Читать книгу Das Erdbeben in Chili von Heinrich von Kleist: Reclam Lektüreschlüssel XL - Mathias Kieß - Страница 10

(5) Liebesglück und soziale Utopie (S. 11, Z. 9 – S. 15, Z. 23)

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Geschickt leitet Kleist wieder in die Gegenwart der Erzählung über: »Dies alles erzählte sie jetzt voll Rührung dem Jeronimo« (S. 11). Sie verbringen die erste Nacht nahe der Quelle, an der sie sich wiedergefunden haben, und denken darüber nach, »wie viel Elend über die Welt kommen musste, damit sie glücklich würden« (S. 11). Bevor sie im Morgengrauen einschlafen, entscheiden sie sich, schnellstmöglich in die nahegelegene Hafenstadt La Conception zu reisen, um von dort aus nach Spanien einzuschiffen, wo Jeronimos Verwandte wohnen. Das Liebespaar scheint sich also bewusst, dass sein Glück nur so lange anhält, wie die Wirren des Erdbebens die Stadt im Griff haben.

Am nächsten Tag passiert etwas Unerwartetes. Das junge Liebespaar wird in eine Familiengemeinschaft eingeführt: Als Don Fernando Ormez und seine FamilieDon Fernando Ormez, ein angesehener Bürger der Stadt, fragt, ob sein Sohn Juan an Josephes Brust gesäugt werden könne, da seine Frau Donna Elvire schwer verletzt sei, gibt Josephe ihre Zustimmung (S. 12). Schnell lernen sie beim Frühstück auch den Rest der Familie kennen. Das sind Don Pedro, Fernandos Schwiegervater, und dessen drei Töchter; die eben erwähnte Donna Elvire mit ihrem Säugling Juan, sowie Donna Elisabeth und Donna Constanze. Rasch entwickelt sich eine Vertrautheit zwischen dem wiedervereinten Liebespaar und der Familie. (Eine Übersicht über die Familie findet sich auch im Figurenverzeichnis des dritten Kapitels dieses Lektüreschlüssels, S. 26.)

Immer wieder wird betont, mit welcher Freundlichkeit (S. 12) die Stimmung der Überlebenden untereinanderÜberlebenden miteinander umgehen und wie liebreich (S. 13) ihre Blicke sind. Nur Donna Elisabeth schaut bisweilen verträumt auf Josephe. Sie war von einer Freundin zur Hinrichtung von Josephe eingeladen worden, ist dem Spektakel jedoch ferngeblieben.

Aus der Stadt wird von Unfrieden und Gewalt berichtet: So beschwören Geistliche das Ende der Welt, und der Vizekönig hat Galgen errichten lassen, um Plünderern Einhalt zu gebieten. Da für gerichtliche Verfahren und der damit einhergehenden Wahrheitsprüfung der Anschuldigungen keine Zeit ist, sind auch Unschuldige der Anarchie und Lynchjustiz in der StadtLynchjustiz zum Opfer gefallen. So findet ein Mann den Tod, der sich durch ein brennendes Haus zu retten versucht, weil dessen Besitzer ihn für einen Dieb hält (S. 13). Auch anarchische Tendenzen sind zu erkennen: Bewohnerinnen und Bewohner behaupten, »es gäbe keinen Vizekönig von Chili mehr!« (S. 13).

Nicht nur innerhalb der Familie, sondern unter allen Überlebenden, die außerhalb der Stadt verweilen, ist die Stimmung trotz oder gerade wegen des erlebten Unglücks positiv. Was der Erzähler beschreibt, gleicht einer Eine soziale Utopie?sozialen Utopie: Der »menschliche Geist« gehe »wie eine schöne Blume« (S. 14) auf und das Unglück habe alle »zu einer Familie gemacht« (S. 14). Die Ständegesellschaft scheint überwunden, wenn »Fürsten und Bettler, Matronen und Bäuerinnen, Staatsbeamte und Tagelöhner, Klosterherren und Klosterfrauen« (S. 14) nebeneinanderliegen und sich gegenseitig helfen. Die oberflächlichen Gespräche, die man sonst beim Teetrinken führt, weichen nun Erzählungen von echtem Heldentum, und es gibt nicht eine einzige Figur, die nicht Großes erlebt oder geleistet hat (S. 14).

Josephe pflegt währenddessen die Wunden von Donna Elvire (S. 13). Die beiden Frauen kommen dabei ins Gespräch, und Josephe lässt sich vom optimistischen Geist der anderen anstecken und Josephe öffnet sich Elvire?erzählt möglicherweise, dass sie die verurteilte Straftäterin ist und wie ihre kleine Familie wieder zusammengefunden hat. Der Erzähler bleibt hier vage: »Und da Josephe ihr, mit beklemmten Herzen, einige Hauptzüge davon angab« (S. 13), ergriff Donna Elvire »ihre Hand und drückte sie, und winkte ihr, zu schweigen« (S. 14). Auch wenn die Leserinnen und Leser nicht explizit erfahren, wie viel Josephe von sich preisgibt, so wird doch angedeutet, dass Elvire darum weiß, dass es sich bei ihrer Gesprächspartnerin um die zum Tode Verurteilte Josephe handelt.

Jeronimo und Josephe sind von der Stimmung unter den Menschen im Tal vor der Stadt so überwältigt, dass sie ihren Jeronimo gibt Fluchtplan aufFluchtplan noch einmal überdenken. Jeronimo hofft auf eine Begnadigung durch den Vizekönig und im Anschluss auf ein friedvolles Familienleben in Chili. So schnell wie möglich will er den Herrscher sprechen und vor ihm auf die Füße fallen. Josephe ist zuversichtlich, sich mit ihrem Vater versöhnen zu können. Jedoch ist sie etwas vorsichtiger und schlägt vor, ein schriftliches Gnadengesuch von La Conception aus einzureichen, damit man bei einer negativen Antwort schon in Hafennähe sei und nach Europa aufbrechen könne. Jeronimo stimmt zu (S. 15).

Das Erdbeben in Chili von Heinrich von Kleist: Reclam Lektüreschlüssel XL

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