Kittel, beruhigend auf die Patientin. Der Ehering machte auf Dottie einen ebenso vertrauenerweckenden Eindruck wie die Trägerin.

»Haben Sie schon Verkehr gehabt, Dorothy?« Die Frage schien sich so natürlich an die Liste von Operationen und früheren Krankheiten anzuschließen, dass Dottie die Frage bejahte, noch ehe sie Zeit fand, sich zu genieren. »Gut!«, meinte die Ärztin und lächelte Dottie, welche sie verwundert ansah, ermutigend zu. »Das erleichtert uns die Anprobe«, erläuterte sie in lobendem Ton, als sei Dottie ein braves Kind gewesen. Dottie staunte über die Geschicklichkeit der Ärztin und saß, von ihrer Persönlichkeit ganz benommen, mit großen Augen da, während ihr durch eine Reihe von Fragen, wie mit einer kunstvoll gehandhabten Zange, völlig schmerzlos Auskünfte entrissen wurden. Dieses schmerzlose Verhör verriet keine größere Neugier hinsichtlich der näheren Umstände von Dotties Defloration. Dick hätte genauso gut ein chirurgisches Instrument sein können. War Dottie ganz perforiert worden, hatte sie stark geblutet, große Schmerzen gehabt? Welches Verhütungsmittel war angewendet worden, hatte sich der Akt wiederholt? »Interruptus«, murmelte die Ärztin und notierte das auf einem zweiten Schreibblock. »Wir wissen immer gern«, erklärte sie mit einem raschen herzlichen Lächeln, »welche Methoden unsere Patientinnen angewendet haben, bevor sie zu uns kommen. Wann fand der Verkehr statt?« – »Vor drei Tagen«, erwiderte Dottie errötend und glaubte, nun komme die persönliche Seite zur Sprache. »Und wann war Ihre letzte Periode?« Dottie gab das Datum an und die Ärztin warf einen Blick auf ihren Tischkalender. »Sehr schön«, sagte sie. »Gehen Sie jetzt in das Badezimmer, entleeren Sie Ihre Blase, und ziehen Sie Hüftgürtel und Schlüpfer aus, das Unterkleid dürfen Sie anbehalten, aber legen Sie bitte den Büstenhalter ab.«

Dottie störte weder die Unterleibsuntersuchung noch die Anprobe des Pessars. Schlimm wurde es für sie erst, als sie lernen sollte, es sich selber einzulegen. Obwohl sie sonst recht geschickte Hände hatte, fühlte sie sich plötzlich durch die Ärztin und die Schwester irritiert, deren forschende Blicke sie so prüfend und unpersönlich abtasteten wie der Gummihandschuh der Ärztin. Beim Zusammendrücken des Pessars rutschte ihr das glitschige, salbenbeschmierte Ding aus der Hand, schoss quer durch den Raum und traf den Sterilisator. Dottie wäre am liebsten im Erdboden versunken. Aber für die Ärztin und die Schwester war das anscheinend nichts Neues. »Versuchen Sie es noch einmal, Dorothy«, sagte die Ärztin gelassen und holte ein neues Pessar der richtigen Größe aus der Schublade. Dann hielt sie, wie zur Ablenkung, einen kleinen Vortrag über die Geschichte des Pessars, wobei sie jedoch Dottie nicht aus den Augen ließ: dass schon die alten Griechen einen medizinischen Stöpsel kannten, ebenso die Juden und Ägypter, wie Margaret Sanger in Holland das moderne Pessar erfunden, welche Kämpfe man vor den hiesigen Gerichten ausgefochten hatte … Dottie hatte das alles schon gelesen, wollte das aber der brünetten, stattlichen Frau, die mit ihren Instrumenten wie eine Tempelpriesterin hantierte, nicht sagen. Wie jeder aus den Zeitungen wusste, war die Ärztin selbst erst vor ein paar Jahren im Verlauf einer Razzia in einer Klinik für Geburtenbeschränkung verhaftet und dann freigesprochen worden. Sie über ihre Lebensaufgabe sprechen zu hören war eine Ehre, gleichsam als ob man den Mantel des Propheten berührte. Dottie war gebührend beeindruckt.

