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1.2 Juan Domingo Perón und die Kirche
ОглавлениеIn den 1960er-Jahren, den Jahren seines Philosophie- und Theologiestudiums, entwickelte der junge Bergoglio ein ganz eigenes Denksystem, das sich langsam setzte und allmählich eine intellektuelle Struktur und Ausrichtung annahm. Neben den bereits genannten Autoren beeinflussten – vor allem im Bereich der Ekklesiologie – zwei weitere Lehrmeister das Denken des späteren Papstes: der Jesuit Henri de Lubac, dessen Erkenntnisse sich primär in Bergoglios ekklesialen Überlegungen niederschlugen, und der Dominikaner Yves Congar, in erster Linie sein Werk Vraie et fausse réforme dans l’église (1950).47 Darin bemerkte Congar, dass
die wahre Reform stets in der Seelsorge der einfachen Gläubigen verwurzelt sei; dass sie, mit anderen Worten, eher von der Peripherie als vom Zentrum geformt und darauf ausgerichtet sei. Deshalb lege sie großen Wert auf die Tradition – auf konstant bestehende katholische Elemente wie die eucharistische Anbetung, das Lehramt, die Verehrung der Heiligen usw. –, die von den einfachen Gläubigen mehr geschätzt würden als von den aufgeklärten Eliten. Die ›wahre‹ Reform versuche, die Kirche sich selbst treuer zu machen, und misstraue allen Versuchen, sie mit zeitgenössischen säkularen Bewegungen in Einklang zu bringen […]. Wahre Reformen richteten sich gegen den geistlichen Säkularismus, der die Kirche daran hindere, wie Christus zu sein und wie er zu handeln. Und genau dies war, so glaubte Bergoglio, in der Geschichte der ersten Jesuiten geschehen: eine Reform, die die Kirche wiederbelebt hatte, indem sie den Geist der Armut, der Heiligkeit, der Mission, des Gehorsams gegenüber dem Papst und der Einheit erneuerte.48
Aufgrund dieses Bewusstseins misstraute Bergoglio den Reformideen, die während der 1970er-Jahre innerhalb der Kirche Argentiniens aufkamen und darauf reagierten, dass Priester und Bischöfe mit politischer Macht liebäugelten und sich mit der Militärjunta verbündeten. Die Initiatoren dieser Reformen warben für einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit und den Beginn einer »neuen« Kirche, an deren Spitze »aufgeklärte« Eliten stehen sollten, die den Glauben und die Religiosität des Volkes ablehnten. Bergoglio aber war für eine »andere« Reform, für eine Rückkehr zu den Ursprüngen. Damit unterschied er sich nur von den Modernisierern, sondern auch von der Amtskirche, die durch die Beziehung zur neuen Militärregierung großen Schaden genommen hatte, nachdem Perón 1955 ins Exil gegangen war. »Die Bischöfe, die sich mit dem antiperonistischen Militärapparat verbündeten, um den Mythos der katholischen Nation zu verteidigen, waren von den Armen weit entfernt. Und so war die Kirche in ihrer Struktur körperlos geworden; sie fand in der modernen Welt nicht statt und befasste sich nur mit sich selbst.«49 Argentinien war in den Jahren 1955 bis 1976 durch einen hohen Grad an politischer Instabilität gezeichnet. Die so genannte Revolución Libertadora nutzte den wachsenden Dissens zwischen der Kirche und Präsident Perón, um das Land in die Zeit vor den peronistischen Reformen zurückzukatapultieren. Der nach seinem Wahlsieg 1946 an die Macht gekommene Perón war kein Ideologe, sondern im Wesentlichen Politiker. Sein Verdienst lag darin, die Mauer, die der argentinische Liberalismus gegen die Kirche errichtet hatte, niederzureißen – zumindest zu Beginn seiner Amtszeit.
