Читать книгу HOYT - DER KILLER VON FOREST GROVE - Matt Serafini - Страница 7
Kapitel 3
ОглавлениеBis nach Forest Grove waren es vier Stunden Fahrt.
Melanie nahm die I-290 über Worcester, bis diese zur I-84 wurde.
Doch je mehr ihre Rückkehr dorthin Realität wurde, desto mehr wuchs in ihr das Gefühl, einen ungeheuren Fehler zu begehen.
Sie vermisste Lacey. Die Katze blieb solange bei Riley und deren Ehemann, trotz der Allergie, unter der Aaron litt. Der alten Dame würde es wohl kaum etwas ausmachen, umzuziehen. Ihre Zuneigung war nämlich durchaus käuflich, solange es einen warmen Schoß gab, in dem sie sich einrollen konnte. Cyrus Hoyt konnte bei Melanie einbrechen und ihr ein Bowiemesser in den Schädel rammen … solange er dabei eine Dose Friskies öffnete, würde es die Katze kein Stück kümmern.
Die Rastlosigkeit des Stadtlebens mit dem oft unnötigen Verkehr, den hektischen Spurwechseln und dem grundlosen Hupen wich nach und nach einem ländlichen Stillleben mit vereinzelten Häusern, sporadischen Fahrzeugen und hin und wieder auch mal einem Geschäft. Das Grauen, das es für sie mit sich brachte, war allerdings unausweichlich.
Melanie hasste den Sommer, denn seine unvermeidliche jährliche Wiederkehr ließ jedes Jahr aufs Neue die bange Frage in ihr aufsteigen: Wird er dieses Jahr zurückkehren und es zu Ende bringen? Aktivitäten im Freien und bei mildem Wetter übten daher keinerlei Anziehungskraft auf sie aus und sie zog überfüllte Gehsteige jederzeit Wanderwegen als Ausflugsziel vor.
Als Teenager war ihr die Stadt Forest Grove noch viel weiter entfernt vorgekommen. Es war ein abgelegener Ort, versteckt vor der restlichen Welt, dessen Bewohner unsagbaren Gräueltaten ausgeliefert gewesen waren und Rettung von außerhalb unmöglich gewesen war, und genau dieser Ort rückte nun mit jedem verstreichenden Kilometer immer näher.
Eine kurvige Abfahrt vom Highway führte sie direkt auf eine überwucherte Landstraße voller Schlaglöcher. Sie kam jetzt an einer zusammengefallenen Scheune vorüber, die nur wenige Meter neben der Straße stand. Ein Haufen zerbrochener Balken war alles, was noch von ihr noch übrig war. Ein uralter Pick-up-Truck, dessen Ladefläche voller Hühnerkäfige war, kam ihr aus der anderen Richtung entgegen getuckert und hupte ohne ersichtlichen Grund.
Vielleicht war das ja ihr persönliches Empfangskomitee.
Melanie versuchte sich den Haufen Geld vorzustellen, den ihr der Verlag sozusagen als Wiedergutmachung für ihr wachsendes Unbehagen angeboten hatte. Es erschien ihr immer noch unglaublich, dass jemand wirklich an ihrer Geschichte interessiert sein könnte. Wer erinnerte sich schließlich nach all den Jahren schon noch an Forest Grove, außer denen, deren Leben dieses Ereignis für immer verändert hatte?
Die Stadt selbst erinnerte sich aber offenbar noch sehr gut an alles, denn die Reaktion auf Hoyts Massaker war regelrecht bizarr gewesen. Nach den Morden hatte sich der Stadtrat zusammengefunden und beschlossen, jegliche Aktivitäten, bei denen sich größere Gruppen von Kindern oder Jugendlichen zusammenfinden würden, mit sofortiger Wirkung zu verbieten. Tanzveranstaltungen waren seitdem tabu, Partys wurden mit heftigen Strafen geahndet, und Sportveranstaltungen wurden überwacht wie seinerzeit in Berlin, hinter dem Eisernen Vorhang.
Der Gedanke daran, dass ein Ereignis, in das sie selbst involviert gewesen war, zu einer Art Gestapo-Polizeistaat in dieser Stadt geführt hatte, war einfach unvorstellbar für sie. Nach allem, was sie bislang gehört hatte, hatte sich das heutige Forest Grove nur wenig verändert. Es war immer noch die gleiche Kleinstadt und erinnerte an die aus Footloose, nur auf Steroiden.
Was ihr an der Übereinkunft mit dem Verlag ganz besonders nicht gefiel, war, dass diese darauf beharrten, dass sie diesen Trip dazu nutzen sollte, die Werbetrommel für das Buch zu rühren. Sie wollten sogar einen Tag mit einem professionellen Fotografen arrangieren, um ein paar authentische Werbefotos schießen zu können, und allein der Gedanke daran, sorgte dafür, dass sie sich ganz schmutzig fühlte.
Alles an dieser Sache klang so ungeheuer wichtigtuerisch, und Melanie hatte es schon immer gehasst, im Scheinwerferlicht zu stehen. Dass sie nach Forest Grove zurückkehren musste, war schon schlimm genug, aber diese furchtbare Sache auch noch zu vermarkten? Es war einfach nicht in Ordnung, den Tod von Jennifer und Bill – oder der restlichen Opfer – nun für Werbezwecke auszuschlachten. All diese Menschen hatten Besseres verdient. Melanie hatte immer darauf beharrt, dass ihre Memoiren das Andenken an diese Personen ehren sollte, aber dann hatte ihr Bedürfnis, es Dennis heimzuzahlen, irgendwie die Oberhand über ihre Wertvorstellungen und ihre geistige Gesundheit gewonnen.
Die Versicherung, mit diesem Buch einen absoluten Bestseller auf den Weg zu bringen, hatte es irgendwie erleichtert, sich zu dieser ganzen Sache überreden zu lassen. Besonders dann, wenn sie es später gegen Dennis verwenden könnte. Denn es trotz seiner Bemühungen, ihr Steine in den Weg zu legen, im Leben zu etwas zu bringen, war ein mächtiger Anreiz für sie geworden.
Das GPS sagte ihre Ankunft in Forest Grove in vierzig Minuten voraus, was bedeutete, dass sie noch einiges an ländlichem Idyll hinter sich bringen musste. Die Fahrt war extrem eintönig, lauter Weiden und Getreidehalme, mehr nicht.
Doch der Schein trügt.
Flackernde rote und blaue Lichter blitzen jetzt in ihrem Rückspiegel auf, gefolgt von der gleichzeitig ertönenden Sirene. Einer von Forest Groves Gesetzeshütern klebte ihr offenbar gerade an der Stoßstange, und zwar dicht genug, dass Melanie sogar den Fahrer erkennen konnte, der sie durch seine Fliegerbrille ausdruckslos anstarrte.
Sie war wohl unwillkürlich etwas zu sehr aufs Gas getreten und in ihrem verrückten Drang, dorthin zu kommen, mit sechzig Meilen pro Stunde dahingeschossen. Allerdings waren das nur dreißig über dem Tempolimit.
Melanie nahm den Fuß sofort vom Gas und fuhr an den Straßenrand. Farnwedel rutschen von ihrer Stoßstange und bogen sich unter die Motorhaube, als sie anhielt. Mit zitternder Hand griff sie nach dem Handschuhfach, um ihre Zulassung herauszukramen.
Der Cop tauchte jetzt vor ihrem Fahrerfenster auf. Seine Fingerknöchel klopften gegen die Scheibe, während sie noch nervös in dem vollgestopften Alles-andere-als-ein-Handschuhfach herumwühlte.
Mit einem Tastendruck ließ sie die Scheibe herunterfahren, vermied es aber, den Polizeibeamten anzusehen.
»Da waren wir aber ein wenig schnell unterwegs, Ma’am. Darf ich fragen, wo es brennt?«
»Es tut mir sehr leid«, sagte sie hastig. »Es brennt nicht, ich … war nur in Gedanken.«
Der Polizist nahm seine Brille ab und schob sich einen der Bügel in seine Brusttasche, um sie dort einzuhängen. Dann legte er seine großen Hände auf den Fensterrahmen des Wagens und ging in die Hocke, um auf Augenhöhe mit ihr zu gelangen. Etwas zu aufdringlich für ihren Geschmack, aber das hier war bestimmt nicht der richtige Zeitpunkt, um sich darüber zu beschweren.
»Miss … Holden, habe ich recht?«
Bestimmt sah sie absolut schrecklich aus. Aufgeschreckt und wahrscheinlich mehr als nur ein bisschen verwirrt. Ihr Gesicht fühlte sich heiß an, und sie musste nicht in den Spiegel sehen, um zu wissen, dass ihre Wangen gerade wie frisch gepflückte Kirschen leuchteten.
