Читать книгу Gefahr für Burg Bentheim - Mathias Meyer-Langenhoff - Страница 11

Eine andere Welt

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Als Lotte erwachte, lag sie auf einer Wiese im gleißenden Sonnenlicht. Sie musste blinzeln, so hell war es. Wie durch Watte drang Dietlindes Stimme an ihr Ohr: „Hallo, aufwachen!“

„Wo sind wir?“, fragte Lotte staunend und mit einem mulmigen Gefühl im Magen.

„Dreimal darfst du raten. Vor der Katharinenkirche, und zwar im Jahr 1350. Kannst du aufstehen?“

„Ich probier’s“, antwortete Lotte. Sie fühlte sich noch etwas wackelig auf den Beinen, als sie stand.

„Ich hoffe, dir ist ersichtlich, dass wir wieder normal groß sind“, fuhr Dietlinde fort, „wir gehen jetzt zu Balthasar. Aber sprich um Gottes willen niemanden an, du siehst nämlich ziemlich absonderlich in deinen Kleidern aus.“

Lotte sah an sich hinunter, sie trug ihre braunen Slipper, Jeans und ein rotes Sweatshirt. Das war doch normal. Dietlindes Aufzug erschien ihr viel seltsamer, sie selbst würde freiwillig nie einen alten Sack als Kleidungsstück tragen.

„Nun schreite los, wir müssen weiter!“, kommandierte Dietlinde. Zielstrebig ging sie auf ein Burgtor mit Zugbrücke zu, das Lotte völlig unbekannt vorkam. Plötzlich ertönte vor ihnen lautes Poltern, und Dietlinde riss sie zur Seite, die beiden Mädchen konnten gerade noch einer Reitergruppe ausweichen, die in die Burg hineintrabte. Es waren tatsächlich echte Ritter, mit offenem Mund staunte Lotte ihnen nach. Alle vier trugen lange, schwarze Umhänge und darunter Kettenhemden, ihre Köpfe bedeckten Metallkapuzen und an den Hüften baumelten riesige Schwerter. Es rasselte und polterte so laut, dass Lotte sich die Ohren zuhielt.

„Komm schon, wir müssen hier entschwinden, so eine wie dich haben die Herren Ritter noch nie gesehen. Ich will nicht riskieren, dass sie zurückkehren!“

„Ob es mir wohl genauso geht?“, antwortete Lotte noch immer entgeistert.

„Das mag sein, aber dennoch solltest du sie nicht wie ein Wunder anstarren!“

Lotte stolperte hinter Dietlinde her. So nach und nach begann sie zu begreifen, dass sie sich in einer völlig anderen Welt befand. Hier war alles viel leiser als zu Hause, abgesehen von dem Lärm gerade auf der Zugbrücke, aber sie hörte überhaupt keine Autogeräusche, und es roch anders, irgendwie nach Natur. Sie bekam eine Gänsehaut, wenn sie daran dachte, dass sie fast sechshundertsechzig Jahre in die Vergangenheit gereist war.

Als die beiden Mädchen durch das untere Tor das Burggelände verließen, erkannte Lotte die Tränke wieder, an der gerade ein Junge einige Pferde beaufsichtigte, doch von Bad Bentheim war nichts zu sehen. Da, wo sich sonst Cafés und Gaststätten befanden und man direkt in die Stadt ging, standen Bäume und Büsche, durch die ein schmaler Fußweg hindurchführte. Die Mädchen folgten dem Weg und kamen an einem Steinbruch vorbei, in dem Männer und Jungen mit großen Hämmern und Meißeln Gesteinsbrocken aus dem Fels brachen. Die Jungen taten ihr leid, denn die Arbeit schien schwer und anstrengend zu sein.

Als sie die ersten Häuser erreichten, stieg Lotte ein fürchterlicher Gestank in die Nase. „Puh, wo sind wir denn jetzt?“ Sie hielt sich die Nase zu.

„Natürlich im Flecken Bentheim, was denkst du?“

So sah Bad Bentheim im Mittelalter aus? Lotte konnte es kaum glauben. Ein Kurort war das jedenfalls nicht, den Gestank und die Mücken konnte ja kein Mensch ertragen. Sie hüpfte hin und her und versuchte so gut es ging, die Insekten davon abzuhalten, sie zu stechen oder in ihre Ohren und Augenwinkel zu krabbeln.