Perón verband den Kurs seiner Regierung ausdrücklich mit der Soziallehre der Kirche – er sprach von der Notwendigkeit, den Kapitalismus menschlicher zu gestalten und der Arbeit Würde zu verleihen. Er warb führende Personen der Katholischen Aktion an und lud sie ein, Vorschläge zu Themen vorzubringen, für die sie lange gekämpft hatten, wie z.B. Familienzulagen oder die Regulierung der Kinderarbeit, die dann bald gesetzlich festgelegt wurden. […] Aber die Beziehung zerbrach binnen kurzer Zeit, weil die Kirche sich nicht kaufen lassen wollte. In den Verhandlungen um eine neue Verfassung entsprach Perón nicht der Bitte des Heiligen Stuhls, das patronato aufzuheben, also das Recht des Staates, die Kirche auf verschiedenen Ebenen zu kontrollieren – ein Relikt aus der Kolonialzeit, das man in der Verfassung von 1853 beibehalten hatte. Besonders kritisch betrachtete der Vatikan, dem die Zeit des Faschismus in Europa noch in den Knochen saß, all jene vermeintlich katholischen Staaten, die versuchten, die Kirche als Instrument sozialer Kontrolle auszunutzen. Und die Gefahr, dass nach dem Ende der peronistischen Regierung eine andere, wesentlich feindlichere Regierung diese Kraft würde nutzen können, um die Mission der Kirche zu behindern, war dem Vatikan wohlbewusst. Perón seinerseits hatte nicht die Absicht, auf die ihm verfassungsmäßig zugesprochene Macht, politisch loyale Bischöfe zu ernennen, zu verzichten; dies war die logische Folge des Peronismus als politischer Inkarnation der katholischen Nation.50
Auch wenn Perón sich Jahre später mit der Kirche versöhnte, war dieser Bruch für die politische Situation in Argentinien fatal. »Von den 1950er- bis in die 1970er-Jahre lähmte Argentinien ein politisches Paradox, das Nicht-Argentiniern nur schwer zu erklären ist: Die Antiliberalen (die Rationalisten und Peronisten) erfreuten sich großer Beliebtheit und gewannen Wahlen, während die Liberalen (die Demokraten und Pluralisten) die Diktatur nutzten, um die Peronisten von der Macht fernzuhalten.«51 Dieser kurze historische Abriss zeigt: Die Zeit von Bergoglios theologisch-philosophischer Bildung in der Gesellschaft Jesu sowie die daran anschließende Phase, in der er Provinzial der argentinischen Jesuiten war, fiel in eine dramatische Phase der Geschichte dieses Landes. Es war eine Zeit des Kampfes und des Bürgerkriegs, eine Zeit beispielloser Gewalt. Das Denken Jorge Mario Bergoglios losgelöst von diesem Konflikt zu verstehen, der Zeit und Ort bestimmte, ist unmöglich. Sein »dialektisches« Denken, das anfangs in eifriger Meditation über die Spannung zwischen Gnade und Freiheit in den Übungen des heiligen Ignatius herangereift war, nahm die Gestalt einer »polaren« Philosophie an, die die starken Kontraste der Geschichte zu vereinen suchte. Wie das Denken Hegels oder Romano Guardinis ist auch Bergoglios Denken durch die Spaltungen und Konflikte seiner Zeit und vom Kampf für Versöhnung geprägt.
1969 – es war das Jahr, in dem der damals 33 Jahre alte Bergoglio zum Priester geweiht wurde – begann in Argentinien das Jahrzehnt der Gewalt, als Studenten und Arbeiter bei einer Protestdemonstration in Córdoba von Anhängern der Armee umgebracht wurden. Im Nachgang der Castro-Revolution in Kuba bildeten das trotzkistisch geprägte Ejército Revolucionario del Pueblo (ERP) und die Movimiento Peronista Montonero (MPM) eine Guerilla-Bewegung, die in den Jahren 1969 bis 1979 für mehr als 800 Morde und 1.748 Entführungen sowie zahllose Anschläge in diversen Städten des Landes verantwortlich war. Auf Peróns Rückkehr und seinen Wahlsieg im Oktober 1973 folgte eine kurze Pause der Gewalt, doch schon im Mai 1974 nahmen die Montoneros ihren bewaffneten Kampf wieder auf. Im Juli desselben Jahres starb Perón und seine Frau Isabelita trat seine Nachfolge an. Überfordert mit der Situation verhängte sie den Belagerungszustand. Erschießungskommandos lösten den guerra sucia, den »schmutzigen Krieg«, aus. Anfang 1975 gingen 450 Morde und 2.000 »Vermisste« auf das Konto der sogenannten »Triple A«, der paramilitärischen Antikommunistischen Vereinigung Argentiniens. Im März 1976 übernahm die Armee die Kontrolle über das Land und behielt sie bis 1983. Die Repression erreichte ein bisher unbekanntes Ausmaß an Gewalt: Zwischen 1969 und 1983 töteten das Militär, staatliche Sicherheitskräfte und rechte Todeskommandos insgesamt 8.368 Menschen. Fast die Hälfte davon waren Zivilisten, keine Guerilleros. Argentinien war ein gespaltenes Land: Auf der einen Seite standen jene, die sich zwar der Armee entgegenstellten, gleichzeitig aber Angst vor einer Revolutionswelle der Montoneros hatten, auf der anderen Seite diejenigen, die sich aus Verachtung gegenüber der militärischen Repression auf die Seite der Revolutionären schlugen. Diese Spaltung setzte sich in der Kirche fort, die am Ende aus sehr unterschiedlichen Lagern bestand.