Der Officer sprach nun weiter, aber sein Gesichtsausdruck entspannte sich mehr und mehr. »Wir haben Sie schon erwartet. Ich bin Chief Brady. Nathan Brady. Der Verlag in New York hat das Hotel, in dem sie wohnen werden, kontaktiert und sich bereits um die Rechnung gekümmert. Es hat daher nicht lange gedauert, bis sich herumgesprochen hat, dass Miss Holden in unseren kleinen Winkel der Welt zurückkehrt.«
»Ich verstehe.« Diese Erklärung ließ Melanie aufatmen, aber das Problem, dass sie zu schnell gefahren war, bestand leider immer noch … und dass sie dabei ausgerechnet vom Polizeichef persönlich dabei erwischt worden war. »Ich bin wegen dieser Reise ziemlich im Eimer, ehrlich gesagt. Ich schätze mal, die Angst hat mich in einen Raser verwandelt.«
»Ich verstehe, Miss. Oh, und äh … willkommen zurück. Ich hoffe, unsere Stadt wird in Ihrem Buch wohlwollend erwähnt. Obwohl, angesichts des Themas wird das wohl eher nicht der Fall sein, was?«
»Wird das denn ein Problem werden, Chief?«
»Nicht für mich.« Mit dem Kinn deutete er die Straße entlang. »Für ein paar von denen? Vielleicht. Aber ich bin mir sicher, dass Sie nachvollziehen können, dass die meisten hier von Ihrer Rückkehr nicht allzu begeistert sind. Hier leben aber auch eine Menge anständiger Leute, das kann ich Ihnen versichern. Sie wollen einfach nur vergessen, was in ihrer kleinen Stadt einmal passiert ist.«
»Gelingt ihnen das denn?«, fragte sie. »Ich könnte mir vorstellen, dass es bei den vielen Regeln und Vorschriften, die auf dieses Ereignis zurückzuführen sind, schwierig ist, das Geschehene zu verdrängen.«
»Viele von uns versuchen ihren Teil dazu beizutragen, die Einschnitte dieser Vorschriften zu mildern, und mal ganz unter uns gesprochen, ich glaube, es bewirkt nichts weiter, als die Kids dafür zu bestrafen, hier geboren zu sein.«
Der Chief schien offen und ehrlich zu ihr zu sein, und Melanie wusste das zu schätzen. Allerdings schien er ein wenig zu jung zu sein, um für die Sicherheit in Forest Grove zuständig zu sein. Er war garantiert kaum älter als dreißig. Aber vielleicht war das auch gar nichts Ungewöhnliches. Mit Kleinstadt-Polizisten hatte sie kaum Erfahrung und vermutete, dass ein jüngerer Mann für die zu bewältigenden Aufgaben bestimmt besser geeignet war, und es war ganz nebenbei auch viel angenehmer, als von einem alten, in seinem Trott festgefahrenen Kauz an den Stadtrand eskortiert zu werden.
Außerdem sah er gut aus, auch wenn die bloße Feststellung schon dafür sorgte, dass sie sich wie einer ihrer hoffnungslosen Studenten fühlte. Mit seinen durchdringenden braunen Augen und seinem Kurzhaarschnitt hätte er amerikanischer nicht sein können, und sein kantiges Kinn und seine breiten Unterarme verrieten ihr, dass er trainierte. Er war ein Mann der Tat, so viel stand fest.
»Nur damit Sie es wissen, ursprünglich wollte ich Ihnen einen Strafzettel verpassen. Ich dulde es nämlich normalerweise nicht, wenn die Leute hier zu schnell fahren, und dann auch noch dreißig zu viel. Aber wir tun alle schließlich nur unseren Job, und da ich den wenig enthusiastischen Empfang, den sie von einigen hier bekommen werden, nicht verhindern kann, kann ich wenigstens hier ein Auge zudrücken. Auf diese Art fällt ihr zweiter Eindruck unserer Stadt vielleicht nicht ganz so verheerend aus.«
Melanie war erleichtert, als er sich wieder aus ihrem persönlichen Freiraum zurückzog. »Ich weiß Ihre Nachsicht wirklich zu schätzen«, sagte sie mit einem Lächeln. »Ich werde auch bestimmt keine Schwierigkeiten machen. Ich bleibe nur lange genug hier, um meine Erinnerungen wieder auf Vordermann zu bringen, und dann bin ich auch schon wieder weg.«
»Nehmen Sie sich ruhig so viel Zeit, wie Sie wollen, Ma’am.« Er schenkte ihr ein einladendes Grinsen und wandte sich dann zum Gehen. »War nett, Sie kennengelernt zu haben«, sagte er und kehrte zu seinem Wagen zurück.
Mit einem Seufzen startete Melanie den Motor und bog wieder auf die Straße, sorgfältig darauf bedacht, die dreißig Meilen pro Stunde nicht mehr zu überschreiten. Brady machte sich zwar nicht die Mühe, ihr zu folgen, aber sie hatte bereits einen ersten Eindruck hinterlassen. Ob beabsichtigt oder nicht, er hatte es geschafft, dass sie sich wegen dieser Sache jetzt sogar noch elender fühlte als vorher. Nun musste sie sich auch noch Sorgen darüber machen, dass sie mit ihrer Anwesenheit hier womöglich die Einheimischen verärgerte.
Aber was habe ich erwartet? Dass sie den roten Teppich für mich ausrollen?
Melanie erwog kurz, Schadensbegrenzung zu betreiben und sofort umzukehren. Ihr Herz hatte den ganzen Tag nicht aufgehört, wie wild in ihrer Brust zu hämmern, und nun war sie auf dem Weg zu einem Ort, an dem man sie nicht haben wollte. Falls Forest Grove sich jemals für seine Rolle in dem Massaker schuldig gefühlt haben sollte, dann hatte es seine Reue schon vor langer Zeit gegen Feindseligkeit eingetauscht.
Aber dachten die Menschen hier jemals darüber nach, dass das Leben einer Siebzehnjährigen an diesem Tag unwiderruflich verändert worden war? Oder, dass die anderen ihre Leben nur wegen eines durchgeknallten Irren verloren hatten, von dem sie nicht wusste, ob er sich noch immer irgendwo da draußen herumtrieb?
Aber was erwartete sie von einer Stadt, die es vorgezogen hatte, ihn mit Lagerfeuergeschichten unsterblich zu machen, anstatt aktiv etwas gegen ihn zu unternehmen? Natürlich würden die Einheimischen sie einzig und allein als Nutznießerin des Ganzen ansehen.
Es machte sie so unglaublich wütend zu wissen, dass die Leute in diese Stadt so von ihr dachten. Wenn es Melanie tatsächlich nur darum gegangen wäre, Geld aus der Sache zu schlagen, hätte sie doch schon vor Jahren ein Buch darüber schreiben können. Damals, 1989, war sie sogar zu Oprah eingeladen worden, aber zu dieser Zeit war es ihr am schlechtesten gegangen. Sie hatte schlaflose Nächte verbrachten, Bilder schmutziger Schweißer-Hauben, hatten sich in ihren Verstand gegraben und unkontrollierbare hysterische Anfälle ausgelöst. Das Überlebenden-Syndrom. Es hatte unzählige Therapiesitzungen gegeben und immer wieder Aufenthalte in einer Anstalt.
Damals hatte sie einfach nur verzweifelt versucht, das alles zu vergessen, und das versuchte sie auch heute noch. Der Drang, es Dennis Morton so richtig zu zeigen, bildete allerdings nun ein dramatisches Gegengewicht zu den Jahrzehnten der Angst. Ihre Karriere war in all den Jahren ihre einzige Ablenkung gewesen. Sie hatte ihre Tage mit Gedanken und Sorgen angefüllt, anstelle der Geister ermordeter Freunde und irrer Killer. Doch jetzt würde sie verbissen darum kämpfen müssen, nicht den Verstand zu verlieren.
Laut ihrem GPS lag Forest Grove nur noch zehn Kilometer weit entfernt … zu nah, um jetzt noch umzukehren. Sie schluckte schwer und trat wieder aufs Gas – entschlossen, das Ganze zu Ende zu bringen.
***
Nate sah, wie der Buick LaCrosse davonfuhr.
Wenigstens fährt sie einen amerikanischen Wagen, dachte er.
Dabei gab es gar keinen wirklichen Grund, so gehässig zu sein. In Melanie Holdens Leben hatte sich eine Tragödie ereignet, keine Frage, aber sie selbst hatte zugelassen, von etwas definiert zu werden, das bereits unglaublich viele Sommer zurücklag. Ihre Ängstlichkeit und ihre bebende Stimme, wenn sie sprach, offenbarte, dass sie eine Frau war, die sich vor ihrem eigenen Schatten fürchtete. Manchmal musste man sein Schicksal eben einfach akzeptieren und den Ballast abwerfen.