„Du machst aber seltsame Bewegungen, ein Begrüßungstanz ist bei uns eigentlich unüblich.“

Dietlinde, der die fliegenden Quälgeister fast gar nichts ausmachten, begann erst zu kichern und hielt sich dann den Bauch vor Lachen. „Ich weiß übrigens gar nicht, was du hast“, sagte Dietlinde, als sie sich wieder beruhigt hatte, „hier stinkt es doch gar nicht oder höchstens ein bisschen.“

„Na ja“, murmelte Lotte.

Als die Insekten sie einen Augenblick in Ruhe ließen, sah sie, warum es so stank. An den Wegen entlang flossen Rinnsale einer ekelhaften Abwasserbrühe, überall liefen Schweine, Ziegen, Hühner und andere Tiere frei herum oder waren direkt neben den Häusern untergebracht. Vor ihnen lag eine riesige Sau mitten auf dem Weg und grunzte zufrieden vor sich hin.

Ab und zu kamen ihnen Menschen entgegen, die hier offenbar nicht zuhause waren, denn sie trugen Taschen und Bündel. Sie erschienen Lotte bedrückt und müde, meist trugen sie schmutzige und zerrissene Kleidung. Die Einheimischen saßen vor ihren Häusern, und der eine oder andere steckte den Vorbeigehenden etwas zu essen zu. Die Behausungen waren sehr klein und fast alle so gebaut, dass sich das strohgedeckte Dach auf einer Seite bis zum Boden neigte, dadurch entstand ein Überstand als Stall für die Tiere. Überall standen Bienenstöcke, es wuchsen Obstbäume und üppige Beerensträucher voller Früchte. Lotte dachte an den Garten zuhause, in dem ihr Vater pedantisch darüber wachte, dass Sträucher und Bäume ja nicht zu groß wurden und der Rasen nie länger als wenige Zentimeter hochstand. Unauffällig musterte sie die Bewohner Bentheims und staunte. Es wimmelte nur so von Kindern, die nicht nur mit ihren Eltern, sondern auch mit ihren Großeltern unter einem Dach lebten. Sie zeigten mit dem Finger auf sie, lachten oder riefen Dietlinde etwas zu. In all dem Gewirr wühlten auch noch Hunde in Abfällen und Dreckhaufen, die sich überall auftürmten.

„Wo warst du so lange? Wir haben dich schon vermisst!“, rief ein größerer Junge, der ihnen mit einer Gruppe von Kindern entgegenkam.

„Ich musste Botengänge erledigen“, antwortete sie, „dabei habe ich Lotte getroffen, sie hat sich verlaufen. Ich bringe sie zu Balthasar.“

„Wie sieht die denn aus?“, meinte ein Mädchen, Lotte schätzte sie auf sieben oder acht. „Die trägt ja sonderbare Kleider.“

Es zupfte an Lottes Sweatshirt, aber Dietlinde zog sie weiter und rief den Kindern zu: „Sie ist aus einer Adelsfamilie, ihr wisst doch, die sind eben anders als wir. Wenn ich nachher Zeit habe, treffen wir uns am Brunnen!“

„Ich wusste gar nicht, dass ich ein Adelsfräulein bin“, kicherte Lotte.

„Na und? Dann haben sie wenigstens Respekt und machen sich nicht so viel Gedanken über deinen Aufzug.“

Endlich erreichten die Mädchen Balthasars Haus und Dietlinde klopfte an die schiefe Holztür.

„Tritt ein Fremder, die Tür ist offen!“, antwortete eine freundliche Stimme.

Sie betraten das dunkle, schlecht durchlüftete Häuschen. Es war so niedrig, dass Lotte ihren Kopf einziehen musste. Nachdem sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, erkannte sie einen groben Holztisch mit vier Hockern, die Feuerstelle mit einem Rest abgebrannter Holzscheite und eine offene Schranktür, in der das Bett untergebracht war.