In diesen unruhigen Zeiten wurde Bergoglio zum Provinzial der argentinischen Jesuiten ernannt. »Gewalttätige Ideologien hatten die argentinischen Christen als Geisel genommen. Bergoglios Generation war den Versuchungen des revolutionären Messianismus der Guerilla oder des antikommunistischen Kreuzzugs der Männer in Khaki-Uniform erlegen, und das Ergebnis war diabolisch: Der Leib Christi war nach weltlichen Maßstäben geteilt worden.«52 Infolgedessen lehnte Bergoglio nicht nur die Militärregierung und ihr Vorgehen dezidiert ab, sondern auch die Gewalt der Guerilleros. Letztere genossen auf theologischer Ebene das Wohlwollen einiger Vertreter der Befreiungstheologie, die zu Recht auf die dramatische Frage der Armut und der sozialen Gerechtigkeit hinwiesen, wenn auch im Kontext einer unkritischen Annahme der marxistischen Methodologie.53 Maßgeblich war in dieser Hinsicht das 1971 vom peruanischen Theologen Gustavo Gutiérrez veröffentlichte Werk Theologie der Befreiung (Teología de la liberación).54 Dieses Buch gab der Spaltung innerhalb der lateinamerikanischen Kirche der späten 1960er- Jahre sozusagen einen theologischen »Segen«.
In der Beurteilung des Befreiungsprozesses geht ein Riß durch die christliche Gemeinde. Da die Kirche sich in einer kapitalistischen Gesellschaft befindet, in der eine Klasse der anderen gegenübersteht, kann auch sie in dem Maß, in dem sie sich dieser Gegenwart bewußt wird, nicht unberührt bleiben von der Kluft, die die Menschen unserer Gesellschaft voneinander trennt. Die Kirche darf diesen Riß auf keinen Fall weiter ignorieren. Was die aktive Mitarbeit an diesem Prozeß betrifft, so sind die Christen Lateinamerikas weit davon entfernt, einer Meinung zu sein. Die große Mehrheit der Kirche steht auf die eine oder andere Weise nach wie vor auf der Seite der bestehenden Ordnung. Dabei ist die Tatsache, daß die lateinamerikanischen Christen im Rahmen eines freien Spiels der Ideen verschiedene politische Richtungen vertreten, nicht einmal das Schwerwiegendste. Schlimm aber ist, daß die Polarisierung der politischen Standpunkte und die Härte der Situation eine Gruppe von Christen zu Unterdrückten und Verfolgten und die andere zu Unterdrückern und Verfolgern machen. Die einen werden gefoltert, und die anderen foltern oder lassen mindestens zu, daß gefoltert wird. So kommt es zu einem ernsten, grundsätzlichen Konflikt zwischen Christen, die die Opfer von Ungerechtigkeit und Ausbeutung sind, und Christen, die die Nutznießer der bestehenden Ordnung abgeben.55
Die politisch-soziale Spaltung spiegelte sich in der kirchlichen Spaltung wider. Die eucharistische communio war in Gefahr. »Die politischen Optionen dringen – mit den beschriebenen Mißständen – mehr und mehr in die Kirche ein und stellen sie vor die zunehmend deutliche Alternative, die unser Erdteil im Augenblick erlebt: für oder gegen das System oder, genauer gesagt, Reform oder Revolution. Viele Christen haben sich eindeutig für den schwierigen Weg entschieden, der zur Revolution führt.«56
Gutiérrez entschied sich für die Revolution – und damit gegen den desarrolismo, jenes Streben nach wirtschaftlichem Aufschwung durch Industrialisierung, das die lateinamerikanische Politik in den 1960er-Jahren geprägt hatte. Auch die Reform als politische Methode lehnte er ab. Indem er sich für den Klassenkampf entschied, entschied er sich auch für Konfrontation und gegen die friedliche Lösung von Konflikten. Fasziniert von der Bewegung Fidel Castros und Che Guevaras (die er in seinem Buch gern zitierte) sowie der Symbolfigur des Guerillapriesters Camillo Torres rechtfertigte Gutiérrez die revolutionäre »Gegengewalt« als Reaktion auf die Gewalt durch Staat und Kapital. Der marxistischen Theorie folgend verstand er Befreiung in erster Linie als Befreiung von Strukturen; darin sahen er und die Anhänger der Befreiungstheologie den einzigen Weg, um zu einem lateinamerikanischen Sozialismus und zur Geburt des »neuen Menschen« zu gelangen. Es kam zu einer Vermischung von theologischen und politischen Zielen, die charakteristisch für die Befreiungstheologie werden sollte. Ebenso wie die politischen Theologien, die Jean-Baptiste Metz und Jürgen Moltmann zeitgleich in Deutschland entwickelten, sah Gutiérrez den Weg zur Befreiung als einen Prozess der »Erlösung«, als fortschreitende Einsetzung des Königreichs.57 Die Kritik am theologischen Dualismus zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen wurde für Gutiérrez zu einem politisch-religiösen Messianismus; das sozialistische Ziel war dabei die Erfüllung des Reiches Gottes.