Aber wahrscheinlich war das leichter gesagt als getan, wenn man durch so eine Hölle gehen musste, wie dieses arme Mädchen sie hatte erleiden müssen. Er hatte bei seiner Arbeit schon Menschen erlebt, die von sehr viel weniger schlimmen Ereignissen traumatisiert worden waren.
Nate griff jetzt nach dem schmalen Walkie-Talkie neben seiner kleinen Computerkonsole, schaltete es auf die Wagen-zu-Wagen-Frequenz, hielt aber überraschend inne, als er eine Unterhaltung mithören konnte.
»Ich habe erst heute Morgen mit Lloyd gesprochen. Er hat gesagt, dass wir vollen Happy-Hour-Rabatt aufs Bier bekommen. Alles, was wir dafür tun müssen, ist, diesen beschissenen Mietern auf der anderen Straßenseite seines Hauses zu sagen, dass sie nachts ihre gottverdammten Fressen zu halten haben.«
Diese Stimme gehörte eindeutig Alex Johnson, seinem jüngsten Kollegen. Nate konnte es kaum erwarten zu hören, mit wem er da gerade sprach.
»Hab ich schon zweimal versucht. Diese elende Schlampe sitzt einfach nur auf ihrer überdachten Terrasse, säuft literweise Budweiser, zieht sich eine Newport nach der anderen rein und beschimpft lautstark ihre Kinder übers Telefon. Ich schätze mal, wir werden sie ein wenig härter rannehmen müssen, damit Lloyd uns einen großzügigen Rabatt auf ein paar kühle Blonde gibt. Ach verdammt, ich würde sie sogar einsperren, wenn Lloyd noch ein paar Buffalo-Wings drauflegt.«
Das war Sergeant Steve Maylam. Was für eine Enttäuschung. Er war die Art von Kerl, die immer auf besten Freund machte, wenn man sich im selben Raum mit ihm befand, aber offenbar auch die Art von Kerl, die glaubte, dass man die Dienstmarke nur trug, um sich damit irgendwelche Sonderkonditionen erschleichen zu können. Als Nate diesen Job angenommen hatte, hatte er gewusst, dass es schwierig werden könnte. Genaugenommen wäre nämlich Maylam an der Reihe gewesen, den alten Chief abzulösen, aber das bedeutete andererseits auch, dass dieser es eigentlich besser wissen müsste, anstatt sich wie ein blutiger Anfänger im ersten Jahr aufzuführen.
Nates persönliches Handy brummte nun auf dem Armaturenbrett, doch er ignorierte es.
»Ich mag die Art, wie du denkst.« Johnson lachte. »Wir werden uns in den nächsten Monaten schon was ausdenken. Ich will meine Sonntage nämlich in Lloyds Bar verbringen, sobald die Pats wieder spielen und wenn ich das tun kann, ohne dass dabei die Hälfte meines Gehaltschecks draufgeht, umso besser.«
Nates Faust schloss sich noch fester um das Funkgerät, als er sagte: »Ich würde nicht damit rechnen, viel von der Saison mitzubekommen. Sie werden nicht nur keine Extra-Gefallen für Lloyd Henderson tun, sondern haben sich gerade sämtliche Sonntagnachmittagsschichten eingehandelt, und zwar wirksam ab dem 1. September. Was glauben Sie eigentlich, welchen Eindruck das macht, wenn sich zufällig ein Zivilist auf diese Frequenz verirrt hätte und Ihre kleine Unterhaltung mitgehört hätte?«
»Es tut mir leid, Chief«, antwortete Johnson schnell und entschuldigend. »Ich weiß, das muss sich nicht gut angehört haben, aber …«
»Es klang furchtbar, Officer. Wir besprechen das Ganze, wenn ich wieder in der Stadt bin.«
»Ja, Sir.«
Maylam hingegen schwieg und stahl sich einfach so aus dem Gespräch.
Nate ließ das Funkgerät auf den leeren Sitz neben sich fallen und warf jetzt einen Blick auf die eingegangene Textnachricht auf seinem Handy. Trish wollte wissen, ob er zum Abendessen zu Hause sein würde. Stöhnend warf er das Handy beiseite. Nicht, dass er seine Frau nicht liebte und anbetete, aber wieso zur Hölle war sie immer so engstirnig, wenn es darum ging, zu verstehen, wie die Dinge laufen mussten?
Er hatte sich noch immer nicht an seine Arbeit in Forest Grove gewöhnt, und die Ankunft von Miss Bestseller verkomplizierte die Dinge nur noch mehr. Es war ein Balanceakt. Auf der einen Seite musste er dem Ort beweisen, dass er ein würdiger Nachfolger ihres geliebten Ronald Sleightons war, doch auf der anderen Seite musste er auch die Frau zufriedenstellen, die möglicherweise die Reputation dieser Stadt ein zweites Mal in den Dreck ziehen konnte.
Schuldgefühle nagten an ihm, als er einen Gang einlegte und zurück in die Stadt fuhr. Trishs Frage würde so lange unbeantwortet bleiben müssen, bis er es selbst wusste.
Herrgott, dachte er. Einer dieser Jungs hätte das Empfangskomitee bilden und Miss Holden in Desirees Bed & Breakfast begrüßen sollen, aber nach der Nummer, die er gerade zufällig mitangehört hatte, war er sich nicht mehr sicher, wem von beiden er überhaupt noch vertrauen konnte. Trish ermahnte ihn stets, dass er autoritärer auftreten müsse, so wie ihr Vater. Das waren durchaus wahre Worte, aber die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass die Dinge nun mal nur dann glattliefen, wenn er sie selbst erledigte.
Nate tat sich deshalb äußerst schwer damit, Aufgaben zu delegieren, selbst, als er noch ein Sergeant Detective gewesen war. Auch da waren bereits Männer seinem Kommando unterstellt, aber er hatte stets den Drang verspürt, sich selbst um alles zu kümmern.
Und heutzutage war das nicht anders. Am liebsten wäre er selbst zu Desirees gefahren, aber er sah ein, dass das nicht funktionieren würde … nicht, nachdem er Miss Holden so verunsichert hatte. Andererseits durfte er auch nicht zulassen, dass sie Forest Grove in ihrem Buch schlechtmachte, das hatte der Bürgermeister ihm sehr deutlich gemacht. Nate hatte keine Ahnung, weshalb es gerade ihm zufiel, der Frau einen möglichst positiven Eindruck der Stadt zu vermitteln, aber es stand ihm nicht zu, an der Entscheidung des Bürgermeisters zu zweifeln. Nicht, nachdem dieser so entgegenkommend gewesen war, ihm zu seiner jetzigen Position zu verhelfen.
Zieh einfach den Kopf ein, wenn sie angekommen ist. Entschuldige dich für deinen seltsamen Auftritt und sieh zu, was du sonst noch tun kannst, dachte er. Nur so kriegst du Melanie Holden dazu, Forest Grove halbwegs gut wegkommen zu lassen.
»Verdammt«, murmelte er und dachte unweigerlich an den Berg von Arbeit, der noch vor ihm lag. Trish würde früher oder später wahrscheinlich selbst darauf kommen, dass heute keiner der Tage war, an dem er früher nach Hause kommen würde. Im Moment war er nun mal im Revier am besten aufgehoben. Während er fuhr, knirschte er mit den Zähnen. Dort warteten immerhin zwei idiotische Officer auf ihn, denen er gehörig den Marsch blasen musste.
***
Trish Brady las die Nachricht und versuchte nicht allzu enttäuscht zu sein: Klappt leider nicht. Komme später. Die Pflicht ruft. Und Anrufe. Jede Menge Anrufe …
Wieder mal ein Tag allein, dachte sie resignierend und verstaute das gefrorene Hühnchen wieder im Gefrierfach.
So langsam fühlte sie sich wie in den Highschool-Sommertagen ihrer Teenagerzeit. Warten, bis ihr Freund von der Arbeit kam, und sich die Zeit mit etwas Gras und einem Film vertreiben, den die Videothek nicht als moralisch fragwürdig eingestuft hatte. Die Experten der Stadt hatten nämlich die meisten gewalttätigen oder sexuellen Filme aus den Regalen verbannt, schienen aber offenbar nicht zu verstehen, wie abgefuckt Kinderfilme in den Achtzigerjahren gewesen waren. Trish war der Meinung, dass Garbage Pail Kids: The Movie deutlich mehr Schaden bei ihr angerichtet hatte, als jeder Horrorstreifen es hätte tun können – und dafür war sie dankbar. Denn selbst die kleinsten Dinge, wie einen Film auszuleihen, kamen einem an einem Ort wie diesem, wo so schnell über alles geurteilt wurde, wie ein Akt der Rebellion vor.