»Eine Privatpraxis ist doch wohl recht unbefriedigend«, erkundigte sie sich teilnahmsvoll. Für eine so dynamische Person wie die Ärztin konnte es nicht sehr aufregend sein, jungen Mädchen Pessare anzupassen. »Wir haben immer noch eine große Aufgabe vor uns«, seufzte die Ärztin und entfernte das Pessar mit einem kurzen anerkennenden Nicken. »So viele unserer Klinikpatientinnen wollen das Pessar, das wir ihnen verordnen, nicht benutzen oder wenigstens nicht regelmäßig benutzen.« Die Schwester wiegte den Kopf unter der weißen Haube und schnalzte missbilligend. »Und gerade die haben es am nötigsten, ihre Kinderzahl zu beschränken, nicht wahr, Frau Doktor? Bei unseren Privatpatientinnen können wir uns eher darauf verlassen, dass sie unsere Vorschriften befolgen, Miss Renfrew.« Sie grinste anzüglich. »Ich brauche Sie jetzt nicht mehr, Miss Brimmer«, sagte die Ärztin, die sich am Spültisch die Hände wusch. Die Schwester ging hinaus, und Dottie, die sich mit ihren umgerollten Strümpfen und dem lose hängenden Büstenhalter ziemlich albern vorkam, wollte ihr folgen. »Einen Augenblick, Dorothy«, sagte die Ärztin, drehte sich um und fixierte sie mit ihrem leuchtenden Blick. »Haben Sie noch irgendwelche Fragen?« Dottie schwankte. Sie hätte nun, da das Eis gebrochen war, liebend gern mit dieser Frau über Dick gesprochen. Aber ihr nunmehr geschärfter Blick las Müdigkeit im abgespannten Gesicht der Ärztin. Außerdem warteten noch andere Patientinnen, und draußen saß Kay. Und was, wenn die Ärztin ihr dann raten würde, sofort in den Vassar-Club zurückzukehren, ihre Sachen zu packen, mit dem Sechs-Uhr-Zug nach Hause zu fahren und Dick niemals wiederzusehen? Dann brauchte sie das Pessar gar nicht, und alles wäre umsonst gewesen.

»Ärztliche Aufklärung«, sagte die Ärztin freundlich und musterte Dottie mit einem nachdenklichen Blick, »kann der Patientin häufig zum vollen sexuellen Genuss verhelfen. Die jungen Frauen, die mich aufsuchen, haben das Recht, vom Geschlechtsakt die größtmögliche Befriedigung zu erwarten.« Dottie kratzte sich am Kinn. Die Haut oberhalb ihrer Brust verfärbte sich fleckig. Was sie vor allem fragen wollte, musste eine Ärztin, insbesondere eine verheiratete, vielleicht wissen. Sie hatte Kay natürlich nichts von dem gesagt, was sie noch immer beschäftigte: Was bedeutete es, wenn ein Mann mit einem ins Bett ging, aber einen kein einziges Mal küsste, nicht einmal im erregendsten Augenblick? In der Fachliteratur hatte Dottie nichts darüber gefunden, vielleicht war es so selbstverständlich, dass die Wissenschaftler es gar nicht eigens erwähnenswert fanden. Vielleicht gab es, wie Dottie schon zu Anfang vermutete, eine ganz natürliche Erklärung dafür, wie Mundgeruch oder Mundfäule. Oder es handelte sich um ein Gelübde, wie manche Leute geloben, sich nicht zu rasieren oder zu waschen, bis irgendetwas Bestimmtes in Erfüllung gegangen ist. Aber es wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen und wann immer sie daran dachte, errötete sie über beide Ohren, wie eben jetzt. Im Grunde ihrer Seele befürchtete sie, Dick sei, wie Papa sagen würde, ein Tunichtgut. Hier hätte sie nun die Gelegenheit, es in Erfahrung zu bringen. Aber in dem blitzenden Ordinationszimmer wusste sie nicht, wie sie die Frage formulieren sollte. Wie drückte man sich technisch aus? »Wenn der Mann sich der Oskulation enthält?« Ihr Grübchen zuckte verlegen, nicht einmal Kay würde so etwas sagen. »Ist es vielleicht nicht normal …«, begann sie und starrte dann hilflos auf die große Frau, die völlig ungerührt schien, »wenn vor dem Geschlechtsakt …« – »Ja?«, ermutigte sie die Ärztin. Dottie hüstelte in ihrer kehligen, zögernden Art. »Es ist furchtbar einfach«, entschuldigte sie sich, »aber anscheinend weiß ich nicht, wie ich es sagen soll.« Die Ärztin wartete. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen, Dorothy. Jede Technik«, begann sie gewichtig, »die beiden Partnern Vergnügen verschafft, ist durchaus statthaft und natürlich. Es gibt keine Praktik, weder oral noch manuell, die beim Liebesspiel nicht zulässig wäre, sofern sie beiden Partnern Vergnügen bereitet.« Dottie bekam eine Gänsehaut, sie wusste ziemlich genau, was die Ärztin meinte, und konnte nicht umhin, sich mit Entsetzen zu fragen, ob sie in ihrer Ehe auch praktizierte, was sie predigte. Ihr schauderte. »Danke, Frau Doktor«, sagte sie ruhig und brach das Thema ab.