Die Einleitung zur Neuauflage seines Werkes (Februar 1988) zeigt, dass Gutiérrez in den Jahren, die seit dem Erscheinen der Erstauflage vergangen waren, seine naive Haltung überdacht hatte. Kritisch reflektierte er vor allem den Vorrang, den er zuvor der Praxis gegeben hatte, und betonte: »Ihre letzten Kriterien schöpft die Theologie aus der geoffenbarten Wahrheit; und diese finden wir im Glauben und nicht in der Praxis«.58 Er musste zugeben, dass es der Kreis, der Orthopraxie und Orthodoxie zusammenfügt, nicht zulässt, im marxistischen Sinne vom Vorrang der Praxis zu sprechen und das Problem der Armut nur aus sozioökonomischer Sicht zu betrachten. Die bevorzugte Option für die Armen und die Kritik an bestehenden Ungerechtigkeiten nahmen in Gutiérrez’ weiterentwickelter Befreiungstheologie jedoch nach wie vor einen zentralen Platz ein.
Fast zwanzig Jahre nach der Ersterscheinung seines Werkes konnte Gutiérrez Selbstkritik üben, weil sich das politische und theologische Klima beruhigt hatte. Unbestreitbar ist jedoch, dass seine damals vorgelegten Ideen im Argentinien der 1970er-Jahre benutzt wurden, um die Gegengewalt gegen die Gewalt des Staates und der Diktatur zu legitimieren. Und so wurde die Kirche, wie Bergoglio bemerkte, von oppositionellen Extremisten als »Geisel« genommen. Ein zwischen »Ordnung« und »Revolte« und zwischen Klerikalismus und Messianismus gespaltenes Christentum war nicht mehr in der Lage, der Welt die Botschaft von Frieden und Brüderlichkeit zu verkünden. Die Kirche war gescheitert.
Dass der junge Bergoglio Kritik an den beiden widerstreitenden Tendenzen äußerte, die das politische und kirchliche Leben in Argentinien in den 1970er-Jahre zerfleischten, heißt jedoch nicht, dass er allen politischen Lagern gleichermaßen distanziert gegenüberstand. Ivereigh betont zu Recht, dass er wie viele Katholiken »stets eine natürliche Affinität zur politischen und kulturellen Tradition des Peronismus« gehabt hatte.59 Bergoglio »gehörte zu einer Generation junger Menschen, deren Empörung über das Veto der Armee gegen den Peronismus mit jedem Tag wuchs. Denn sie verhinderte damit, dass die Bewegung an Wahlen teilnehmen konnte, und versuchte mit allen Mitteln – häufig auf widerwärtige Weise –, ihre Anhänger zu demütigen«.60 Der Peronismus war zu jener Zeit die größte demokratische Bewegung Argentiniens und die einzige, die auf die Bedürfnisse des ärmeren Teils der Bevölkerung einging und und die sozialen Rechte respektierte.61 Dass Bergoglio grundsätzlich mit dem Peronismus einverstanden war, bedeutet jedoch keinesfalls, dass er dessen radikale, populistisch-messianische Absichten guthieß – ganz im Gegensatz zur sogenannten Bewegung der Priester für die Dritte Welt (Movimiento de Sacerdotes para el Tercer Mundo, MSTM), der Anfang der 1970er-Jahre 10 % der argentinischen Priester angehörten. Ihr wohl bekanntester Vertreter war Pater Carlos Mugica. Er bekannte sich voll-umfänglich zum Peronismus, da er die Kluft zwischen der Kirche und der Arbeiterklasse schließen wollte, die durch die Empörung der Arbeiter über die antiperonistische Haltung der Amtskirche entstanden war. »Für Mugica und die Bewegung der Priester für die Dritte Welt war der Peronismus eine Art Messias, eine Macht, die das Volk befreien konnte. Sie schauten durch eine sozialistische Brille auf die Politik. Für die MSTM war das Volk peronistisch, und deshalb musste die Kirche, um auf der Seite des Volkes zu stehen, ihrerseits auch peronistisch sein. Das politische Programm war jedoch eher das von Castro als das von Perón.«62 Mugica wurde 1974 – so die wahrscheinlichste Vermutung – von der »Triple A« umgebracht.