Am Tisch saß ein hagerer, hoch aufgeschossener Mann in einer grauen Mönchskutte. Da er sich gerade über ein Buch beugte, konnte Lotte auf seinen fast kahlrasierten Kopf sehen, er trug nur einen Haarkranz.

„Komische Frisur“, dachte sie, aber dann erinnerte sie sich an das Bild eines mittelalterlichen Mönchs aus ihrem Geschichtsbuch. Dr. Teichmann hatte erklärt, das sei eine Tonsur und Priester und Mönche hätten sie als Zeichen ihrer Frömmigkeit getragen.

Balthasar sah auf und erhob sich. „Willkommen, meine Tochter, ich bin Gott dankbar dich gesund und munter wiederzusehen.“

„Gott zum Gruße, Vater“, antwortete Dietlinde, „das hier“, dabei legte sie ihren Arm um Lottes Schultern, „ist Lotte.“

Balthasar beugte sich zu den Mädchen herunter und zeichnete ihnen mit seinem rechten Daumen ein Kreuz auf die Stirn. „Du warst also erfolgreich, mein kluges Kind, ich bin sehr stolz auf dich.“

Dann wandte er sich an Lotte. „Sei gegrüßt, du hast dich sicher über Dietlindes Einladung zu dieser Reise gewundert, deine Anwesenheit hier ist jedoch für uns von großer Bedeutung.“

Lotte staunte. Beim Fußball hatte ihr Trainer sie nach einer längeren Verletzungspause mal mit den Worten begrüßt, es sei gut, sie wieder dabei zu haben. Sie konnte sich noch genau an das tolle Gefühl erinnern, das sie dabei empfand. Jetzt sollte es von großer Bedeutung sein, mit Dietlinde in diesem kleinen, stinkenden Kaff zu sein? Das kam ihr übertrieben vor.

„Ja, aber, was, was … soll ich denn tun?“, stotterte sie.

„Mein liebes Kind“, beruhigte sie Balthasar und schaute einen Augenblick seufzend auf seinen kleinen Hausaltar, „ich will dich nicht zu sehr mit unseren unwürdigen Problemen belasten, aber unser Flecken Bentheim, die Burg, ja die ganze Grafschaft sind in großer Gefahr.“

„Was für eine Gefahr denn?“ Lotte sah Dietlinde an, die mit den Schultern zuckte und auf Balthasar wies.

„Ich habe Dietlinde gebeten genau dich mit Gottes Hilfe anzusprechen. Du bist mutig, klug und hältst dich von den Lastern deiner Zeit fern.“

„Wenn der fromme Mann wüsste, wie oft ich fernsehe, am PC spiele oder wie selten ich in die Kirche gehe, hätte er Dietlinde bestimmt beauftragt jemand anderen zu fragen“, dachte Lotte. „Ich verstehe trotzdem nicht, warum Sie meinen, dass gerade ich die Richtige dafür bin?“, sagte sie laut.

„Nennen wir es göttliche Eingebung“, lächelte Balthasar, „ich hatte einen Traum.“ Er wurde wieder ernst. „Wir sind in dieser misslichen Lage, weil uns ein Mann bedroht, den man getrost als einen der schrecklichsten Barbaren unserer Zeit bezeichnen kann. Er ist ein übler Mordgeselle und hat ein großes Heer von trunksüchtigen und brutalen Verbrechern um sich versammelt.“

„Was ist denn das für ein Kerl?“ Lotte schüttelte ungläubig den Kopf.

„Wir nennen ihn Grimmbert den Schrecklichen, eigentlich heißt er Grimmbert von Padingbüttel und ist Friese. Ich habe ihn selbst noch nicht gesehen, aber man erzählt, er soll groß und unglaublich stark sein. Manche behaupten, er könne mit einem Hieb seines Schwertes einen Mann in zwei Hälften teilen.“

Lotte schauderte, in was war sie da hineingeraten? „Sein Gehirn hat die Größe einer Erbse“, fügte Dietlinde verächtlich hinzu.

„Na, na, Dietlinde. Sie will sagen, er könne nichts außer kämpfen“, fuhr Balthasar fort, „das Schlimme ist, er hat von der Schönheit der Tochter des Grafen Otto gehört und sich in den Kopf gesetzt, sie zu heiraten. Der Graf weigert sich jedoch, sie ihm zur Frau zu geben und hat Grimmberts Boten immer wieder abgewiesen. Seitdem belagert der Friese mit einem großen Heer die Burg. Gestern hat sich die Situation zugespitzt, er ließ Schüttorf plündern und brandschatzen. Viele Menschen sind deshalb zu uns nach Bentheim geflohen.“

„Aber ich kann doch nicht für euch kämpfen, ich bin erst zwölf!“, rief Lotte entsetzt.

Dietlinde, die während der Erklärungen Balthasars von einem Fuß auf den anderen getreten war, entgegnete: „Was heißt erst zwölf? Wir hier sind in diesem Alter längst erwachsen und haben unsere Pflichten. Aber du sollst kein Schwert in die Hand nehmen, das kannst du sowieso nicht tragen. Wir hoffen allerdings, du wirst uns mit den Segnungen deiner Zeit helfen.“

„Segnungen meiner Zeit? Meinst du Computer und Handy und so was?“

Dietlinde zuckte mit den Schultern.

„Was immer es ist, es wird zum Wohlgefallen Gottes sein“, meinte Balthasar. „Allerdings gibt es ein großes Problem. Fast alle gräflichen Ritter und Burgmänner haben wegen der ständigen Angriffe ihre Güter und Gehöfte verlassen und sich in den Schutz der Burg zurückgezogen. Jetzt versuchen sie, den Grafen davon zu überzeugen, sogar diese selbst aufzugeben und mit ihnen weiter nach Holland zu fliehen. Für die Menschen im Ort wäre das eine Katastrophe, denn ohne den Schutz der bewaffneten Burgmänner sind sie verloren. Wir wollen den Grafen und seine Leute davon überzeugen hierzubleiben und zu kämpfen.“

„So ist es!“, bekräftigte Dietlinde.

Lotte starrte die beiden an, sie wünschte sich weg, ganz weit weg. Es schien ihr tausendmal leichter sich in der Schule mit Dr. Teichmann herumzuschlagen oder Verantwortung in der Mannschaft zu übernehmen.

Was die zwei hier von ihr verlangten, war eine Nummer zu groß, nein, zehn Nummern zu groß. Warum hatte sie sich nur auf diese Zeitreise eingelassen? In ihrer Stadt lag der Abfall nicht einfach so auf den Straßen, es gab keinen Krieg und erst recht keine blutrünstigen Heerführer, wenn man mal von Dr. Teichmann absah. Balthasar ahnte, was in Lotte vorging, beruhigend strich er ihr über die Wange.

„Mein liebes Kind, und ich nenne dich jetzt ganz bewusst so, ich weiß, in deiner Zeit leben junge Menschen anders als hier. Du sollst dich heute auch noch nicht entscheiden, das wäre zu viel verlangt. Nur auf eins möchte ich dich aufmerksam machen, du bist unsere einzige Verbindung in die Zukunft.“

Balthasar machte eine Pause, bevor er fortfuhr: „Nun ziehe mit Dietlinde von dannen und denke in Ruhe über alles nach. Ich bitte dich jedoch herzlich, am nächsten Tag wieder in die Katharinenkirche zu kommen, um meiner Schülerin deine Entscheidung mitzuteilen.“

Lotte nickte, die Aussicht, wieder zu Doro und den anderen zurückzukehren, erleichterte sie.

„Vorher solltest du dich aber umkleiden“, grinste Dietlinde, „damit dich auf dem Rückweg zur Burg nicht wieder alle so anglotzen.“

„Ein kluger Vorschlag“, nickte Balthasar, „nur was soll sie tragen?“

Dietlinde ließ den Blick schweifen. „Wie wäre es mit Eurer Schlafdecke, Vater?“

„Oh ja, das geht“, freute sich Balthasar und zog aus dem Bettschrank einen mit Stroh gefüllten Sack. Er schüttelte ihn aus und riss Löcher für Arme und Kopf hinein.

„Arme hoch!“, forderte er Lotte auf und stülpte ihr den Schlafsack über. Die wäre beinahe in Ohnmacht gefallen, denn das Ding roch und kratzte fürchterlich. Balthasar schien ihn noch nie gewaschen zu haben, aber der Sack verdeckte vollständig ihre Jeans und das Sweatshirt.

„Dann müssen wir noch etwas dein Haupthaar zerwühlen“, lachte Dietlinde und fuhr ihr kräftig durch die Frisur. Balthasar gab ihr noch einen alten Strick, damit sie das neue Gewand für ihre Körpergröße passend gürten konnte.

Dietlinde betrachtete sie prüfend. „Gut so, jetzt fällst du kaum noch auf, nur deine Schuhe musst du ausziehen, Bauernkinder laufen barfuß.“ Das leuchtete Lotte ein und sie versteckte sie unter ihrem weiten, neuen Kleidungsstück.

„Wohlan denn“, meinte Dietlinde fröhlich und wandte sich zur Tür.

Als die beiden Mädchen vor dem Haus standen, fiel ihr Blick auf Lottes strahlend saubere Füße, während ihre eigenen kohlrabenschwarz waren.

„Fällt dir was an mir auf?“, fragte Dietlinde.

„Na klar, du könntest mal wieder deine Füße waschen.“

„Ich hatte eine andere Möglichkeit in Erwägung gezogen“, sagte sie, bückte sich und begann Lottes Füße kräftig mit Sand und Dreck zu scheuern.

„Bist du verrückt? Lass das!“, rief Lotte entsetzt.

„Jetzt halt still!“, schimpfte Dietlinde. „Deine edlen, weißen Treter fallen jedem Bentheimer doch schon von Weitem auf.“

„Na gut, einverstanden, aber lass mich das selbst machen.“

Lotte begann vor dem Haus immer wieder hin und her zu laufen, bis ihre Füße fast genauso aussahen wie Dietlindes. Dann gingen sie den Weg zurück, den sie gekommen waren.

Als sie das untere Burgtor wieder erreicht hatten, bemerkte Lotte das Fallgitter, das bei Gefahr heruntergelassen werden konnte.

„So ein Gitter gibt’s in unserer Zeit gar nicht, das mittlere Tor übrigens auch nicht“, stellte Lotte fest.

„Vielleicht geht es bei euch ja friedlicher zu als bei uns“, antwortete Dietlinde.

Vor der Katharinenkirche legte sie Lotte ihre Hand auf die Schulter. „Also, morgen Nachmittag werde ich in der Kanzel wieder auf dich warten, dann musst du mir sagen, wie du dich entschieden hast.“

Lottes Gefühle und Gedanken fuhren Achterbahn. Sollte sie den Bentheimern helfen? Sie würde es gerne, aber sie hatte auch große Angst. Sie war sogar wütend auf Dietlinde, weil die sie erst in die Situation gebracht hatte. Gleichzeitig fand sie dieses Mädchen und ihren Lehrer beeindruckend, solchen Menschen war sie bisher noch nie begegnet. Gedankenverloren sah sie an Dietlinde vorbei.

„Lotte, hörst du mich?“, fragte diese schließlich vorsichtig.

„Ja, klar.“

„Es wird Zeit Balthasars Bettdecke auszuziehen, oder willst du die mitnehmen?“

„Nein, nein“, murmelte Lotte und befreite sich erleichtert von dem übel riechenden Sack. „Aber ich muss mir noch die Füße waschen, sonst wissen die anderen doch sofort Bescheid.“

„Nicht nötig“, antwortete Dietlinde gelassen, „du bedeckst sie ja wieder mit deinen Schuhen und Strümpfen. Nun schließ deine Augen.“

Lottes Anspannung stieg. Würde die Reise zurück in die Zukunft genauso funktionieren wie ins Mittelalter? Was wäre, wenn es schiefginge, und sie für immer hierbleiben müsste?

„Streck deine Hand aus“, kommandierte Dietlinde, „nein, nicht nach unten, wir sind doch gleich groß!“

Wieder spürte sie den kleinen Stich am Finger, und wieder hatte sie das Gefühl, in ihr ziehe sich alles zusammen. Der Schmerz in den Muskeln überraschte sie jetzt zwar nicht mehr, dennoch musste sie die Zähne zusammenbeißen. Als sie die Augen öffnete, war sie überwältigt. Die Blumen und Gräser, die ihr eben noch bis zum Fußknöchel reichten, berührten jetzt fast ihren Hals. Vor ihr standen riesige Füße im Gras, die mussten zu Dietlinde gehören. Tatsächlich, als sie ihren Blick nach oben richtete, sah sie den roten Wuschelkopf mit der Stupsnase.

„Kommst du nicht mit in die Kirche?“

Dietlinde schüttelte den Kopf. „Nein, das geht nicht.“ Sie wies auf das Loch in der Mauer.

„Da ist der Eingang, drüben landest du wieder in der Kanzel. Ich hoffe, wir sehen uns dann morgen.“

Lotte nickte, winkte Dietlinde noch einmal zu und stieg über eine kleine Steintreppe zur Maueröffnung hinauf. Sie tastete sich in den dunklen Gang hinein. Nach kurzer Zeit spürte sie, wie ihr Körper erneut durch den starken Strom erfasst und mitgerissen wurde. Wieder rasten Bilder der Burganlage an ihr vorbei, nur wurden jetzt die Gebäude den heutigen immer ähnlicher, auch die Menschen kamen ihr zunehmend vertrauter vor. Schließlich verlor sie das Bewusstsein.

Als Lotte erwachte, fand sie sich im Inneren der Kirche wieder und saß, wie Dietlinde ihr vorausgesagt hatte, auf dem Boden der Kanzel. Einen Augenblick zögerte sie, dann blickte sie prüfend nach oben, streckte ihren linken Arm aus und merkte, dass sie mit der Hand den oberen Rand berühren konnte. Also hatte sie ihre normale Körpergröße schon zurück. „Dann auf zu den anderen“, murmelte sie und rappelte sich hoch. Die Kassiererin im Kassenhäuschen bemerkte Lotte nicht, als sie wieder den Burghof betrat. Während sie auf den Batterieturm zuging, verließen ihre Klasse, Dr. Teichmann und der Führer gerade die Kronenburg, das Hauptgebäude der Burganlage.

Doro und Tom gingen nebeneinander. Lotte traute ihren Augen nicht, die beiden schienen sich bestens zu verstehen, ihre Freundin lächelte sogar, jedenfalls glaubte Lotte ihre Zahnklammer in der Sonne blitzen zu sehen.

Während sie auf die anderen zuging, dachte sie über eine Entschuldigung für ihren Klassenlehrer nach.

„Ich war auf der Toilette.“

Nein, zu blöd.

„Mir war schlecht, ich musste mich ausruhen.“

Schon besser, aber auch nicht überzeugend.

„Kleiner Doktor, Sie gehen mir so auf den Geist, ich war mal eben im Mittelalter.“

Das würde wieder Stress mit Teichmann bedeuten. Also entschied sie sich für Möglichkeit zwei. Lotte rechnete damit, streng zur Rede gestellt zu werden. Ihr Herz klopfte wie heute Morgen, als sie vor der Klassentür stand.

„Herr Dr. Teichmann, ich …“

Er beachtete sie überhaupt nicht, kein Anzeichen von Überraschung, Ärger oder Enttäuschung. Oder wollte er sie bewusst übersehen?

„War gar nicht schlecht, die Burgführung“, meinte Doro, als sei Lotte gar nicht weg gewesen. Plötzlich fiel es ihr wieder ein, der Zeitzauber. Und dass sogar Doro nichts bemerken würde, hatte Dietlinde auch vorausgesagt.

Lotte seufzte erleichtert. „Hast recht, aber ich schätze, du meinst bestimmt nicht nur die Besichtigung“, antwortete sie.

„Vielleicht.“ Doro grinste.

„So, Kinder, nun bin ich mit meiner Führung am Ende, ich hoffe, sie hat euch gefallen.“ Mit einem Seitenblick auf Dr. Teichmann fügte Franz Somberg hinzu: „Gutes Gelingen bei der Hausaufgabe, die Broschüre bekommt ihr gleich an der Kasse.“

Nach einer kühlen Verabschiedung von dem Burgführer steuerte Dr. Teichmann dem Ausgang entgegen, langsam gefolgt von seiner Klasse.


Gefahr für Burg Bentheim

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