Nachdem sie sich angezogen und frisch gepudert hatte, nahm sie im Vorzimmer mit behandschuhter Hand von der Schwester den festen Umschlag entgegen und zahlte mit neuen Scheinen aus ihrer Brieftasche. Sie wartete nicht auf Kay. Dem Haus gegenüber befand sich ein Drugstore, der Wärmflaschen in der Auslage hatte. Sie trat ein und erstand mit einiger Selbstüberwindung einen Irrigator. Dann setzte sie sich in die Telefonzelle und verlangte Dicks Nummer. Nach längerer Zeit meldete sich eine Stimme. Dick war ausgegangen. Mit dieser Möglichkeit hatte sie nie gerechnet. Sie hatte ohne Weiteres angenommen, er würde dasitzen und auf sie warten, bis sie ihre Mission ausgeführt hätte. »Ruf mich nur an.« Jetzt ging sie langsam durch die 8th Street zum Washington Square, wo sie sich auf einer Parkbank niederließ und die beiden Päckchen neben sich legte. Nachdem sie fast eine Stunde dort gesessen, den Kindern beim Spielen zugesehen und der Streiterei einiger junger Juden zugehört hatte, ging sie zurück in den Drugstore und rief nochmals bei Dick an. Er war noch immer aus. Sie kehrte zu ihrer Parkbank zurück, aber ihr Platz war inzwischen besetzt. Sie ging ein Stückchen weiter, bis sie einen anderen Platz fand. Diesmal hielt sie, wegen der Banknachbarn, ihre Päckchen auf dem Schoß. Die Schachtel mit dem Irrigator war unhandlich und rutschte ihr jedes Mal herunter, wenn sie die Beine übereinanderschlug und sie musste sich jedes Mal bücken und sie aufheben. Ihre Unterwäsche klebte von den Gleitsalben, die die Ärztin benützt hatte, und das eklige feuchte Gefühl ließ sie befürchten, dass sie ihre Regel bekommen hatte.

Nach und nach verließen die Kinder den Park. Sie hörte die Kirchenglocken zur Abendandacht läuten und sie wäre gern, wie häufig um diese Tageszeit, zum Beten hineingegangen (und um ungesehen die Rückseite ihres Kleides zu untersuchen). Das aber konnte sie nicht wegen der Pakete, die nicht in eine Kirche gehörten. Aber auch in den Vassar-Club konnte sie das Zeug nicht mitnehmen. Sie teilte das Zimmer mit Helena Davison, die vielleicht wissen wollte, was sie da gekauft hatte. Es wurde schon spät, sechs Uhr war längst vorüber, aber im Park war es noch hell, und sie glaubte, dass jeder sie jetzt beobachtete.

Das nächste Mal versuchte sie, Dick vom Telefon in der Halle des Brevoort Hotels zu erreichen, wo sie die Damentoilette aufsuchte. Sie hinterließ eine Nachricht: »Miss Renfrew wartet auf einer Bank am Washington Square.« Sie hatte Angst, in der Hotelhalle zu warten, wo sie Bekannte treffen könnte. Auf dem Wege zum Square bereute sie, die Nachricht hinterlassen zu haben, weil sie nun nicht mehr wagte, die Zimmerwirtin durch einen nochmaligen Anruf zu stören. Jetzt erschien es ihr seltsam, dass Dick sie in den zweieinhalb Tagen seit ihrer Trennung nicht ein einziges Mal im Vassar-Club angerufen hatte, um wenigstens guten Tag zu sagen. Sie dachte daran, dort nachzufragen, ob irgendjemand angerufen habe, fürchtete jedoch, Helena könne ans Telefon kommen. Und außerdem durfte sie ja den Square nicht verlassen, für den Fall, dass Dick kam.

Im Park wurde es dunkel und die Bänke füllten sich mit Liebespaaren. Nach neun Uhr beschloss sie endlich fortzugehen, denn einige Männer hatten sie bereits belästigt und ein Polizist hatte sie interessiert angestarrt. Sie erinnerte sich an Kays Bemerkungen im Autobus über das Corpus delicti einer Liebesbeziehung. Wie wahr! Es bedeutete gar nichts, sagte sie sich, dass Dick nicht zu Hause war. Dafür konnte es tausend Gründe geben. Vielleicht hatte er plötzlich verreisen müssen. Und doch wusste sie, dass es etwas bedeutete. Es war ein Zeichen. Im Dunkeln begann sie still vor sich hin zu weinen und sie beschloss, bis hundert zu zählen, ehe sie fortging. Sie hatte schon fünfmal bis hundert gezählt, bis sie einsah, dass es zwecklos war. Selbst wenn er ihre Nachricht erhalten hatte, würde er heute Abend nicht mehr kommen. Es blieb ihr anscheinend nur noch eines übrig: In der Hoffnung, dass niemand sie beobachtete, schob sie ihre Ausrüstung an Verhütungsmitteln verstohlen unter die Bank, auf der sie saß, und verließ, so rasch das ohne aufzufallen möglich war, den Park in Richtung Fifth Avenue. An der Ecke bestieg sie ein vorbeifahrendes Taxi und fuhr, leise schluchzend, zum Vassar-Club. In aller Morgenfrühe, noch ehe die Stadt sich regte, nahm sie den Zug nach Boston.

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