All dies entsprach natürlich nicht Bergoglios theologisch-politischem Verständnis vom Peronismus. In Über Himmel und Erde, einem Buch, das Gespräche zwischen Bergoglio und dem argentinischen Rabbiner Abraham Skorka zusammenstellt, erinnerte sich Bergoglio folgendermaßen an diese Zeit zurück:
Anfangs blieb die Kirche mit Peróns Regierung verbunden, erreichte sogar einiges, wie den Religionsunterricht, mal ganz abgesehen davon, ob das gut oder schlecht ist. Nach Evitas Tod begann die Distanzierung. Vielleicht wusste der hohe Klerus nicht gut mit den Umständen umzugehen, jedenfalls mündete der Konflikt in der Konfrontation von 1954. Ich erinnere mich, dass ich als junger Mann in einem Zeitungsartikel las: »Die Señores und Monseñores vom gut gedeckten Tisch«. Das war der erste Angriff. Von da an nahm die gegenseitige Konfrontation ihren Lauf, bei der unschuldige Leben getötet wurden. Der nationalistischen Gruppierung der Streitkräfte waren die Zivilisten auf der Plaza de Mayo egal, und sie schickten Flugzeuge mit dem unglaublichen Spruchband »Christus siegt«. Das ekelt mich an, es macht mich wütend, es empört mich, denn so benutzt man den Namen Christi für eine rein politische Aktion. Religion, Politik und purer Nationalismus vermischen sich. Unschuldige Menschen wurden ohne Not getötet. Und ich akzeptiere das Argument nicht, dies sei zur Verteidigung der Nation geschehen, denn man kann das Volk nicht verteidigen, indem man das Volk tötet. Doch es wäre zu einfach zu sagen, dass die Kirche Perón nur unterstützt oder sich ihm nur widersetzt habe. Die Beziehung war sehr viel vielschichtiger, war es und wurde es: Zuerst gab es Unterstützung, dann eine zu enge Verstrickung einiger Anführer und zuletzt eine Konfrontation. Schön vielschichtig wie der Peronismus.63
Bergoglios scharfe Kritik bezieht sich auf die Ereignisse vom 11. Juni 1955, als Marineflugzeuge, die das Spruchband »Cristo vence« (»Christus siegt«) hinter sich zogen, die Plaza de Mayo in Buenos Aires bombardierten. Hunderte von Teilnehmern einer von den Gewerkschaften organisierten Demonstration fanden dabei den Tod. Diese Aktion war absolut inakzeptabel – nicht nur, weil sie geradezu barbarisch war, sondern auch, weil dabei Religion, Politik und nationalistische Ideologie miteinander vermischt wurden. Die blutige Episode von der Plaza de Mayo sollte dem jungen Bergoglio nie aus dem Kopf gehen. Die Erinnerung daran bestärkte ihn in seiner kritischen Haltung gegenüber politischer Theologie, von rechts wie von links. Bergoglio war zu keiner Zeit ein peronistischer Populist und er bekannte sich auch nie zur Ideologie des Peronismus. Wie für viele andere argentinische Katholiken war der Peronismus für ihn eine Bewegung, die die Interessen des Volkes, der einfachen Menschen, vertrat und gegen »liberale« Regierungen einstand, die sich nur für die Belange der oberen Mittelschicht interessierten. Dies erklärt auch, warum er mit dem dritten Weg des Peronismus, dem der Mitte, sympathisierte, als er 1971 geistlicher Beistand einiger Führungskräfte der »Guardia de Hierro« (Eiserne Garde) an der von Jesuiten geleiteten Universidad del Salvador (USAL) wurde.64 Einer dieser Männer erinnerte sich später daran, dass »Bergoglio genau das Gegenteil eines Priesters aus der Bewegung der Priester für die Dritte Welt war. Während nämlich jene in die Politik gingen, um das, was ihnen in ihrem Glauben fehlte, zu kompensieren, blieb er immer stark im Glauben und versuchte, damit die Politik zu bereichern. Er sagte, es sei nicht die Ideologie, die zählt, sondern das Zeugnis.«65 Einige der intellektuellen Interessen der Guardianes teilte er sicherlich, aber er blieb in erster Linie Seelsorger. »Er war eher ein Priester, der zufälligerweise Peronist war, als ein peronistischer Priester.«66