Читать книгу HOYT - DER KILLER VON FOREST GROVE - Matt Serafini - Страница 5
Kapitel 1
ОглавлениеDer Killer kehrte zurück.
Melanie konnte seine ungeduldigen Schritte direkt vor der Hütte hören.
Auf der anderen Seite des Raumes lag Billys Leichnam auf dem Boden – mit dem Gesicht nach unten in Tausenden von Glassplittern, nachdem er fünf Minuten zuvor durch das Fenster geworfen worden war.
Melanie hatte schnell reagiert. Sie war von ihrem Platz neben dem Kamin aufgesprungen, hatte zwei Bücherregale vor das zersplitterte Fenster geschoben und diese dann mit allen Möbeln, die das Wohnzimmer der Hütte hergab, verkeilt – eine Barriere aus Couches, Sesseln und Lampen. Diese zu überwinden, würde mehr Kraft erfordern, als der Killer aufbringen konnte, hoffte sie.
Sie zog ihre Knie näher an ihren Kopf heran, zuckte aber jedes Mal aufs Neue zusammen, wenn die Fäuste des Wahnsinnigen gegen die Tür hämmerten. Bei jedem Schlag grunzte er wie ein Tier.
Die Ecke, in der sie kauerte, war ein Meer aus herumliegenden Kassetten und Teilen eines zerschmetterten Gettoblasters. Sie waren aus dem Regal gefallen, als sie ihre improvisierte Barrikade errichtet hatte.
Ihr gegenüber lag Bill und starrte sie mit leerem Blick gleichgültig aus dem einen sichtbaren, weit aufgerissenen Auge an. Ein Hammer steckte so tief in seinem Nacken, dass nur noch der halbe Griff aus dem aufgerissenen Fleisch und den zertrümmerten Knorpeln herausragte.
Doch er war nicht das einzige Opfer. Vor einer Stunde war Melanie über die ersten Leichen gestolpert. Nachdem niemand zu ihrer abendlichen Pokerrunde erschienen war, hatte sie sich kurzerhand zu der Hütte der weiblichen Betreuer begeben und dort Jennifer vorgefunden – an der Innenseite der Tür hängend, wie ein toter Hase, von dicken Hanfseilen gehalten und mit schartigen Schnitten in der Kehle. Unter ihren Füßen hatte sich eine große Lache aus Blut gebildet, die jeden Tropfen ihres Körpers auffing.
Als Melanie zur Haupthütte zurückgerannt war, hatte sie Jennifers Mörder gesehen. Die missgebildete Silhouette eines Mannes hatte die Tür aufgerissen und den gesamten Türrahmen ausgefüllt. Melanie hatte sofort kehrtgemacht und war den Pfad zu Mr. Dugans Büro hinaufgerannt. Den ganzen Weg über hatte sie um Hilfe geschrien, und schnelle, schwere Schritte hatten sie verfolgt.
Mr. Dugans Büro war nicht verschlossen. Melanie hatte die Tür hinter sich zugeschlagen und den Riegel vorgeschoben. Der Besitzer des Camps hatte aber nicht auf ihr verzweifeltes Flehen reagiert. Blitze hatten für einen kurzen Moment die Dunkelheit erhellt und sie hatte ihre Bewegungen unwillkürlich dem Rhythmus angepasst.
An der Küchenwand hatte ein Telefon gehangen. Sie hatte den Hörer abgenommen, aber kein Freizeichen gehört.
Zu diesem Zeitpunkt des Abends hatte sie nur gewusst, dass Jennifer tot war, und sie hatte noch keine Gelegenheit gefunden, den Tod ihrer besten Freundin zu betrauern. Stattdessen hatte sie gehofft, dass Bill, Lindsey, Tyler und Becky noch irgendwo dort draußen am Leben waren.
Aber das waren sie nicht.
Auf ihrer verzweifelten Suche nach einer Waffe hatte sie schließlich die nackten Leichen von Lindsey und Tyler entdeckt, die durchbohrt und übereinander auf Mr. Dugans Bett gelegen hatten. Eine Mistgabel hatte kerzengerade aus Tylers Rücken geragt und nicht nur ihn, sondern auch Lindseys Brust durchbohrt. In den kurzen Lichtblitzen hatte sie sehen können, dass Tylers Kopf voller Blut war und die Hälfte seines Hinterkopfes fehlte.
Dieser grauenvolle Fund hatte ihr klargemacht, dass auch die anderen grausam ermordet worden waren.
Und dass der Mann, der dafür verantwortlich war, dort draußen war und versuchen würde, zu ihr zu gelangen.
Dann war auf einmal die Tür aufgeflogen und Holzsplitter waren quer durch den Raum geflogen. In einem weiteren grellen Blitz hatte sie die nur entfernt menschlich aussehende Gestalt aus dem strömenden Regen hereinschlurfen sehen. Melanie hatte sich daraufhin ans Ende der Küche zurückgezogen und sich durch die Hintertür hinausgeschlichen. So schnell sie gekonnt hatte, war sie durch den Matsch gerannt. Ihre Schritte auf dem Weg zur Haupthütte hatten sich angefühlt, als würde sie durch Sirup waten.
Nun war sie hier und fischte ein kleines Jagdmesser unter einem Stapel Kassetten hervor.
Melanie strich sich eine lockige Strähne ihres roten Haares aus dem Gesicht und grub ihre Fingernägel in die Handinnenflächen, in der Hoffnung, ihre Nerven damit beruhigen zu können. Aber es war zwecklos, denn mit jedem Blinzeln schossen ihr erneut Bilder des Todes durch den Kopf. Ihr Herz raste, halb aus Panik, halb wegen des Adrenalins, das ihr Körper ausstieß.
Die Zeit schien stehen zu bleiben, während sie darum flehte, dass Mr. Dugan zurückkehren möge. Doch sie wusste, sobald die Scheinwerfer seines Jeeps die Dunkelheit durchbrechen würden, wäre der Besitzer des Camps ebenfalls dem Tode geweiht. Denn wenn sie die Tür entriegeln oder die Barrikade beiseite räumen würde, um aus dem Fenster klettern zu können, damit sie ihn warnen konnte, bräuchte der Killer nur noch wählen, wen von beiden er als Erstes umbringen wollte.
Fürs Erste war sie in der Hütte sicher. Die verbliebenen Fenster waren entweder zu klein oder so eng, dass es äußerst schwierig werden würde, sich hindurchzuzwängen. Wenn der Killer es dennoch versuchte, würde ihr genug Zeit bleiben, ihm ein Messer in den Schädel zu rammen.
Die Vordertür war geschlossen und mit einem Gording-Knoten gesichert, der den Türknauf mit dem Türsparren verband. Melanie hatte seit Jahren nicht mehr an ihr Wissen aus dem Ferienlager gedacht, aber als sie es jetzt gebraucht hatte, war alles sofort wieder da gewesen. Damit auch niemand durch die Hintertür brechen konnte, hatte sie ihre letzten Energien dafür aufgebracht, den alten Kühlschrank aus der Küche über den Boden zu zerren, um die Tür damit zu blockieren.
Irgendwann hörte das verdammte Rütteln am Türknauf endlich auf und die Schritte verhallten in der Nacht. Sie stieß eine Winger-Kassette mit den Füßen zur Seite, streckte sich und versuchte etwas von der lähmenden Anspannung abzuschütteln.
Der einstweilige Rückzug des Irren verschaffte ihr eine kurze Erleichterung, aber dafür wuchs ihre Besorgnis. Wohin war er gegangen, und warum? War Mr. Dugan vielleicht zurückgekehrt? Oder war jemand hierhergefahren, um nach dem Rechten zu sehen? Doch das war recht unwahrscheinlich, wenn man bedachte, dass sie die letzten zwei Monate hier verbracht hatten, um das Camp wieder in Schuss zu bringen, und in der ganzen Zeit keine Menschenseele aufgekreuzt war. Gut möglich, dass der Killer auch einfach nur abwartete, weil er genau wusste, dass sie als Erstes aufgeben würde. Sie spitzte die Ohren, hörte aber nur den Regen.
Falls Mr. Dugan zurückgekehrt war, musste sie ihn unbedingt warnen. Sie rappelte sich auf und hoffte, das vertraute Quietschen der Radachsen seines Jeeps zu hören. Denn anderenfalls würde sie unter keinen Umständen dort hinauslaufen.
Diese Wälder gehörten ihm, und auf dem unbekannten Gelände und während des sintflutartigen Regens würde sie nicht gegen ihn gewinnen können, das wusste sie. Sie bezweifelte, überhaupt eine Chance gegen ihn zu haben. Wie sollte eine Siebzehnjährige denn auch einen Psychopathen von der Größe eines Mammuts abwehren können?
Melanie lief nervös in der Hütte auf und ab und zog jeden Vorhang gerade weit genug auf, um nach Anzeichen für Mr. Dugans Rückkehr Ausschau halten zu können. Regen strömte unentwegt an den Fensterscheiben hinunter und reduzierte ihre Sicht auf beinahe null. Doch Mr. Dugan kam nicht, weshalb sie all ihre Hoffnungen nun auf Becky konzentrierte. Die war die Einzige, deren Leiche sie noch nicht gefunden hatte. Das Gelände des Camps war groß, vielleicht hatte sie es geschafft, sich irgendwo zu verstecken.
Gut möglich, dass sie sich in der Kantine befunden hatte, als der Strom ausgefallen war. Das Mädchen war nämlich eine phänomenale Köchin und experimentierte dort gern herum, wann immer sich ihr die Gelegenheit dazu bot. Erst an diesem Nachmittag hatte Bill drei Forellen aus dem See gefischt, und Becky hatte sie mit etwas Petersilie, Basilikum und Rosmarin gewürzt auf den Grill geworfen. An sich war das nichts Besonderes, aber ihre Idee, das Ganze mit einer improvisierten Limonen-Worcester-Buttersoße anzureichern, hatte die Forellen zu einer der besten Mahlzeiten gemacht, die Melanie je im Leben gegessen hatte.
Beim Essen hatte Becky der Gruppe dann verraten, dass sie am Johnson and Wales College of Culinary Arts angenommen worden war. Ein stolzes Lächeln hatte in ihrem Gesicht gestrahlt, als sie ihr dazu gratuliert und über die Möglichkeiten nachgedacht hatten, die am Ende dieses Weges auf sie warten würden. Wenn auch nur eine kleine Chance bestand, dass sie noch immer dort draußen war …
Ich kann da nicht rausgehen. Ich werde nicht hinausgehen.
Melanie schämte sich für ihre Feigheit, musste aber dennoch nicht lange nachdenken, um sich dafür zu rechtfertigen. Denn nach allem, was sie wusste, konnte der Killer direkt hinter der Tür lauern. War es da klug, zu versuchen, zur Kantine zu gelangen, weil Becky vielleicht noch am Leben war? Und selbst wenn, so war er vielleicht bereits selbst auf dem Weg dorthin.
Ich werde mich nicht vom Fleck rühren, verdammt noch mal.
»Tut mir leid, Bill«, sagte Melanie mit brüchiger Stimme. Sie packte ihn an den Fußknöcheln und zog ihn durch den Raum. Sie hinterließ eine dunkelrote Spur, als sie ihn in die Ecke zerrte. Sein Mötley-Crüe-Girls-Girls-Girls-Shirt war durch die zahlreichen Stichwunden in den Bauch vollkommen zerfetzt worden. Das fiel ihr erst jetzt auf und sie erinnerte sich plötzlich daran, wie sie Pläne geschmiedet hatten, Karten für den nächsten Liveauftritt der Crüe in der Gegend zu besorgen.
Sie versuchte diese Erinnerungen abzuschütteln und ermahnte sich, dass sie noch genug trauern konnte, wenn das alles erst einmal vorbei war. Doch jetzt musste sie Bill außer Sichtweite schaffen, damit sie nicht den Verstand verlor. Denn der einzige Weg, zu überleben, bestand darin, ruhig zu bleiben. Mit einem Wimmern drehte sie ihn um und schob seinen Körper so weit in die Ecke, wie es ihr möglich war, und zog anschließend eine schwere Decke über ihn. Ihre Augen schwammen vor Tränen und sie atmete schwer.
»Das wird schon wieder werden«, flüsterte sie, obwohl sie ihrer Aufmunterung selbst kaum Glauben schenkte.
Die Hütte war gut verriegelt, und Mr. Dugan würde ganz bestimmt irgendwann zurückkommen. Vielleicht hatte er ja beschlossen, bei Sherry Peterson zu bleiben – eine Witwe, der das örtliche Diner gehörte. In Forest Grove munkelte man schon länger, dass die beiden seit ein paar Jahren etwas miteinander hatten. Mr. Dugan schien aber auch Beckys Gesellschaft zu mögen, denn schon mehr als einmal hatte sie ihm ein persönliches Abendessen in seiner Hütte serviert. Das war irgendwann so häufig vorgekommen, dass Bill sicher gewesen war, dass die beiden miteinander schliefen.
Männer und ihr Bedürfnis nach Abwechslung, hatte Melanie damals gedacht und sich gefragt, ob Bill sich wohl gelegentlich auch nach anderen Mädchen sehnte.
Als ob das jetzt noch irgendeine Rolle spielte. Ihre Augen wanderten unweigerlich zu der rotbefleckten Decke in der Ecke.
Sie sank auf ihre Knie, ließ das Messer neben sich klappernd zu Boden fallen und weinte hemmungslos.
Sie alle waren tot. Jen war ihre beste Freundin und Vertrauensperson gewesen. Ihre Freundschaft war von der Art gewesen, dass sie mit siebzehn Jahren bereits ein ganzes Leben voller wunderbarer Erinnerungen füllen konnte. Und Bill war ihr fester Freund in diesem Sommer gewesen. Eine unschuldige Liebelei, die gerade erst aufgeblüht war. Ihr brennendes Verlangen füreinander war mit ihrer gegenseitigen Zurückhaltung kollidiert. Es hatte sie überrascht, dass Bill noch nie mit jemandem geschlafen hatte. Für ihn war es in Ordnung gewesen, weil er damit warten wollte, bis er jemand Besonderen kennenlernte. Das war kurz bevor er ihre Hand genommen und gesagt hatte: »Du bist etwas Besonderes.« Sein sicheres Gespür für kitschige Momente war seine Spezialität gewesen.
Der Boden unter ihren blassen Schenkeln ächzte und ein lautes Klicken hallte durch die Stille der Hütte. Hinter ihr knarzte außerdem etwas. Sie wollte sich nicht umdrehen, tat es aber dennoch. Der kleine Teppich hob sich plötzlich über den Boden und rutschte dann wieder nach unten, als eine schmutzige und blutverkrustete Hand eine verborgene Falltür nach oben drückte.
Der Killer stieg aus der Dunkelheit empor, und zum ersten Mal konnte sie ihn im flackernden Feuerschein deutlich sehen.
Er ist es, dachte sie mit weit aufgerissenen Augen. Aber er kann doch nicht real sein!
Es war wie eine wahr gewordene Lagerfeuergeschichte, die niemand je wirklich glauben würde. Einer der stadtbekannten Säufer hatte sie und ihre Freunde einmal vor der Tankstelle belästigt und ihr vorausgesagt, dass sie alle durch Cyrus Hoyts Hand den Tod finden würden.
»Hoyt wird euch in Stücke hacken. Ihr werdet schon sehen.«
Doch Hoyts Treiben war nur eine gruselige Geschichte, die man sich am Lagerfeuer erzählte. Eines Morgens hatte Melanie sogar ein Gedicht darüber als Graffiti an der Koje eines Jungen gefunden, aber kaum Zeit gehabt, es zu lesen, bevor Dugan ihr auch schon laut brüllend befohlen hatte, es zu überstreichen.
Cyrus Hoyt, der Schlächter, geht in den Wäldern um.
Er kommt beim Schein des Feuers, doch du weißt nicht warum.
Wenn du ihn siehst, ist es zu spät – dann hackt er dich entzwei.
Zertrümmert die Knochen, zerfetzt das Fleisch, und hat noch Spaß dabei.
Bill hatte Mr. Dugan beim Abendessen einmal nach dieser Geschichte gefragt. »Mach dir deswegen keine Gedanken«, hatte er geantwortet. »Das ist nur eine dumme Legende, die sich die Leute im Ort vor ein paar Jahren zusammenfantasiert haben, nachdem zwei Kinder vermisst wurden. Es waren Mütter und Väter, die davon ablenken wollten, hundsmiserable Eltern zu sein und sich stattdessen diese Spukgeschichte ausgedacht haben.«
Doch diese Geschichte schien nun plötzlich ein Eigenleben entwickelt zu haben. Sein Kopf war unter einer Schweißer-Maske verborgen, eine nichtssagende Stahlhaube, die sein komplettes Gesicht bedeckte. Das dunkle, fleckige Visier verbarg seine Augen, und sein Atem drang irgendwie gedämpft, doch gleichzeitig verstärkt darunter hervor.
Seine Kleidung schien aus einer Militärkluft zu bestehen: eine dicke abgenutzte Manteljacke und eine Hose, die entweder schwarz oder so voller Schmutz war, dass man ihre eigentliche Farbe nicht mehr erkennen konnte. In seiner Faust hielt er ein gigantisches Jagdmesser voller schartiger Zähne. Er musterte sie ausgiebig und wiegte dabei seinen Kopf hin und her.
Dann nickte er ihr auf einmal zu, als wolle er sie auffordern, den ersten Schritt zu tun.
Melanie fühlte sich wie ein in die Enge getriebenes Tier. Während ihre Hände fieberhaft nach ihrem Messer tasteten, wurde sie sich plötzlich einer Sache ganz deutlich bewusst: Ich habe mich hier drin selbst eingesperrt.
Aber ihr blieb keine Zeit mehr, eine der Barrikaden zu entfernen, und hinter der Schulter des Killers verhöhnte sie praktisch die Vordertür.
Seine schweren Arbeitsstiefel machten jetzt einen Schritt auf sie zu, und Melanie sprang hastig mit dem Messer in ihrer zittrigen Hand auf.
Der Killer hob die Klinge hoch über seinen Kopf. Er war um einiges größer als sie – bestimmt über einen Meter achtzig – und würde daher kein Problem damit haben, sie zu treffen.
Melanie wurde erst jetzt bewusst, dass sie zurückgewichen war, und spürte die Wand der Hütte an ihrem Rücken. Es gab also keinen Ausweg mehr.
Er war nun sehr nahe und auf seiner Jacke konnte sie nasse Blutflecke sehen – tropfende Überreste ihrer Freunde. Selbst die Schweißer-Maske war damit bedeckt. Ein paar angetrocknete Fleischfetzen waren ebenfalls auf dem Stahl zu sehen. Der Mann stank nach Schweiß, Abfall und Verwesung.
Der Drang, sich zu übergeben, war unglaublich stark, aber sie kämpfte dagegen an, während sie die Hitze des Feuers unter ihrem Hintern spüren konnte. Dann kam ihr plötzlich der Schürhaken in den Sinn. Er musste noch immer auf dem Holzscheit liegen, den sie kurz zuvor ins Feuer geworfen hatte.
Der Killer war jetzt nur noch ein paar Zentimeter von ihr entfernt und sein Atem klang seltsam hechelnd. Die Messerklinge tanzte funkelnd im Feuerlicht und schwebte immer noch hoch über seinem Kopf.
Melanie warf ihr Messer direkt in sein Gesicht. Es prallte zwar von seiner Maske ab, überrumpelte ihn aber so sehr, dass er stehen blieb, zumindest für einen kurzen Moment. Doch das war Zeit genug für sie, um sich auf den Boden fallen zu lassen, ihren Arm auszustrecken und den Schürhaken aus dem Feuer zu ziehen.
Der Killer kam jetzt wieder auf sie zu, um ihr das pastellfarbene Camp-Forest-Grove-T-Shirt und danach ihre Eingeweide aufzuschlitzen.
Ihr blieb jetzt nur noch eine Hundertstelsekunde Vorsprung, und diese nutzte sie dafür, mit dem Schürhaken in seinen Oberschenkel zu stechen. Der Metallstab vergrub sich zischend in seinem Bein. Er stieß einen gedämpften Schmerzensschrei aus, taumelte zurück und presste sich eine zitternde Hand auf die Wunde.
Sie rappelte sich auf, griff nach dem Messer und rannte dann, so schnell sie konnte, zur Tür. Mit dem kleinen Messer zerschnitt sie das Seil, das um den Türknauf gebunden war, und schob sich dann zur Tür hinaus und hinein in den Regen. Sie war zu verängstigt, um zurückzusehen.
Sie hatte keine Chance, mit einem Auto zu entkommen, denn Billys Schlüssel steckten immer noch in seiner Hosentasche. Sie hätte sich ohrfeigen können, nicht früher daran gedacht zu haben. Jens Schlüssel befanden sich in der Hütte der Mädchen, aber dorthin würde sie ganz bestimmt nicht wieder zurückkehren. Sie hatte sowieso keine Zeit, um nach ihnen zu suchen – nicht, wenn ihr ein Killer auf den Fersen war.
Das gesamte Camp-Gelände war schlammig vom Regen und machte es ihr unmöglich, ihre Spuren zu verwischen. Das Einzige, was sie tun konnte, waren erratische Bewegungen, in der Hoffnung, Cyrus Hoyt damit abschütteln zu können.
Sie stapfte durch das gefährliche Gelände, bis die Küche nicht mehr weit entfernt war, und dachte dabei keuchend über ihre nächsten Schritte nach. Es war die Sache nicht wert, in einer anderen Hütte gefangen zu sein, ganz besonders dann nicht, wenn es dort womöglich noch weitere geheime Zugänge gab, von denen sie nichts wusste.
Stattdessen schlich sie sich um das Gebäude herum und hastete dann weiter an den Waldrand, zumindest weit genug, damit ihre Spuren in diese Richtung führten. Danach umrundete sie das schlammige Gelände einmal komplett und kehrte in einem Bogen zum See zurück. Womöglich würde er ihre Spur hinunter zum Wasser finden, aber wenn er zuerst in der Küche oder am Wald nach ihr suchte, könnte ihr das genau die Zeit verschaffen, die sie brauchte.
Der Lake Forest Grove lag ruhig da und ein dünner Nebelhauch stieg wie weiße Wollfäden vom See auf. Drei Kanus lagen am Ufer. Sie ließ das Messer in das erste davon fallen, schob die anderen beiden aber ebenfalls ins Wasser. Dann kehrte sie zu dem verbliebenen Boot zurück, stieg ein und paddelte weit raus.
Melanie hörte nicht eher auf zu paddeln, bis das Camp nicht mehr zu sehen war, und auch dann ruderte sie einfach immer weiter. Das Ufer verschwand mehr und mehr im Nebel. Als der Regen schließlich aufhörte, stieß sie einen vorsichtigen Seufzer der Erleichterung aus.
Es war nicht schwer, sich vorzustellen, wie der Killer gerade von Gebäude zu Gebäude tobte und seine Raserei mit der Erkenntnis, dass sie ihn hereingelegt hatte, immer mehr zunahm. Irgendwann würde er das Ufer absuchen, aber was würde er schlussfolgern, wenn alle drei Kanus fehlten?
Ihr Mut sank. Sie hatte ihm zwar die Möglichkeit genommen, sie zu verfolgen, dafür aber praktisch einen riesigen Pfeil in den Sand gemalt.
Niedergeschlagen beobachtete sie die andere Seite des Sees. Hoyt kannte die Gegend extrem gut und war vielleicht schon auf dem Weg hinüber. Was, wenn er dorthin fuhr oder zumindest wusste, wo er auf sie warten musste? Sie wischte sich die Tränen aus ihren Augen und rechnete unwillkürlich damit, dass er plötzlich zwischen den Wasserfarnen auftauchte, mit ausgestreckten Armen, an denen das Blut ihres Freundes klebte.
Nun fühlte sich Melanie noch angreifbarer als zuvor. Jeder Schlag ihres Paddels glich für sie dem lauten Ping eines Radars. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Hoyt sie hören würde. Ihre größte Chance bestand darin, ans Ufer zu gelangen und dann wegzulaufen. Der Killer war jetzt zwar verwundet, aber das würde ihn bestimmt nicht aufhalten, und wenn er erst mal herausgefunden hatte, dass sie in einem Kanu geflohen war, würde er bestimmt nicht lange raten müssen, wohin sie damit gefahren war.
Zumindest deswegen war der Nebel gut.
Sie beschloss, die Richtung ein wenig zu ändern und etwas nach rechts abzudrehen, damit sie den See diagonal überqueren konnte.
Plötzlich erblickte sie eines der anderen Kanus.
Das war doch unmöglich! Wie sollte es von allein soweit hinausgetrieben sein?
Dennoch schwamm es zu ihrer Rechten im Wasser, nur wenige Meter hinter ihr und kam näher.
Melanie tauchte das Paddel ins Wasser, doch das verirrte Kanu hielt weiterhin auf sie zu. Ihr Bizeps verkrampfte sich vor Anstrengung, trotzdem ruderte sie noch schneller.
Das leere Kanu stieß jetzt gegen ihres und sie fiel wegen des Aufpralls nach vorn. Das Ruder glitt ihr aus der Hand. Sie kreischte erschrocken auf. Mit beiden Händen griff sie ins Wasser und suchte danach, aber es war bereits versunken.
»Verdammt!«, schrie sie und überlegte kurz, den Rest des Weges hinüberzuschwimmen.
Doch dann explodierte plötzlich der Rumpf unter ihren Füßen.
Eine Seite des Kanus zersplitterte, als sich auf einmal eine Axt in den Boden grub. Melanie reagierte instinktiv und riss ihre Beine in die Luft, um dem Hieb zu entgehen. Das Boot füllte sich beinahe sofort mit Wasser, und Melanies Gewicht sorgte dafür, dass es kenterte und sie ins Wasser fiel … direkt in die Arme des Killers.
Beigegraue Arme schlangen sich um ihre Hüften und zogen sie unter Wasser.
Sie schrie panisch und verschluckte sich an dem Wasser, das in ihre Lungen schoss. Sie ruderte wild mit den Armen herum. Ihre Hand bekam irgendwann den unteren Rand der Schweißer-Maske zu fassen und riss sie ihm vom Kopf.
Sein bärenstarker Griff wurde daraufhin noch fester, die Maske fiel ihr aus der Hand und versank in der Finsternis. Er hielt ihr jetzt den Mund zu, was bedeutete, dass sie unweigerlich ersticken würde. Ihr Bauch und ihre Brust wurden jetzt unter erdrückenden Schmerzen ebenfalls zusammengepresst durch seine gewaltigen Unterarme. Sie spürte seine rauen und verunstalteten Gesichtszüge unter ihren Fingern, als sie sich verzweifelt aus seiner Umklammerung zu winden versuchte.
Vor lauter Verzweiflung rammte sie ihm schließlich ihren Daumen direkt ins Auge.
Er stieß ein schmatzendes, gellendes Jaulen aus und ließ sie los.
Melanie schwamm zur Wasseroberfläche hinauf und sog tief die Luft ein, kaum dass sie diese durchbrach. Dann schwamm sie hastig. Das Ufer war nicht mehr weit entfernt – nur noch drei Meter vielleicht – und sie schaffte es, sich an Land zu ziehen und wie ein Tier durch den Schlamm zu kriechen. Sie war zu schwach, um aufzustehen.
Ohne eine Waffe blieb ihr nichts weiter übrig, als zu hoffen, dass der Killer ihr nicht folgen würde … dass er verwundet genug war, um die Hetzjagd abzubrechen. Die Stadt war acht Kilometer entfernt, was bedeutete, dass sie nur eine Stunde brauchen würde, wenn sie es wieder auf die Beine schaffen würde.
Ich muss aufstehen!
In diesem Moment schossen zwei Hände aus dem Wasser, schlossen sich wie Schraubstöcke um ihre Knöchel und zogen sie zurück ins trübe Nass.
Ihren letzten Atemzug nutzte sie dafür, um zu schreien und einen Hilferuf auszustoßen. Eine seiner Hände ließ sie gerade lange genug los, um ihr einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf versetzen zu können. Ihre Sicht verschwamm bereits, als sie ein weiterer Schlag traf, und dann noch einer – jeder davon begleitet von einem unmenschlichen Grunzen.
Sie trat verzweifelt mit ihrem freien Bein nach ihm, aber er wehrte den Tritt mühelos ab und zog sie weiter zu sich. Dann rollte Hoyt sie auf den Rücken, stieg aus dem schlammigen Wasser und fixierte sie mit einem Knie in ihrem Bauch auf ein paar losen Ästen, die am Ufer lagen. Eine weißliche Flüssigkeit tropfte aus seiner blutigen Augenhöhle und landete auf ihrer Wange, während er sie mit endlosen Schlägen traktierte und dabei wahnsinnig kicherte.
Ihre Hände krallten und kratzten nach seinem Gesicht, doch ohne Erfolg. Er stieß sie einfach beiseite. Seine Schläge wurden härter und schmerzten immer mehr.
Sie tat deshalb das Einzige, was sie noch tun konnte. Sie stieß sich vom Boden ab und schnappte mit ihren Zähnen nach seiner Nase. Eigentlich hatte sie seinen Hals treffen wollen, hatte seine Bewegungen aber falsch eingeschätzt. Ohne weiter darüber nachzudenken, biss sie mit einem wilden Knurren zu.
Ihre Zähne sanken in sein Fleisch und ihr Mund füllte sich mit dem Blut des Fremden. Unbeirrt presste sie ihre Kiefer zusammen und zermahlte den dünnen Steg aus Knorpel so leicht, als würde sie an einem Hühnerbein kauen. Die Nase zerbrach unter einem lauten Knacken und der Killer zuckte heulend zurück.
Er sackte in den Morast, kroch ein paar Schritte rückwärts und bedeckte dann mit den Händen sein Gesicht.
Melanie zog unauffällig einen der abgebrochenen Äste aus der feuchten Erde. Mit einem leisen Ploppen löste er sich aus dem Matsch und sie umklammerte ihn wie einen Baseballschläger.
Der Killer hatte gerade erst seine Hände von der Nase gelöst, als der Ast auch schon gegen seinen Kopf krachte und das Holz zersplittern ließ. Melanie holte sofort ein zweites Mal aus, und dann ein drittes Mal … solange, bis sein Gesicht wie Hackfleisch aussah. Der Ast traf sein Fleisch immer wieder mit einem feuchten Klatschen und Blut regnete auf das morastige Ufer. Schließlich sackte er mit einem letzten schwachen Seufzen aus seinem verstümmelten Mund zusammen und fiel vornüber.
Zufrieden, weil er sich nicht mehr rührte, taumelte Melanie davon.
Es war schwer zu sagen, wie viel Zeit seit ihrer Flucht vergangen war, aber irgendwann wich das Dickicht einer Straße. Ihr Kopf war schwer und das Adrenalin, das ihr das Leben gerettet hatte, war so gut wie aufgebraucht.
Die Sohlen ihrer Sneaker schlurften über den Asphalt. Ihr Verstand war beinahe genauso erschöpft wie ihr Körper, und das Einzige, was sie noch antrieb, war der Gedanke daran, dass sie noch nicht weit genug von diesem Monster entfernt war.
Sie war sich sicher, dass jede Minute jemand vorbeigefahren kommen würde.
Doch aus einer Minute wurden viele. Erst zehn, dann zwanzig. Die Nacht war weiterhin still und die Straße leer, und ihre Gedanken wanderten unwillkürlich an hoffnungslose Orte. Sie war verloren und sie würde hier draußen sterben.
Eine wahre Explosion aus roten und blauen Lichtern ließ sie zusammenzucken, aber sie beruhigte sich sofort wieder, als sie erkannte, dass die Lichter zu einem Streifenwagen gehörten, der vor ihr angehalten hatte.
»Geht es Ihnen gut, junge Dame?«
Melanie brach zusammen und verfiel in ein unkontrolliertes Schluchzen. »Sie sind alle tot!«, rief sie weinend, als der Polizeibeamte auf sie zukam.
»Ist schon okay«, sagte er. »Ich bringe Sie erst einmal rüber zu meinem Wagen, und dann erzählen Sie mir ganz in Ruhe, was passiert ist.«
Und dann war sie gerettet … einfach so.