Damals hatte man ansonsten nicht viel hier tun können, und daran hatte sich bis heute nur wenig geändert. Sie bedauerte die Kinder von Forest Grove, die das Pech hatten, in diesem erdrückenden Umfeld aufzuwachsen, aber wenigstens hatten sie es ein kleines bisschen besser als sie damals. Denn das Internet hatte die Welt zusammenrücken lassen und den Bauerntrampeln hier fehlte zum Glück das nötige Know-how, es zu zensieren.
Zu ihrer Zeit – bei dem Gedanken daran musste sie unweigerlich lachen, weil sie sich mit dreißig schon wie eine Seniorin anhörte – hatten die Bibliotheken die Bücher von F. Scott Fitzgerald und George Orwell zerstört und sich geweigert, Richard Matheson ins Programm aufzunehmen, weil sie fürchteten, dass solche Literatur ein weiteres Sommer-Camp-Massaker auslösen könnte. Trish hatte drei Jahrzehnte ohne einen Tanzabend verbringen müssen, weil die Bewohner hier der Ansicht waren, dass so etwas Ausschweifungen fördern würde. Aus ihrer Sicht bettelte man Cyrus Hoyt damit regelrecht darum an, wieder zuzuschlagen.
Alles hier war so verdammt puritanisch.
Hätte man Trish Brady vor ein paar Jahren vor die Wahl gestellt, ob sie ihr Leben lieber in Forest Grove verbringen oder vorzeitig ins Grab steigen wolle, hätte sie sich wohl als Erste für eine Fahrt über den Styx vorgedrängelt. Die Leute, die hier lebten, lebten nämlich nicht wirklich. Wenigstens nicht nach ihren Maßstäben. Deshalb war sie, so schnell sie konnte, von hier weggezogen.
Aber Liebe lässt einen offenbar die verrücktesten Dinge tun …
Als sie vorhin in den Keller gegangen war, um das Essen für heute Abend aus dem Gefrierschrank zu nehmen, hatte sie sich dabei ertappt, das Meer aus noch ungeöffneten Umzugskartons anzustarren. Sie lebten nun schon seit vier Monaten in Forest Grove, aber sie hatte es immer noch nicht über sich gebracht, hier heimisch zu werden. Der Moment, wenn sie diese letzten Kisten auspackte, wäre ihr Eingeständnis, diesen Ort als ihr Grab anzuerkennen. Sie zog es vor, Forest Grove lieber nur als Zwischenstopp anzusehen, auch wenn das nicht sonderlich realistisch war. Doch sie hatte nachgegeben und eingewilligt, hierher zurückzukehren, und nun war es Nates Entscheidung.
Das Abendessen war für heute also gestrichen, das Auspacken konnte gern noch einen Monat oder auch sechs warten. Sie lief deshalb wieder nach oben, ohne das Gefühl abschütteln zu können, nur wenig mehr als ein Zootier zu sein. Das Haus war aufgeräumt – was das Mindeste war, da Nate den ganzen Tag arbeitete (und meist auch die Nächte), aber sie sträubte sich trotzdem, als Hausfrau abgestempelt zu werden. Das Problem war nur, dass es ansonsten einfach nichts zu tun gab. Man konnte noch nicht einmal mit dem Auto und aufgedrehtem Radio eine Runde drehen, ohne damit irgendjemandem in dieser Stadt auf den Schlips zu treten.
An ihrem ersten Tag, als sie wieder hierher zurückgekehrt war, hatte sie ein wenig geputzt und dabei laut Black Flag gehört. Nate war noch nicht einmal eine halbe Stunde weg gewesen, als sein Streifenwagen wieder in die Einfahrt gebogen war. Die erste Amtshandlung des frischgebackenen Polizeichefs der Stadt war es gewesen, eine Beschwerde wegen Ruhestörung in seinem eigenen Haus nachzugehen. Denn nicht einer, sondern gleich drei ihrer neuen Nachbarn hatten in der Wache angerufen, um sich wegen des unheiligen Krachs zu beschweren.
So viel zum guten ersten Eindruck.
Trish rannte jetzt die Kellertreppe hinauf, die ins Esszimmer führte. Ihr Vater saß wartend am Tisch.
»Ich schwöre, du hörst sogar noch schlechter als ich, Mädchen«, sagte er. »Ich rufe hier oben die ganze Zeit nach dir und du reagierst überhaupt nicht. Ich habe dir ja gesagt, dass dieser Lärm, den du andauernd hörst, dir irgendwann noch die Trommelfelle kaputtmachen wird.«
»Was für ein großartiger Moment für eine Moralpredigt, Daddy«, spöttelte sie. Sosehr sie ihn auch liebte … so nah bei ihm zu leben, war ein absolutes Desaster, denn er hatte die Angewohnheit, sie immer noch wie ein kleines Kind zu behandeln und sprach stets etwas herablassend mit ihr. Außerdem hatte sie sich erschrocken, ihn so unverhofft in ihrem Haus vorzufinden. Ihr Dad vertrat nämlich die Einstellung, dass es sein gutes Recht war, sich überall in Forest Grove aufzuhalten, wo es ihm gerade beliebte, und ganz besonders gern im Haus seiner Tochter.
»Ich bin nicht wegen einer Moralpredigt hier. Ich kam eigentlich nur, um mal nach dir zu sehen.«
»Ich brauche niemanden, der mich kontrolliert. Mir geht es gut.«
»Das, was gestern passiert ist, war alles andere als gut«, antwortete er. »Herrgott noch mal, du hast mich halb zu Tode erschreckt. Ich bin noch nicht bereit, die einzige andere Frau in meinem Leben zu verlieren, weißt du?«
»Beruhige dich bitte«, sagte sie und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn auf die Stirn zu küssen. Er stank nach Zigarren und Bier, dabei war es erst kurz nach Mittag.
»Ich beruhige mich erst dann wieder, wenn ich weiß, dass es dir gut geht.«
»Was willst du denn von mir hören? Ich war im Wald spazieren, und du führst dich auf, als hätte ich eine Orgie gefeiert.«
»Du bist ohnmächtig geworden.« Er musste ihre Verwirrung bemerkt haben, denn er verstummte für eine Sekunde, um seinen Vortrag umzuformulieren, und holte dann tief Luft, nachdem er leise geseufzt hatte. »Sag mir einfach, dass ich mir keine Sorgen machen muss. Du triffst leider nicht immer unbedingt die besten Entscheidungen …«
»Ha, das muss ich wohl von dir haben! Du willst mir einen Vortrag über Entscheidungen halten, nach dem, was mit Mom passiert ist? Lass den Quatsch lieber und frag mich einfach, ob ich wieder was einwerfe, Dad. Darauf willst du doch hinaus, oder?«
»Mir fällt nun mal kein anderer Grund ein, wieso du beim Spazierengehen einfach so das Bewusstsein verlieren solltest.«
Trish auch nicht – und genau das war das Problem. Sie war gestern eigentlich zu den Waldwegen rund um den Lake Forest Grove hinausgefahren, um etwas Ruhe zu finden. Den Wäldern haftete zwar ein schlechter Ruf an, der so weit zurückreichte, wie sie sich erinnern konnte, aber ihre persönlichen Assoziationen zu ihm waren durchweg positiv. Während ihrer Abschlusszeit 2002 war er ein Ort gewesen, an den man flüchten konnte, um sich der Unterdrückung der Stadt zu entziehen. Unter dem Dach der Baumkronen hatten sie etwas Dope geraucht, Musik gehört und ja … auch ihre Unschuld verloren.
In jener Nacht, als sie ihre an Chase Prescott verloren hatte, hatte sie den Drang unterdrücken müssen, die Stadthalle mit einem aussagekräftigen Graffiti zu schmücken. Der Gedanke an die rebellische Kritzelei, die ihr damals vorgeschwebt hatte, brachte sie jetzt unwillkürlich immer noch zum Lachen: Ich hab gepoppt, ohne geköpft zu werden! Fick dich, Cyrus Hoyt! Chase hatte sie angefleht, sich das Ganze noch einmal zu überlegen, denn er wollte sein Stipendium nicht wegen eines solchen Unsinns verlieren. Er war schon so gut wie aus der Stadt verschwunden und hatte nie wieder zurückkehren wollen. Sie hatte eingewilligt, es sein zu lassen, aber eher deshalb, um ihrem Vater die mögliche Peinlichkeit und ihrem Fickfreund, den sie ohnehin nicht besonders mochte, den Ärger zu ersparen. Ihre Beziehung war rein körperlicher Natur gewesen, und es in dieser Nacht mit ihm zu treiben, hatte sich für sie wie die letzte Gelegenheit angefühlt, gegen einen Ort zu rebellieren, der alles in seiner Macht Stehende tat, ihre Hormone zu ersticken.
Das alles bedeutete der Wald für sie. Es hatte nichts mit den unglücklichen Morden zu tun oder was auch immer sich davor noch alles darin ereignet hatte. Irgendetwas war hier passiert, lange bevor sie überhaupt geboren worden war, aber selbst Dad sprach nur flüsternd darüber und nie in ihrer Gegenwart. Aber das alles spielte keine Rolle, denn nun war Forest Grove zu einer Stadt geworden, die Kinder davon abhalten wollte, Kinder zu sein. Neugier und künstlerischer Ausdruck waren hier verpönt und schufen so eine Gemeinschaft, aus der Highschool-Abgänger eiligst flohen, sobald sie die Gelegenheit dazu bekamen. Jene, die blieben – und Trish hatte nur sehr wenige aus ihrer alten Klasse wiedergetroffen – erinnerten sie unweigerlich an die Zombiefrauen aus Stepford.
Es war richtig von mir, abzuhauen.
Deshalb hatte sie gestern die Nostalgie übermannt. Sie war in den Wald hinausgefahren und ihren Erinnerungen gefolgt. Jedes kleine Stück, das ihr wieder in den Sinn gekommen war, hatte sich angefühlt, als hätte sie einen alten Freund wiedergetroffen. Das war der erste Tag seit ihrer Rückkehr gewesen, an dem sie wieder richtig glücklich gewesen war … und dann war ihr plötzlich schwarz vor Augen geworden und sie war auf dem Weg zusammengebrochen. Alkohol war nicht im Spiel gewesen, denn sie hatte seit Jahren nichts Hochprozentiges mehr angerührt, weshalb dieses Erlebnis sie selbst am meisten verwirrte.
Zwei Teenager hatten sie irgendwann gefunden. Sie waren anscheinend auf der Suche nach den gleichen Erfahrungen gewesen, die Trishs Highschool-Jahre definiert hatten, und waren so nervös gewesen, als sie nicht aufwachte, dass sie schließlich einen Krankenwagen gerufen hatten.
Ihr Dad und Nate hatten keine Zeit verschwendet und sie sofort mit Fragen bombardiert, als sie Trish im Krankenhaus besucht hatten. Aber sie konnte sich an nichts mehr erinnern. Ihre alte Drogenvergangenheit war natürlich das Hauptthema gewesen, aber sie bestand beharrlich darauf, dass sie nichts genommen hatte. Die beiden Männer tänzelten die ganze Zeit um das Thema herum, während Trish an ihren Blicken erkannte, dass sie sie verdächtigten. Von ihrem Dad hatte sie nichts anderes erwartet, aber Nates Zweifel zu sehen, versetzte ihr einen Stich ins Herz.
»Deine Bedenken sind zur Kenntnis genommen worden, Dad. Danke, dass du vorbeigekommen bist.« Es war dringend an der Zeit, das Verhör zu beenden und ihn irgendwie aus dem Haus zu bekommen. Lieber würde sie weiter Kisten auspacken.
»Warte eine Sekunde«, sagte er hastig. »Du weißt, dass ich froh bin, dich wieder bei mir zu haben. Es war nicht leicht für mich, zuzusehen, wie mein kleines Mädchen überhastet die Stadt verlässt. Du hast gesagt, dass du mich besuchen würdest, aber wie oft haben wir uns danach gesehen? An ein oder zwei Feiertagen im Jahr?«
»Nate und ich haben immer versucht, dich zu uns in die Stadt zu holen«, widersprach Trish. »Und als wir es einmal geschafft haben …«
Ihr Dad verdrehte die Augen. »Ich hasse diesen Ort. Weißt du, was New York City wirklich ist? Eine Stadt voller Arschlöcher, die ganz eilig nirgendwohin müssen.«
Sie lachte und hasste sich sofort dafür, denn es bedeutete, dass sie ihn vom Haken ließ. Vielleicht war das aber auch in Ordnung so. Der alte Mann hatte sein Bestes getan, einen kleinen Satansbraten aufzuziehen, und jetzt, wo er nicht mehr länger der Polizeichef war, gab es niemanden mehr, um den er sich kümmern konnte außer seiner Tochter.
Du Glückliche.
Der pensionierte Ron Sleighton bot einen verlotterten Anblick und war kaum wiederzuerkennen, wenn sie ihn mit Bildern aus ihrer Erinnerung verglich. Sein Rücken war krumm wie eine Sinuskurve und mehrere Tage alte Bartstoppeln wuchsen aus seinen rosafarbenen Hängebacken. Sein Hawaiihemd war falsch zugeknöpft und er zog ständig an seinen zu engen Shorts. Von dem beinahe militanten Staatsdiener, der über ihre prägenden Jahre gewacht hatte, war nur noch ein Schatten zurückgeblieben, der von der erst jüngst eingeführten Krankenversicherung profitierte.
»Wir müssen doch nicht schon wieder mit alledem anfangen. Im Herzen bin ich ein Großstadtmädchen, und daran wird sich niemals etwas ändern. Ich bin nur hier, weil … weil ich eine pflichtbewusste Ehefrau bin.«
Ihr Vater wischte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn, und Trish lief in die Küche, um einen Krug Eistee aus dem Kühlschrank zu holen.
»Viel zu pflichtbewusst«, murmelte er. »Ich verstehe immer noch nicht, wieso Nate nicht für diese Privatfirma arbeiten wollte. Es wäre leicht verdientes Geld, bei wenig Papierkram. Dort hätte er etwas aus sich machen können. Aber hier …«
Trish reichte ihm ein eiskaltes Glas, setzte sich an den Tisch und schob mit dem Fuß den Stuhl ihr gegenüber hervor. Ihr Vater drehte sich jedoch zum Fenster und sah auf die stille Einbahnstraße hinaus.
»Ich dachte, du findest, dass Nate in Ordnung ist«, sagte sie. »Das hast du zumindest immer gesagt.«
»Ist alles eine Frage der Perspektive. Gestern hat dein Ehemann Robbie Carmoody angehalten, weil er 55 in der Stadt draufhatte. Wir wissen doch alle, dass Carmoody seit ein paar Jahren arbeitslos ist – seit diese Schweinepriester in der Fabrik lieber auf billige Arbeitskräfte aus dem Ausland setzen. Wer stellt denn schon eine sechzigjährige Führungskraft ein, die Achtzigtausend im Jahr verlangt? Aber das ist noch lange kein Grund, sich wie ein Arschloch zu benehmen. Dein Mann hat ihn aber mit einer mündlichen Verwarnung davonkommen lassen. Carmoody sitzt jetzt gerade im Lloyds und hat bestimmt schon gut einen sitzen.«
»Na und? Nate versucht eben, eine freundschaftliche Beziehung zu den Leuten hier aufzubauen.«
»Eine freundschaftliche Beziehung? Weißt du, was ihm das einbringen wird? Einen schönen Haufen Hundescheiße vor seiner Tür.«
»Das hoffe ich nicht, Dad, denn das ist auch meine Tür.«
»Lach du nur. Mach dich über mich lustig. Aber ich sag dir eines: Wenn dein Mann sich unbedingt wie ein Schwächling aufführen will, wird es nicht lange dauern, bis sich das herumgesprochen hat. Zu Anfang hat jeder Respekt vor einer Dienstmarke, aber wenn sie erst einmal spitzkriegen, dass der Mann dahinter nur ein Schlappschwanz ist …«
»Nate ist kein Schlappschwanz, und nur, weil er Carmoody mit einer Verwarnung davonkommen lassen hat, macht ihn das noch lange nicht zu einem leichten Ziel.«
»Soll ich dir mal was über ein leichtes Ziel erzählen?«, fragte ihr Vater und hob herausfordernd die Stimme. »Dann hör mal zu. Earl Bishops Sohn ist erst letzten Monat in die Stadt gezogen und übernimmt jetzt, wo Earl an der Dialyse hängt, den Laden seines Vaters. Earl hat sonntags niemals Alkohol verkauft, um den Sabbat zu ehren. Ein Brauch, den wir hier sehr zu schätzen wussten.«
»Ein Brauch, den vielleicht ein paar von euch zu schätzen wussten, denn Nate konnte es kaum fassen, als er vor dem Sonntagsspiel der Sox keinen Sixpack Blue Moon kaufen konnte.«
»Das erklärt das Ganze wohl.« Dad kniff die Augen zusammen … Trish erinnerte sich noch gut an den Blick. Es war der gleiche, den er aufgesetzt hatte, nachdem man sie und Jessica beim Klauen in Westbrook erwischt hatte.
Es signalisierte Enttäuschung.
»Das erklärt was?«
»Earls Junge Scotty, hat einfach beschlossen, drauf zu pfeifen. Er lässt an den Sonntagen die Gitter vor den Alkoholständen einfach oben, damit jeder ran kann. Es gab zahlreiche Beschwerden, und Brady hat sich auf Scottys Seite gestellt. In Zeiten wie diesen zählt jeder Dollar. Das waren seine genauen Worte.«
»Das ist doch Unsinn, Dad.«
»Unsinn? Du musst deinen Mann unbedingt in die Spur kriegen. Ach was sage ich, ihr beide könntet euch mal ein bisschen mehr zusammenreißen. Nach deinem kleinen Abenteuer gestern, fragen sich die Leute nämlich schon, was mit dir und deinem Mann eigentlich los ist.«
»Sollen sie sich doch den Kopf zerbrechen. Verdammt, ich hasse Kleinstädte so sehr. Alle zerreißen sich immer über alles und jeden das Maul. Ich warte praktisch nur darauf, dass Ken Hammond von gegenüber hier aufkreuzt, um mir zu sagen, dass ich mich um das Unkraut im Vorgarten kümmern soll.«
»Die Dinge sind hier aus einem verdammt guten Grund so, wie sie sind.«
»Aber Dinge können sich auch verändern, und das ist niemals der Weltuntergang, zu dem du es immer gern machst. Von allen Problemen in dieser Stadt, und auf der ganzen Welt, ist der Verkauf von Alkohol an einem Sonntag doch wohl das Geringste. Wenn Scotty am heiligen Sonntag unbedingt Fusel verkaufen will, dann möge Gott ihn segnen. Halleluja!«
»Wann bist du denn nur so verdammt liberal geworden? Ich dachte, diese Tattoos und Piercings wären nur eine Phase gewesen?«
»Versuch es doch mal, von einer anderen Seite aus zu sehen«, sagte sie und ignorierte seine Anspielung auf ihr Äußeres. »Lloyds Absteige ist nun nicht mehr der einzige Ort, an dem man sonntags einen Drink bekommt. Jetzt gibt es hier einen Wettbewerb. Hey, das ist doch immerhin schon mal ein Anfang, und wenn unser Bundesstaat entscheidet, dass es für uns nicht koscher ist, sonntags einen Drink zu bekommen, dann werden sie darüber abstimmen lassen. Ich kann einfach nicht verstehen, wie sehr du an diesen ganzen altmodischen Lebensvorstellungen hängst. Nur weil Nate nicht an jedem blödsinnigen ungeschriebenen Gesetz hier festhält, heißt das doch noch lange nicht, dass er etwas Falsches getan hat.«
»Es gibt hier aber Leute, die das genau so sehen.«
»Es ist nahezu unmöglich, dem Vermächtnis von Chief Ronald Sleighton gerecht zu werden; dem Beschützer von Forest Grove. Nate will diesem Ort einen modernen Anstrich verpassen. Ihm bleibt auch gar nichts anderes übrig, wenn er möchte, dass ich hier ein Kind in die Welt setze.«
»Ich weiß, wie manches hier auf euch junge Leute wirken muss, aber die Menschen hier sind nun mal ein launisches Völkchen. Ich möchte aber, dass mein Schwiegersohn erfolgreich ist, und deshalb könntest du ihm gegenüber wenigstens eine Kleinigkeit erwähnen.«
Sie lachte. »Bist du deswegen hergekommen? Damit deine Tochter die Drecksarbeit für dich macht, und dir dabei hilft, Nate Brady nach deinem Bild zu formen?«
»Könnte zumindest nicht schaden«, sagte er.
»Vergiss es. Nate ist mit den Angelegenheiten dieser Stadt bereits so beschäftigt, dass er nur zum Schlafen nach Hause kommt. Ich habe meinen Mann schon seit einer Woche nicht mehr zu Gesicht bekommen, und wenn wir uns mal unterhalten, dann nie über etwas anderes als diese verdammte Stadt … dem Ort, dem ich so verzweifelt entkommen wollte.«
Sleightons Augenlider wurden daraufhin schwer. »So fühle ich mich jeden Tag.«
Dann ging er einfach.
***
Melanie hoffte, dass sie mit achtzig immer noch so rüstig sein würde wie Desiree Rosemott.
Das sind weniger als vierzig Jahre …
Die betagte Besitzerin des Desirees Bed & Breakfast sah keinen Tag älter aus als fünfundsechzig und ihr federnder Gang ließ sie wahrscheinlich oft noch wesentlich jünger wirken. Sie bestand darauf, Melanies Taschen in die Suite im dritten Stock zu tragen, und wollte kein Nein gelten lassen. Melanies hartnäckige Weigerung verärgerte sie anscheinend nur.
»Okay, meine Liebe«, willigte Desiree schließlich widerwillig ein. »Aber es gefällt mir ganz und gar nicht, wenn meine Gäste ihr eigenes Gepäck zwei Treppen hinauftragen müssen. Was für eine Art von Gästeservice soll das denn sein?«
»Es macht wirklich keine Umstände, Ms. Rosemott«, sagte Melanie. »Nach vier Stunden im Wagen bin ich froh, wenn ich mich etwas bewegen kann.« Sie folgte der Frau die schmalen Treppenstufen hinauf, während sie ihren Koffer hinter sich herzog und die zwei Umhängetaschen über den Schultern trug.
Das kleine Hotel war wirklich reizend und versprühte einen rustikalen Charme. An den Wänden hingen Schwarz-Weiß-Fotografien von Forest Grove, vom Tag der Gründung bis zu einer aktuelleren Aufnahme, die den zögerlichen Wandel der Stadt durch die Geschichte widerspiegelte. Die Wände des Flurs waren mit Kerzenhaltern bestückt, deren Abnutzungen darauf schließen ließen, dass Desiree sie tatsächlich jede Nacht anzündete. Der Boden bestand aus schweren Hartholzdielen, und die grässliche Tapete (babyblau mit einem weißen perlenförmigen Muster) legte die Vermutung nahe, dass sie seit Desirees Kindheit nicht erneuert worden war.
»Nur noch ein paar Stufen«, keuchte Desiree zwischen schweren, aber entschlossenen Atemzügen, »und Sie werden sich in unserem besten Gästezimmer wiederfinden.« Die Frau presste sich eine Hand ins Kreuz und verzog das Gesicht. »Geben Sie mir nur kurz eine Minute …«
»Ms. Rosemott, Sie brauchen sich keine Umstände zu machen. Ich schaffe das schon allein.«
»Unsinn«, erwiderte sie lächelnd. »Bemitleiden Sie mich bloß nicht. Ich werde mich um dieses Hotel kümmern, bis ich unter der Erde liege.«
Melanie trat an ihr vorbei und auf die nächste Stufe. »Bitte, Ms. Rosemott, gehen Sie wieder hinunter. Ich möchte Sie nicht weiter behelligen …«
»Sie sind sehr freundlich.« Die alte Dame schob sie mit ihrem Arm sanft beiseite. »Aber ich kümmere mich um die Dinge hier auf meine eigene Art. In den fünfzig Jahren, in denen ich dieses Gästehaus schon leite, habe ich noch jeden meiner Gäste persönlich auf sein Zimmer gebracht. Das bisschen Arthritis wird mich jetzt bestimmt nicht davon abhalten.«
Sie mühte sich weiter die Treppe hinauf, und dann öffnete sie die schwere Zimmertür und trat einen Schritt beiseite, um ihrem Gast einen Blick zu gewähren.
Melanie stellte ihren Koffer ab. Das Zimmer erstreckte sich scheinbar über die gesamte Etage. Vor ihnen befand sich eine Kochnische mit einem Herd, einem Kühlschrank und einem Küchenschrank. Ein runder Esstisch stand vor dem hinteren Fenster, durch das man auf den Parkplatz blicken konnte. Der mit Teppich ausgelegte Wohnbereich bestand aus einer Sitzgruppe, die um einen Röhrenfernseher angeordnet war, und am anderen Ende der Suite gab es noch zwei weitere Zimmer: ein großzügiges Schlafzimmer mit einem großen Doppelbett, einem Kleiderschrank und zwei Kommoden und ein makelloses Badezimmer.
»Wow«, kommentierte sie fassungslos. Das war das einzige Wort, was ihr gerade einfiel.
»Ich wusste, es würde Ihnen gefallen, meine Liebe. Unglücklicherweise wird die Suite nicht mehr so viel benutzt wie früher. Aber ich halte sie trotzdem sauber. Das gibt einem etwas zu tun, wissen Sie?« Sie lief ins Badezimmer und winkte Melanie mit einem ausgemergelten Zeigefinger hinein.
Melanie verschlug es den Atem, als sie eintrat. In der Ecke stand eine funkelnde Badewanne, die wie ein gebogener Pantoffel geformt war. Sie war in mattem Weiß gehalten, mit einem tiefschwarzen Rand, der in Löwentatzen mündete, mit denen sie auf dem Marmorboden stand. Altmodisch, aber bestens erhalten und mit ein paar modernen Umrüstungen versehen. Von der Badewanne aus konnte man auf die einsame Landstraße hinausblicken, aber für den Fall, dass man sich vor neugierigen Blicken schützen wollte, stand ein zusammengefalteter Paravent an der hinteren Wand.
»Ich habe letztes Jahr noch ein paar von diesen abnehmbaren Duschköpfen nachrüsten lassen«, erklärte Desiree. »Ich habe sie selbst noch nicht getestet, aber alle schwärmen immer davon.«
Das Zimmer versprach deutlich mehr Komfort, als Melanie eigentlich wollte. Das hier war schließlich kein Urlaub. Sie würde sich schuldig fühlen, wenn sie sich am Ende noch hier wohlfühlte.
»Es wird Sie außerdem freuen, zu hören, dass wir komplett mit drahtlosem Internet ausgestattet sind. Ich war zwar nicht unbedingt scharf darauf, aber offenbar lockt das rustikale Landleben die Leute nur dann, wenn die modernen Annehmlichkeiten nicht all weit weg sind.«
»Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet, es ist großartig.«
»Nun, dann lasse ich Sie jetzt erst einmal in Ruhe ankommen. Sie sind etwas spät dran für ein Frühstück, aber ich mache Ihnen nachher gern ein Sandwich, falls Sie etwas zu Mittag essen wollen.«
»Ich denke, ich kann bis zum Abendessen warten«, sagte Melanie. »In der Zwischenzeit packe ich lieber aus.«
»Nun, dann klopfe ich gegen vier Uhr einfach einmal bei Ihnen an und sehe nach, wie es Ihnen geht. Sie sind momentan mein einziger Gast, also werde ich mal nachschauen gehen, was ich so in der Küche habe und uns etwas Besonderes kochen. Wie hört sich das an?«
»Das wäre wirklich wunderbar.«
Melanie brachte sie noch an die Tür und wartete dann einen Moment, um sicherzugehen, dass die alte Frau unbeschadet die Treppenstufen hinuntergestiegen war.
Dann packte sie ihre Taschen aus und nutzte den begehbaren Kleiderschrank vollumfänglich aus. Es war absolut großartig, ihre Garderobe auf diese Weise ausbreiten zu können und zu sehen, was sie alles mitgebracht hatte. Plötzlich schien es ihr, als würde ihre Kleidung nicht reichen, auch wenn der Plan immer noch vorsah, in ein paar Tagen schleunigst wieder von hier zu verschwinden.
Sie zog sich um und beschloss, vor dem Essen noch eine Runde Laufen zu gehen. Melanie fuhr sich mit der Hand über ihren Bauch und überzeugte sich davon, dass nicht ein paar Pfunde zugelegt hatte. Sie hatte in dieser Woche nämlich mit ihrer Lauf-Routine gebrochen, doch sie stellte fest, dass es dringend an der Zeit war, wieder damit anzufangen. Nicht, um für den Mann, der in ihrem Leben noch fehlte, gut auszusehen, sondern weil sie es genoss, mit den anderen Frauen mithalten zu können. Selbst, wenn schmierige Studenten unangebrachte Kommentare hinter ihrem Rücken abließen, war es auf gewisse Weise dennoch schmeichelhaft – wenn auch auf herabwürdigende Art und Weise.
Das weite T-Shirt hing locker von ihren Schultern und Melanie zog sich jetzt eine kurze Laufhose über ihre Oberschenkel. Dann band sie ihre Asics zu, verstaute ihren iPod in ihrer Armtasche und steckte sich auf dem Weg die Treppe hinunter, die Hörer in die Ohren. Auf dem Parkplatz angekommen, drehte sie Kylie Minogues Light Years voll auf und bog dann nach links in Richtung Forest Grove ab.
Der Ort strahlte eine Ruhe aus, von dem die Verfechter der sogenannten Kleinstadtidylle so oft schwärmten. Stus Tankstelle begrüßte einen offenbar immer noch mit einem sanften Klingeln, wenn ein Wagen an eine Zapfsäule fuhr, und ein Angestellter in Overall kam daraufhin aus der Garage gerannt, um nicht nur Benzin nachzufüllen, sondern auch den Ölstand zu prüfen und die Scheiben zu putzen. Das letzte Mal, als sie hier gewesen war, hatte Jennifer darauf bestanden, kurz anzuhalten und eine Schachtel Marlboro zu kaufen. Das war die Nacht vor ihrer Ermordung gewesen. In den vergangenen fünfundzwanzig Jahren hatte sich anscheinend nicht viel verändert.
Die Straße machte jetzt einen Bogen nach rechts und führte direkt in die Stadt hinein. Ein grasbewachsener Park mit einem gigantischen weißen Pavillon in der Mitte, teilte die Straße anschließend in zwei Richtungen. Rechts führte sie genau in die Stadt hinein, links wieder hinaus. Ein zweistöckiges Schulgebäude versprühte mit seinem perfekt gepflegten Rasen und den Reihen Fahrradständer einen Hauch von Hochschul-Feeling.
Sie kam jetzt an einer der örtlichen Banken vorbei, die von Rentnerinnen belagert wurde, einem Postgebäude mit weißen sandgestrahlten Treppenstufen und einem schimmernden Titanium-Geländer, einer Pizzeria, einem Sandwichladen namens THE SHACK und einem Gemischtwarenladen, der den schlichten Namen EARL’S trug.
Auf der linken Seite schloss ein Antiquariat die überschaubare Einkaufsmeile kleiner Geschäfte ab. Der Weg zur Stadthalle war von kreisrunden Steinplatten zwischen hüfthohen Büschen gesäumt. Die Bibliothek selbst war unscheinbar und wirkte verlassen. Daneben rühmte sich ein italienisches Restaurant damit, seit fünf Generationen im Familienbesitz zu sein. Dazwischen befanden sich immer wieder kleine Wohnhäuser, mit renovierten Fassaden, an denen sie aber Satellitenschüsseln entdeckte.
Forest Grove war seit ihrem letzten Besuch offenbar doch ein wenig gewachsen.
Dann sah sie am Rande der Stadt, in den Boden gesteckt und irgendwie isoliert, das Schild. Ein wenig ausgeblichen und etwas schief, aber immer noch gut lesbar stand darauf: CAMP FOREST GROVE – 5 MEILEN.
Die Illustration eines Flusses zog sich im Zickzack durch gemalte Baumkronen und führte zu einer Blockhütte, die in einem übertrieben orangefarbenen Sonnenlicht badete. Ein paarmal hatte man offenbar schon versucht, Graffitis davon zu entfernen und diese letzten Endes mit Weiß übermalt. Eine der Schmierereien Ein schöner Platz zum Sterben war noch immer als hässliche Narbe unter hastig hinzugemalten Tannenbäumen zu erkennen.
Melanie starrte das Schild mit weit aufgerissenen Augen an. Panik erfasste sie, als sie die Ereignisse jener Nacht mit voller Wucht wieder einholten. Die zahlreichen Schnitte, mit denen Jennifers Kehle aufgerissen worden war, und die Erkenntnis des plötzlichen Todes, die sich in Lindseys starren Blick eingebrannt hatte …
Hör auf damit!
Aber das konnte sie nicht, denn die unangenehmen Erinnerungen strömten jetzt aus allen Winkeln ihres Verstandes auf sie ein … der Schwarm Moskitos, als sie die Kanus in den Lake Forest Grove geschoben hatte … Hoyts widerwärtiger Gestank … seine raue Haut unter ihren Nägeln, als sie versucht hatte, ihn abzuwehren … sein Blut an ihren Händen und in ihrem Körper, nachdem sie es hinuntergeschluckt hatte …
Ich habe diesen Bastard niemals sterben sehen.
Er war tot. Zumindest behaupteten sie das alle, aber gesehen hatte es niemand.
Melanie war schweißgebadet und beschloss daher, dass sie für heute genug trainiert hatte. Sie drehte sich um, überquerte die Straße und joggte auf der anderen Seite wieder zurück.
Es war kurz vor drei, als sie das Desirees erreichte. Sie taumelte hinein, stieg mit wackeligen Beinen zu ihrem Zimmer hinauf, begab sich direkt ins Badezimmer und drehte das heiße Wasser an der Badewanne auf. Ihre Klamotten waren komplett durchgeschwitzt, als sie diese auszog und als Spur auf dem Boden hinter sich zurückließ. Desiree hatte auch eine reichhaltige Auswahl an Schaumbädern und Bade-Ölen im Wandschrank deponiert, Melanie konnte ihr Glück kaum fassen. Das war deutlich mehr Luxus, als man es von einer kleinen Pension auf dem Land erwarten konnte.
Sie gab noch ein wenig kaltes Wasser hinzu, ließ sich dann in den dampfenden Badeschaum sinken und lehnte ihren Kopf gegen die gepolsterte Nackenstütze. Anschließend bog den Rücken durch, trat etwas Schaum in die Luft und ließ ihre Fußballen auf dem Rand der Wanne ruhen. Danach fuhr sie sich mit einem feuchten Lappen über ihr Gesicht und versuchte verzweifelt, die anhaltende Panikattacke mit abzuwaschen.
Eine Stunde oder mehr verging. Ihre Fingerkuppen sahen mittlerweile aus wie Rosinen, als sie wieder aus dem Wasser stieg, aber ihre Atmung hatte sich beruhigt und ihre Muskeln gelöst. Sie trocknete sich ab, cremte anschließend ihren Körper mit einer Feuchtigkeitscreme ein und lief dann zum Schrank. Sie entschied sich kurzerhand für ein Tanktop und Jazzpants, um ihre Gänsehaut zu überdecken.
Danach kletterte sie aufs Bett und nahm im Schneidersitz vor ihrem Laptop Platz. Die Worte flogen ihr zwar nicht gerade zu, aber sie schrieb trotzdem einfach alles nieder, was ihr gerade einfiel. Ein Versuch, jeden Gedanken festzuhalten, der ihr auf ihrem nachmittäglichen Flashback-Marathon durch den Kopf geschossen war.
Desirees Klopfen riss sie schließlich aus der Verzweiflung, die sie zu dokumentieren versuchte. Sie rief irgendetwas wegen des Abendessens. Melanie bekam allerdings nur die Hälfte mit, weil sie sich unbedingt weiter ihren Aufzeichnungen widmen wollte, deshalb willigte sie hastig ein, um 17:30 Uhr nach unten zu kommen und beim Decken des Tischs zu helfen.
Als sie sich sicher war, dass die alte Dame es wieder heil die Treppe hinunter geschafft hatte, richtete sie ihre Aufmerksamkeit sofort wieder auf ihre Memoiren. Alles auf diesen Seiten fühlte sich so fremd an, als hätte sie nichts davon selbst geschrieben. Die Muse hatte sie für diesen Abend anscheinend verlassen, aber es war ein guter Start gewesen. Sie musste ja auch nicht das gesamte Buch während dieses Ausfluges schreiben. Es ging ja vielmehr darum, ihren Erinnerungen auf die Sprünge zu helfen, und davon hatte sie für heute mehr als genug gehabt.
Melanie schob ihren ausgeschalteten Laptop an die Bettkante, stand auf und sammelte ihre auf dem Boden liegenden Kleidungsstücke auf, als sie plötzlich die Augen weit aufriss und ihr das Herz sofort bis zum Hals schlug.
Denn direkt vor der Tür, auf dem Linoleum, konnte sie den deutlichen Umriss eines nassen Fußabdrucks sehen.
***
Nate hatte ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, an diesem Abend zeitig nach Hause zu kommen.
Trish, ausgehend von ihrer Reaktion, offenbar ebenfalls nicht. Denn ihre grünen Augen mit den kleinen haselnussbraunen Sprenkeln betrachteten ihn jetzt mit einem Anflug von Geringschätzung.
»Hi.« Nate grinste, knöpfte seine Uniform auf und zerrte an dem durchschwitzten Baumwoll-T-Shirt darunter.
Sie kam gerade durch die Kellertür nach oben, mit einem alten The-Cure-Shirt bekleidet, das ihre Taille bei jeder Bewegung hervorblitzen ließ. Kurze Shorts hingen leicht schief von ihrer Hüfte. Mit verschränkten Armen und den Kopf zur Seite geneigt, sagte sie: »Ich hab kein Essen gemacht … nicht nach deiner Nachricht.«
»Ich hatte auch nicht damit gerechnet, früher kommen zu können.« Nate gab ihr einen Kuss, doch es fühlte sich an, als hätte er seine Lippen gegen eine Marmorplatte gedrückt. »Zurzeit kann ich einfach nicht sagen, wie lange ich weg sein werde. Ich dachte, es würde später werden, aber Donnelley hat beschlossen, sich lieber dem ganzen Papierkram zu widmen, als zum Abschluss-Musical seiner Kinder zu gehen. Aber hey, ich bin schon um acht zu Hause. Wie war denn dein Tag?«
»Reine Zeitverschwendung.«
»Das tut mir leid«, sagte Nate. »Was hast du denn da unten gemacht? Kisten ausgepackt?«
»Zum Teil. Ich habe eigentlich nach etwas gesucht. Mein … Jahrbuch.«
»Trauerst du etwa gerade einem alten Freund hinterher?«
»Das ist nicht lustig.« Sie warf ihm einen so wütenden Blick zu, dass ihm das Blut in den Adern gefror.
»Ich weiß.« Nate wusste, dass er sie nicht aufziehen durfte, wenn sie schlechte Laune hatte, aber manchmal konnte er einfach nicht widerstehen. Mit seinen Neckereien schaffte er es nämlich oft, die Spannungen zwischen ihnen abzubauen. Ihr gestriger Zusammenbruch machte ihm immer noch Sorgen, aber Trish ließ sich ungefähr so viel sagen wie Katzen, also half es nichts, auf der Sache herumzureiten. Ihm blieb wohl nichts anderes übrig, als ihr zu glauben, wenn sie sagte, dass sie keine Drogen mehr nahm.
Doch im Inneren vermutete er irgendwie doch, dass sie es tat.
Heute Morgen hatte er im Krankenhaus angerufen, aber das verdammte toxikologische Gutachten war immer noch nicht fertig gewesen. Es war nur schwer zu glauben, dass sie nichts gefunden hatten, was den Blackout erklärte … oder ihre Sprunghaftigkeit.
Vielleicht solltest du deiner Frau einfach mal vertrauen.
Zynismus war leider ein Nebeneffekt seines Berufes.
»Was ist denn das Besondere an diesem Jahrbuch?« Er hielt es für das Beste, sich dem Thema von einem anderen Winkel aus zu nähern. »Weißt du, ich würde es wirklich gern anschauen. Immerhin habe ich dein Abschlussfoto noch nie gesehen.«
»Das wirst du auch nie.« Ihre Mundwinkel zeigten ein verschämtes Grinsen. »Es ist nichts Großartiges, nur ein paar Erinnerungen, die ich für lange Zeit vergessen hatte.«
»Heißt das, dass du dich langsam für die Idee erwärmst, wieder hier zu leben?«
Ihr Lachen war jetzt gehässig, das Grinsen verschwunden, und ihre Augen ließen ihn auf nonverbale Weise wissen, dass er sich verpissen sollte.
Nate schob sich mit nach oben gehaltenen Armen an ihr vorbei. Sie jetzt zu berühren, würde das Ambivalent eines surrenden Alarms wie in diesem Doktor-Bibber-Spiel auslösen, und er hatte für heute schon genug Leid ertragen müssen.
Sie kehrte wortlos in den Keller zurück.
»Hey«, rief er ihr hinterher.
Sie sah ihn mit zur Seite geneigtem Kopf an.
»Ich hab dich schon ein paar Tage nicht mehr gesehen«, sagte er. »Ich hatte gehofft, wir könnten heute Abend vielleicht etwas miteinander machen.«
»Zum Beispiel?«
»Was immer du möchtest.«
»Ich will auspacken.«
»Okay«, sagte Nate und zuckte mit den Schultern. Das hörte sich furchtbar an nach einer Zwölf-Stunden-Schicht, aber er wollte unbedingt etwas Zeit mit ihr verbringen. »Dann machen wir eben das.«
»Ich werde auspacken«, sagte sie kalt. »Allein.«
Nate wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Trish war seit ihrem Umzug so furchtbar distanziert und verärgert. Sie hatte nicht hierherkommen wollen, und er hatte sie auf gewisse Weise dazu gezwungen. Doch nach der gestrigen Ohnmacht begann er zu glauben, dass noch etwas anderes mit ihr nicht stimmte … etwas, das über ihre gewaltige Kleinstadt-Allergie hinausging.
Er hatte gehofft, dass sich ihre negative Einstellung geben würde, wenn sie sich erst einmal hier eingelebt hatten. Zugegeben, der Stadt haftete wirklich etwas Altbackenes an. