Читать книгу Der goldene Kürbis - Masal Dorothea - Страница 9
ОглавлениеKAPITEL 5
Das Ziel war dieses Mal zum Glück nicht wieder die große Eingangstür, sondern ein Raum auf der gegenüberliegenden Wandseite des Foyers. Als die Wachen sie über die Schwelle stießen, schlug ihr ein Schwall heißer Luft entgegen. Katie wusste nicht, woher diese Wärme kam, bis sie stolpernd vor einem großen Kaminfeuer zum Stehen kam. Für einen Moment waren ihre Augen wie hypnotisiert auf das faszinierende, fremde Lichtspiel der Flammen gerichtet, die im Kamin auf und ab züngelten und sich gespenstisch in den zwei hohen Fenstern des Raums widerspiegelten. Das Feuer tauchte alles in ein warmes, freundliches Licht. Welch trügerischer Eindruck. Aber immerhin war sie nicht in einem Verließ, sondern in einem Studierzimmer gelandet.
An den Wänden standen mehrere Bücherregale und davor ein großer Schreibtisch mit einem gemütlich aussehenden Ohrensessel. Der Junge nahm jedoch nicht darin Platz, sondern lehnte sich an die Tischkante und bedeutete Katie sich auf einen der weniger einladenden Stühle vor dem Schreibtisch zu setzen. Ein Anflug von Angst stieg in ihr auf. War das eine Falle? Ein mechanischer Stuhl, der sie fesseln würde?
Einer der Wachen stieß sie von hinten in die Rippen. Widerwillig nahm sie Platz. Die Wachen machten kehrt und bezogen grimmig Posten an der Tür. Erneut musterte Katie ihre Umgebung.
Fluchtmöglichkeiten: keine, außer den zwei großen Fenstern Erfolgswahrscheinlichkeit: sehr gering Risiko: definitiv einen Versuch wert »Hatte ich Euch nicht verboten, noch einmal hierher zu kommen?« Der blonde Junge hatte einen finsteren Blick aufgesetzt und starrte sie in Grund und Boden. Seine Arme waren vor der Brust verschränkt und seine Haare glänzten im Licht des Feuers wie ein Heiligenschein. Er musterte sie eingehend von oben bis unten und bearbeitete dabei seinen Kiefer. Katie rückte unwillkürlich ein Stück von ihm ab. »Ich dachte, ich bin an diesem feierlichen Tag einmal großzügig und werfe Euch nicht gleich in den Kerker. Doch wie es mir scheint, legt Ihr großen Wert darauf, Bekanntschaft mit den Ratten zu machen.« Sein Ausdruck hatte etwas Bedrohliches angenommen. Katie schluckte. »Bevor ich Euch aber diesen Wunsch erfülle, würde ich gerne noch wissen, warum Ihr hier seid.«
Das würde mich auch interessieren!
Auf dem Gesicht des Jungen breitete sich Überraschung aus. Sofort erkannte Katie ihren Fehler. Sie war sich nicht bewusst gewesen, ihre Worte laut ausgesprochen zu haben.
Ein kaltes Lachen durchschnitt die Stille und ließ sie schaudern. Der Junge schüttelte amüsiert den Kopf, doch in seinem Gesicht lag keine Freude.
»Ich denke nicht, dass Ihr in der Position seid, meine Fragen nicht zu beantworten.«
Katie war klar: Wenn Blicke töten könnten …
Im Gegensatz zu ihrer ersten Begegnung an diesem Abend strahlten die Augen des Jungen nicht mehr in einem kristallklaren Blau, sondern wirkten jetzt eiskalt wie ein tödlicher Schneesturm. Sein Blick brannte auf ihr.
»Ich höre!«
Ihr Mund wurde trocken. »Wenn ich dir antworten soll, dann musst du mir Fragen stellen, die ich auch beantworten kann.« Die Selbstsicherheit in ihrer Stimme überraschte sie. Eigentlich war ihr mehr als unwohl zumute und ihr Herz vollführte reinste Saltos in der Brust. Nur mit Mühe schaffte sie es, ihre zitternden Hände im Schoß unter Kontrolle zu halten.
Der Junge schien in keiner Weise beeindruckt. Mit einem leichten Ruck löste er sich vom Tisch und steuerte auf sie zu. Seine Schritte waren langsam und bedrohlich, die blauen Augen unentwegt auf Katie gerichtet und ein undurchschaubares Schmunzeln umspielte seine Lippen. Katie wollte ihren Blick von ihm abwenden und ihm möglichst wenig Angriffsfläche bieten, aber seine Präsenz zog ihren Blick unwillkürlich an. Die verschränkten Arme vor der Brust ließen seine Muskeln unter dem eng anliegenden Jackett hervortreten und zeigten sein durchtrainiertes Profil. Einen Schritt von ihrem Stuhl entfernt blieb er stehen.
»Ihr wollt also Spielchen spielen. Von mir aus gerne, aber im Moment habe ich keine Zeit. Also gebe ich Euch noch eine letzte Chance, mir zu antworten: Wer seid Ihr? Wie kommt Ihr hier herein und wer hat Euch geschickt?«
Obwohl ihr Mund mittlerweile mehr als ausgetrocknet war, musste Katie schlucken. Ihre Gedanken drehten sich wie wild im Kreis. Seine plötzliche Nähe machte sie nervös. Wenn er noch einen Schritt vortrat, würde er an ihr Bein stoßen.
Sollte sie ihm jetzt etwa ihre Lebensgeschichte erzählen? Was wollte er denn hören?
»Mein Name ist Katie Williams. Und zuerst würde ich gerne wissen, wer du bist?«
Der Junge grinste. Ein Pokerface-Grinsen. Langsam beugte er seinen Oberkörper zu ihr herunter und griff mit der linken Hand an ihre Stuhllehne. Katies Atem stockte. Sie war gezwungen ihren Blick zu senken. Als er weitersprach, waren seine Worte direkt neben ihrem rechten Ohr. Sein warmer Atem streifte ihren Hals und jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie rang nach Luft.
Der Junge hatte es ebenfalls bemerkt. Er stieß ein leises Lachen aus und sorgte damit für weitere Gänsehaut bei ihr. Katies Hände verkrampften sich und ihr Magen fing an zu kribbeln. Er war ihr nun so nah, dass kaum noch eine Hand zwischen ihre Köpfe passte. Die ideale Chance, ihn zu überwältigen, doch ihr Gehirn setzte aus und ihr Körper verweigerte jeglichen Dienst.
»Ich denke, Ihr wisst sehr genau, wer ich bin und falls nicht, dann werde ich es Euch auch nicht sagen.«
Fassungslos schielte Katie zu ihm hinüber. Meinte er das ernst? Bevor sie jedoch ihre Gedanken auch nur im Geringsten wieder sortieren und etwas erwidern konnte, erklangen von draußen schnelle Schritte. Im nächsten Moment wurde die Tür zum Studierzimmer aufgerissen.
»Nicolas, Euer Vater fragt nach Euch. Er …« Ein dunkelhaariges Mädchen in einem goldgrünen Kleid stürmte ins Zimmer und hielt abrupt inne, als sie die scheinbar innige Situation entdeckte. Der blonde Junge blickte überrascht zur Tür hinüber, verharrte aber wie versteinert in seiner gebeugten Position.
Katie würdigte das Mädchen keines weiteren Blickes, sondern lehnte sich noch ein Stück weiter vor, bis sie das zerzauste blonde Haar des Jungen auf ihrer eigenen Wange spürte. Geradezu zärtlich flüsterte sie ihre Worte in sein Ohr. »Es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen, NICOLAS. Ich sehe, unser Gespräch macht Fortschritte.«
Sofort richtete er sich wieder auf, wich mehrere Schritte nach hinten zurück, um eine gesunde Distanz zwischen sie beide zu bringen. Seine Augen funkelten Katie böse an. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, gab er den Wachen ein Zeichen und Schritte ertönten. Kurz darauf schloss sich die Tür und sie blieben allein zurück. Katie grinste. Nicolas wandte sich von ihr ab und ging ein paar Schritte auf den Kamin zu.
»Touché, nun wisst Ihr also meinen Namen und ich den Euren.« Katie glaubte ein Schmunzeln in seiner Stimme zu hören, doch als er sich umdrehte, war sein Gesicht ohne jeglichen Ausdruck. »Wie ich bereits erwähnt habe, bin ich heute sehr beschäftigt. So anregend diese Unterhaltung auch sein mag, ich muss Euch nun in den Kerker bringen lassen.«
»Was?!« Entsetzt sprang Katie vom Stuhl auf. Gerade glaubte sie noch, in diesem Gespräch zu dominieren und schon war sie zurück in der Opferrolle. Nicolas schaute sie mit einem fast mitleidigen Blick an, was Katie noch rasender machte. Er wandte sich Richtung Tür und öffnete den Mund, bereit den Wachen einen Befehl zu erteilen.
»Wowowoh. Du kannst mich doch nicht einfach so in den Kerker werfen!« Demonstrativ trat sie einen Schritt zwischen ihn und die Tür. »Ich meine, hallo?! Ich habe ja wohl das Recht auf einen Anwalt, auf eine Anhörung und heißt es nicht immer: Innocent until proven guilty?«
Desinteressiert warf er einen flüchtigen Blick auf sie. »Ich verstehe nicht«, war seine einzige Aussage. Erneut setzte er zu einem Befehl an.
»Eben. Ich verstehe es auch nicht. Ich weiß ja noch nicht einmal, wo ich hier bin. Vermutlich immer noch in der Gruselvilla, aber die sah vor ein paar Minuten noch völlig anders aus. Und jetzt willst du mich auch noch in den Kerker werfen?!« Katie riss die Arme nach oben und wedelte hektisch mit der Hand durch die Luft, so als könnte sie diesen Albtraum dadurch einfach vertreiben. Mehr zu sich selbst fuhr sie fort. »Vielleicht wurde ich überfallen und verschleppt oder man hat mich unter Drogen gesetzt. Ja, das habe ich jetzt davon. Hätte ich mich bloß nicht auf diese blöde Wette eingelassen.«
Nicolas schaute nun ganz zu ihr hinüber. Er wirkte irritiert, beobachtete aber zugleich aufmerksam jede ihrer Bewegungen. »Von welcher Wette sprecht Ihr?«
Katie atmete tief durch. Im Prinzip war es egal, was sie ihm erzählte. Er wollte sie in den Kerker werfen, ob sie nun log oder nicht. Anscheinend hatte er noch wichtigere Dinge zu erledigen. Wenn sie also gefangen genommen werden sollte, dann konnte sie ihm auch alles erzählen, was sie wusste. Vielleicht gab es ja irgendeinen Zusammenhang, den sie bisher übersehen hatte und der ihr verständlich machte, was hier eigentlich vor sich ging. Denn real war das hier nicht.
»Hör zu, alles begann mit der Versetzung meines Dads vor einem Monat. Seine Firma bot ihm hier in der Kleinstadt einen neuen Arbeitsplatz an und dann hieß es sofort Koffer packen. Ich war natürlich dagegen, aber wen interessiert das schon. In der neuen Schule behandelte man mich anfangs wie eine totale Außenseiterin. Ich sei eine ›Großstadttussi‹!« Katie spuckte das Wort förmlich aus und spürte eine plötzliche Wut in sich aufsteigen. War das die Angst oder der aufgestaute Ärger wegen des Umzugs? Sie wusste es nicht. »Mittlerweile habe ich zwar neue Freunde gefunden, aber die blöde Mutprobe mit Gina blieb bestehen. Und genau diese findet heute statt. Ich kann mich nicht davor drücken, sonst wird Gina mir künftig das Leben an der Schule zur Hölle machen. Obwohl ich mir mittlerweile nicht mehr so sicher bin, ob sie das nicht sowieso tun wird.«
Sie blickte zu Nicolas hinüber. Dieser verharrte einen Moment zögernd, fasste sich mit der Hand an den Nasenrücken, seufzte und ging zum Schreibtisch hinüber, wo er sich wieder in seine lässig-am-Tisch-anlehn-Position begab. Katie betrachtete ihn verstohlen. Sein Gesicht wirkte angespannt und ließ ihn um Jahre älter aussehen. Leicht dunkle Ringe zeichneten sich unter seinen Augen ab, die auf Schlaflosigkeit und Erschöpfung hindeuteten.
Als er aufsah, beeilte sie sich, aus dem Fenster zu schauen. Er wies auf den Gästestuhl und sie setzte sich. In ruhigem Ton begann er zu sprechen. »Lassen wir den Umzug einmal weg. Was ist mit dieser Wette? Seid Ihr durch sie hier hergekommen oder gibt es doch einen anderen Grund für Eure Anwesenheit?«
»War ja klar, dass du mir nicht glaubst. Ich hätte dir sonst was erzählen können und du denkst immer noch, ich sei eine Spionin der dunklen Seite.«
»Seid Ihr es denn?«
»NEIN!«
Er machte eine besänftigende Handbewegung und bedeutete ihr mit einem auffordernden Blick, seine vorherige Frage zu beantworten.
Katie schnaubte geräuschvoll aus. »Wie bereits gesagt: Ich bin vor zwei Wochen auf eine neue Schule gekommen. Dort gibt es die üblichen Cliquen, Grüppchen und Hierarchien; wie überall. Natürlich auch eine klassische Anführerin, die die Schule dominiert und aufgrund des Wohlstandes ihrer Eltern glaubt, einer besseren Schicht anzugehören. Diese Person ist Gina.«
»Ihr meint, sie ist eine Art Stellvertreterin oder Repräsentantin der Schülerschaft?«
»Nicht wirklich. Sie ist ein wasserstoffblondes, verwöhntes Püppchen, wenn du mich fragst. Als ich vor zwei Wochen meinen ersten Schultag hatte, war sie allerdings die Erste, die mich super freundlich aufgenommen hat. Sie zeigte mir alles, stellte mich den Mitschülern vor und ich war sofort ein Mitglied ihres Freundeskreises. Wir haben zusammen was unternommen und so. Irgendwie kamen wir dann mal auf das Thema ›Angst‹ zu sprechen. Nachdem mir die anderen ihre – wahrscheinlich erfundenen – Ängste erzählt hatten, wollten sie meine wissen. Aber ich habe vor nichts Speziellem Angst. Natürlich glaubt dir das niemand.« Katie zuckte genervt mit den Schultern. »Zum Schluss haben Gina und ihre Clique mir unterstellt, ich sei in Wirklichkeit ein totaler Feigling. Ich habe widersprochen und sie wollten Beweise. Ich weiß überhaupt nicht mehr, warum ich dieser Mutprobe zugestimmt habe. Sie haben mich provoziert und das wollte ich eben nicht auf mir sitzen lassen. Also habe ich eingewilligt, in der Halloween-Nacht in die Gruselvilla einzusteigen. Ich meine in diese Villa hier – denke ich … Deshalb auch mein bewaffnetes Outfit. Das ist nur ein Halloweenkostüm mit unechten Waffen. Eine Verkleidung. Wie die Leute sie hier auch auf dem Maskenball tragen.« Es war ein komisches Gefühl, die ganzen Ereignisse des letzten Monats zu erzählen. Und das auch noch einem völlig fremden Jungen. Es hieß immer, dass man sich besser fühlt, wenn man sich erst einmal all seinen Frust und die Sorgen von der Seele geredet hatte. Auf Katie traf das jedenfalls nicht zu. Ein komisches Gefühl von ungewohnter Verletzlichkeit breitete sich in ihr aus und nagte an ihren Nerven.
Es folgte ein langes Schweigen im Raum, was ihr ein noch unbehaglicheres Gefühl gab. Sie wusste nicht, wo sie hinschauen sollte: Fenster, Kamin oder Nicolas? Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und rutschte ungeduldig auf dem Stuhl herum. »Naja, das war meine Geschichte. Das Letzte, an das ich mich erinnern kann, ist, dass ich hier eingestiegen bin und jetzt nicht mehr rauskomme.«
»Ihr meint, weil ich Euch gefangen halte.« Auf seinem Gesicht breitete sich ein süffisantes Schmunzeln aus.
»Neeeeiiiin.« Am liebsten hätte sie ihm die Zunge rausgestreckt. Um ihre Situation nicht noch weiter zu verschlechtern, beließ sie es bei einem vernichtenden Blick. »Du wirst es mir wahrscheinlich sowieso nicht glauben. Aber bitte, ich zeige es dir.«
Sie stand auf und ging zum Fenster hinüber. Nicolas verfolgte misstrauisch jeden ihrer Schritte. Als sie nach dem Fenstergriff fasste, sprang er ruckartig vom Tisch auf.
»Ruhig Brauner! Du brauchst gar nicht so nervös zu schauen. Ich komme hier sowieso nicht raus.« Sie griff durch das geöffnete Fenster in die Dunkelheit. Weit kam sie mit der ausgestreckten Hand allerdings nicht, da blieb sie bereits an der unsichtbaren Barriere hängen. Nicolas sah sie skeptisch an und setzte wieder sein überhebliches Grinsen auf.
»Verzeiht, wenn ich das sage, aber das beweist gar nichts. Auch ich könnte so tun, als ob meine Hand nicht weiter aus dem Fenster reicht.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte spöttisch den Kopf. Katie fühlte sich endgültig beleidigt. Glaubte er etwa, sie machte sich hier einen Spaß? Sein Ego ging ihr langsam gewaltig auf die Nerven.
Entschlossen ging sie in die Hocke, holte Schwung und sprang mit voller Kraft aufs Fensterbrett. Sofort fuhr ein Ruck durch Nicolas Körper und er versuchte sie an ihrem Kleid festzuhalten. Zu langsam.
Mit einem Hechtsprung warf sich Katie in die kühle Abendluft hinaus. Für einen Moment glaubte sie an eine gelungene Flucht und spürte den Sog der Erdanziehung. Doch dann kam ein weiteres Gefühl hinzu: der Widerstand der unsichtbaren Barriere.
Katie wurde ruckartig abgebremst, kam zum Stillstand und wurde dann mit voller Wucht zurück ins Zimmer katapultiert. Verzweifelt ruderte sie mit den Armen, um sich irgendwo festhalten zu können. Aber ihre Finger bekamen nichts zu fassen. Sie stürzte zurück ins Zimmer und kam schmerzlich mit dem Rücken auf dem Boden auf. Nur ihr Kopf landete auf etwas Weichem, das dafür sorgte, dass sie sich nicht ernsthaft verletzte. Das stoppte allerdings nicht den Lungenschock, der Katie für einen Moment sämtliche Luft nahm. Sterne tanzten vor ihren Augen und hinterließen grelle Lichtspuren. Der Raum drehte sich.
Als sie wieder ein halbwegs klares Sichtfeld bekam, entdeckte sie Nicolas halb unter sich liegend. Ein Stöhnen erklang und sein Körper zuckte. Langsam wühlte er sich unter ihrem Kopf hervor, stand auf und streckte ihr hilfsbereit eine Hand entgegen.
»Alles in Ordnung bei Euch, Katie?« Hatte sie gerade richtig gehört? Er hatte sie Katie genannt. Trotz ihres schmerzenden Rückens musste sie grinsen.
»Ja danke, alles bestens. Bis auf die Tatsache, dass ich hier gefangen bin und dank dir jetzt einen angeknacksten Rücken habe.« Als ob sie ihren Worten Nachdruck verleihen wollte, knackte ihr Rücken beim Aufstehen laut. Nicolas lachte und fasste sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an seinen eigenen Hinterkopf. Katie stellte fest, dass sein Lachen dieses Mal echt und … unbeschwert klang. Er setzte zum Sprechen an, schwieg dann aber. Katie schaute zu ihm hinüber. Für einen Moment hatte sie ihre Angst völlig vergessen und verspürte ein ausgelassenes Gefühl, das sie seit einem Monat vermisst hatte. Nicolas schaute ebenfalls überrascht, räusperte sich dann aber, als er merkte, dass einer der Wachen in der Tür stand und mit besorgtem Blick auf einen Befehl wartete. Er winkte den Wachmann beschwichtigend hinaus und half Katie zurück in den Gästestuhl.
Nicolas nahm dieses Mal auf dem großen Stuhl hinter dem Schreibtisch Platz. Nachdenklich fuhr er mit seinen Händen durch das zerzauste Haar und verstrubbelte es vollkommen. Katie musste neidisch feststellen, dass es dennoch gut aussah. Ihr eigenes dagegen musste mittlerweile einem Vogelnest ähneln, denn spätestens nach ihrem letzten Sturz hatte sich der Knoten ihres Zopfes deutlich gelockert und einige Strähnen freigegeben.
»Wie ich bereits mehrmals sagte, habe ich leider nicht viel Zeit. Aber wahrscheinlich hängt Euer Schicksal genauso von diesem Abend ab wie das meine.«
Katie rollte mit den Augen. Schon wieder diese geschwollene Ausdrucksweise. Unterbewusst hatte sie sich schon die ganze Zeit gewundert, warum Nicolas sie ständig mit »Euch« ansprach. Das klang fast so wie in den historischen Romanen, die man im Literaturunterricht las. »Sorry, aber das klingt ein bisschen melodramatisch. Wieso hängt unser Schicksal von diesem Abend ab? Also meins schon, aber mir droht man ja auch mit dem Kerker.«
Nicolas ging nicht auf die Anspielung ein. Sein Gesicht hatte wieder einen ernsten Ausdruck angenommen. »Passt auf. Wir schreiben das Jahr 1670.«
»1670? Du meinst wohl eher 2020.«
»Nein, Ihr habt mich richtig verstanden.«
»Bin ich etwa in der Vergangenheit?«
Schockiert richtete sich Katie im Stuhl auf. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihre Wirbelsäule. Hoffentlich hatte sie sich bei dem Sturz nicht das Steißbein gebrochen oder etwas anderes Schlimmes zugezogen. Wie war überhaupt die medizinische Versorgung im 17. Jahrhundert? Quatsch, jetzt fing sie auch schon damit an. Sie befand sich im 21. Jahrhundert!
»Scheinbar stammt Ihr aus einer anderen Zeit. Das erklärt auch Eure mir ungewohnte Ausdrucksweise. Und die Tatsache, dass Ihr mich nicht meines Standes gemäß mit ›Prinz‹ ansprecht.«
»Du bist ein Prinz?!«, Katie wäre fast vom Stuhl gefallen, hätte sie sich nicht vor Überraschung an der Lehne festgekrallt. Nicolas lachte herzhaft.
»Eigentlich der Sohn des Großherzog von Agravain. Damit bin ich Erbgroßherzog. Aber man spricht mich mit ›Prinz‹ an.«
Sie konnte nicht anders, als Nicolas mit offenem Mund anzustarren.
»Bitte Katie, holt wieder Luft. Ich habe schon seit längerem den Verdacht, dass wir hier in einer Zeitschleife feststecken, während außerhalb der Villa die Zeit weiterläuft. Das hat wahrscheinlich etwas mit dem Verschwinden des goldenen Kürbis zu tun.«
»Moment, was?« Ein völlig verständnisloser Blick ihrerseits reichte diesmal aus, um ihn zum Weitersprechen zu bewegen.
»Na schön. Am besten erzähle ich Euch jetzt meine Geschichte. Wir schreiben das Jahr 1670. Das große Halloween-Jahr, wie alle fünfzig Jahre. Immer dann stehen die Sterne und Planeten am Himmel in einer seltenen Konstellation zueinander. Da Ihr etwas von einem Halloween-Ball an Eurer Schule erzählt habt, könnte das zeitlich passen. Ich gehe davon aus, dass Ihr die Geschichte um Jack O‘Latern kennt?«
Sie wischte sich eine Strähne aus den Augen und rückte sich wieder auf dem Stuhl zurecht. »Na klar. Es wird behauptet, dass ein Mann namens Jack zu seinen Lebzeiten den Teufel überlistet hätte. Jack hat einen Handel mit dem Teufel geschlossen, sodass er nie wieder Angst vor ihm haben musste. Als er dann starb, ist er deswegen weder im Himmel noch in der Hölle aufgenommen worden. Der Teufel schenkte ihm ein Stück glühende Kohle, das Jack dann in einer ausgehöhlten Rübe mit sich trug, um den Weg zwischen den Welten zu beleuchten.«
»Genau. Und es wird auch gesagt, dass nur in dieser Nacht die Toten die Möglichkeit haben, von einem Lebenden Besitz zu ergreifen – ihre einzige Chance auf ein Leben nach dem Tod. Deswegen verkleiden sich an Halloween die Menschen, um von den Toten nicht erkannt zu werden.«
»Ja, aber das glaubt doch keiner.«
»Ihr vielleicht nicht. Doch die Tatsache, dass Ihr unsere Villa nicht verlassen könnt, sollte Euch vielleicht stutzig machen.« Er warf ihr einen belehrenden Blick zu. »Es ist Tradition, dass alle fünfzig Jahre der goldene Kürbis, eine Art vergoldete Laterne, mit einer Kerze erleuchtet wird, um an Jack O‘Latern zu erinnern. Anstelle von Kostümfesten, wie es das einfache Volk tut, veranstalten wir einen Maskenball. Jedes halbe Jahrhundert wird dazu eine andere Adelsfamilie vom Rat der Zwölf auserwählt, der die große Ehre zuteilwird, diesen Ball auszutragen und den Kürbis gemäß der Tradition zu erleuchten. Im Jahre 1670 wurde meine Familie ernannt. Die Legende besagt: Wenn der goldene Kürbis in der Halloweennacht nicht aufleuchtet, werden uns die Toten finden und ein Unheil geschieht. Diese Verantwortung lag also dieses Mal in unseren Händen. Als wir den goldenen Kürbis um Mitternacht vor unseren Gästen präsentieren wollten, war er jedoch verschwunden. Unsere Wachen, mein Vater und ich haben nach ihm gesucht, ihn aber nirgendwo gefunden. Der Dieb musste ihn versteckt haben. Was dann passierte, kann ich nur vermuten. Ich schätze, dass der Fluch am nächsten Morgen seinen Lauf genommen hat und wir seitdem in einer Zeitschleife feststecken. Eure Anwesenheit ist der Beweis dafür, dass meine Theorie stimmt. Ich denke, dass wir seit jener Nacht alle fünfzig Jahre erneut diesen Abend durchleben müssen. Vermutlich solange, bis es uns gelingt, den Dieb zu finden und den goldenen Kürbis zu erleuchten.«
»Okay, zum Verständnis: Ihr durchlebt diese Nacht alle fünfzig Jahre?«
»Korrekt.«
»Das heißt, wenn wir jetzt 2020 haben und du angeblich aus dem Jahr 1670 stammst, dann hast du schon … warte … SECHS Mal versucht, den Dieb zu finden?«
»Ja«, sagte Nicolas, »und jedes Mal versagt.« Er senkte seinen Blick und starrte ausdruckslos auf seine Hände.
Eine bedrückende Stille breitete sich im Raum aus. Das Knacken des Kaminfeuers schien auf einmal unnatürlich laut.
»Soll das bedeuten, du bist schon über 350 Jahre alt?! Aber, du siehst noch so jung aus … so durchtrainiert und … gutaussehend … na, du weißt schon …« Katie biss sich auf die Zunge. Was redete sie da für einen Unsinn!
Nicolas grinste sie verschmitzt an und genoss sichtlich ihr plötzliches Unbehagen wegen seines scheinbar attraktiven Äußeren. Katie zwang sich, ihn direkt anzuschauen, die Situation irgendwie zu überspielen und dabei nicht völlig peinlich berührt rot anzulaufen. »Ah, ich verstehe. Das war ein Scherz, richtig? Sehr witzig. Hahaha, ich lache jetzt noch.«
»Definitiv nicht. Aber danke für dieses reizende Kompliment.« Seine Augen funkelten sie intensiv an und er machte eine kleine Kunstpause, um sie noch einen Moment länger zappeln zu lassen.
»Doch ich muss Euch enttäuschen. Ich bin nach wie vor siebzehn Jahre alt.«
»Das verstehe ich nicht.« Katie war nun mehr als verwirrt.
»Passt auf. Alle fünfzig Jahre stehen die Planeten am Himmel in einer bestimmten Konstellation zueinander. Genau dann erzeugen sie eine Art unsichtbares, magisches Kraftfeld. Deshalb wird traditionsgemäß in dieser Nacht der goldene Kürbis erleuchtet. Wird dies nicht getan, tritt der Fluch in Kraft. Und genau das ist im Jahr 1670 passiert. Der Fluch sorgt dafür, dass die Villa und alle Gäste darin zeitlich eingefroren wurden. Stellt Euch vor, wir seien Salzsäulen, die alle fünfzig Jahre für einen einzigen Abend erwachen, um erneut die Chance zu erhalten, den goldenen Kürbis zu erleuchten. Schaffen wir es nicht, wandern die Planeten weiter, das Kraftfeld schwindet und wir werden erneut für ein halbes Jahrhundert versteinert.«
»Heißt das etwa, dass ich jetzt mit euch hier in dieser Zeitschleife gefangen bin? Was passiert, wenn der Dieb in dieser Nacht nicht gefasst wird? Muss ich dann auch alle fünfzig Jahre wiederkommen und diesen Abend erneut durchleben? Moment mal. Kann ich in der Zwischenzeit überhaupt nach Hause?«
Katie schnappte entsetzt nach Luft. Ihr wurde schwindelig. Eilig sprang sie vom Stuhl auf und lief ein paar Schritte, um das Blut in ihrem Körper besser zirkulieren zu lassen. Das durfte nicht wahr sein. Ihr Kopf begann zu schmerzen und sie presste die Hände gegen ihre Schläfen. Bestimmt war das Ganze ein Witz von Gina. Eine Falle mit versteckter Kamera. Wie hatte sie das bloß mit der unsichtbaren Barriere hinbekommen?
»Leider ist das kein Witz.«
Katie lachte bitter auf. Wieso sollte sie Nicolas glauben? Andererseits klang die Vorstellung, dass Gina hier eine versteckte Kamerashow abzog, noch bescheuerter. Warum sollte sie so einen Aufwand betreiben, während gleichzeitig in der Schule die Party des Jahres stieg? Irgendetwas passte nicht.
»Also gut. Solange ich nicht weiß, was mit meinem Verstand passiert ist, spiele ich einfach mal mit. Gehen wir also einen Moment lang davon aus, dass ich nicht völlig verrückt geworden bin oder mir in der alten Villa meinen Kopf gestoßen habe und als Folge einer Gehirnerschütterung an Wahnvorstellungen leide. Dann sollten wir versuchen, den Dieb zu finden, und zwar, bevor es zu spät ist. Hast du denn irgendeine Vermutung, wer der Täter sein könnte? Was hast du denn überhaupt die letzten Male angestellt, um ihn NICHT zu fassen?« Sie erntete einen strafenden Blick von Nicolas. Den leichten Spott im Tonfall konnte sich Katie einfach nicht verkneifen. Die Vorstellung, 350 Jahre lang einem Dieb hinterher zu rennen und ihn nicht zu fangen, war nicht gerade eine Glanzleistung.
»Wie ich bereits sagte, kann ich mich nicht daran erinnern. Ich weiß lediglich, dass der goldene Kürbis in dieser Nacht gestohlen wird.«
»Na gut, und was hast du heute Nacht schon unternommen, damit wir ihn dieses Mal schnappen?«
»Wir?«, skeptisch wanderte seine linke Augenbraue nach oben.
»Wir?«, äffte Katie ihn nach. »Jetzt fang bitte nicht mit der ›das ist nichts für Frauen – ihr-seid-doch-viel-zu-schwach-und-hilflos‹Masche an. Falls du es nicht mitbekommen hast, ich komme aus dem weniger frauenfeindlichen 21. Jahrhundert und es geht hier auch um MEIN Leben und MEINE Zukunft. Oder hast du vorhin nicht selbst gesagt, dass unser BEIDER Schicksal davon abhängt. Ich werde dir natürlich helfen, den Dieb zu enttarnen. Also, womit fangen wir an?«
Nicolas musterte sie ausdrucklos. Dieses Mal jedoch hielt sie seinem Blick stand. Er schien mit sich zu ringen, denn erst nach einer gefühlten Ewigkeit nickte er zögerlich. Katie vermutete, dass er sich unsicher war, wie er sie einschätzen sollte. Schließlich war sie eine völlig Fremde, die ohne Einladung auf den Ball geplatzt war. Das machte sie nicht gerade weniger verdächtig.
Vertraute er ihr? Sofort stellte sie sich die Gegenfrage: Vertraute sie ihm denn?
»Schön. Ich vermute, der Dieb ist jemand aus meiner Familie oder unserem engsten Bekanntenkreis. Alle anderen Gäste haben keine Möglichkeit, an den goldenen Kürbis heranzukommen. Der Raum ist mit Wachen gesichert und nur durch eine einzige Tür erreichbar.«
»Bist du dir sicher, dass es keine Möglichkeit gibt, dort auf einem anderen Weg einzusteigen?«
Entschieden schüttelte er den Kopf. »Definitiv.«
»Und warum bleibst du nicht einfach im Raum und bewachst den Kürbis bis Mitternacht? Dann könntest du doch den Dieb beim Eintreffen auf frischer Tat ertappen und dingfest machen.«
Nicolas grummelte unwirsch. »Das habe ich bereits versucht. Da bin ich mir sicher. Aber offensichtlich hat es nicht geklappt. Wir müssen es auf einem anderen Weg probieren. Zumal im Raum bereits die besten Wachen aufgestellt sind. Es hat keinen Sinn, wenn wir uns dazustellen. Statt auf den Dieb zu warten, sollten wir lieber aktiv nach dem Täter suchen und ihn am besten noch vor dem Diebstahl ausfindig machen.«
Katie blickte ihn nachdenklich an. »Wie wäre es, wenn wir den Kürbis an einem anderen Ort verstecken.«
»Das würde mein Vater niemals zulassen. Außer mir glaubt niemand, dass wir uns in einer Zeitschleife befinden. Auch mein Vater nicht. Deshalb weigert er sich den Kürbis an einen anderen Ort zu bringen. Und die Wachen würden niemals zulassen, dass ich den Kürbis ohne seine Erlaubnis aus dem Raum entferne.«
»Warum kann sich außer dir eigentlich niemand an die vorherigen Halloweennächte erinnern?«
»Ich weiß es nicht. Auch meine Erinnerungen sind nur vage. Vielleicht …«
Seine Worte wurden durch das plötzliche Öffnen der Zimmertür unterbrochen. Ein Wachmann kam herein. Schwer atmend erfasste er mit seinem Blick den Raum in Sekunden und wandte sich an Nicolas. Er salutierte flüchtig und sprach mit rauer Stimme: »Prinz Nicolas, im Dienstbotengang gab es ein Handgemenge. Offenbar versucht ein Eindringling sich Zugang zu den oberen Räumen zu verschaffen.«
Sofort war Nicolas hinter dem Schreibtisch aufgesprungen. Seine Kiefermuskeln spannten sich an und sein Blick verfinsterte sich. »Wo?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, rannte er hinter dem Wachmann her. Bevor er endgültig durch die Tür verschwand, blickte er noch einmal zu Katie zurück. Seine Augen hatten ein tiefes, undurchdringliches Blau angenommen und seine Stimme eine Härte, die keinen Widerstand duldete. »Bleibt wo Ihr seid. Ich werde in Kürze zurück sein und erwarte, Euch hier vorzufinden.«
Katie zuckte erschrocken zurück. Die Bedrohlichkeit in seiner Stimme kam so überraschend, dass sie das Gefühl hatte, einen Schlag ins Gesicht zu bekommen. Für einen kurzen Moment war sie wie gelähmt und starrte auf die nun leere Türschwelle.
Ganz klar: Nicolas traute ihr keinesfalls und wollte sie auch definitiv nicht dabei haben.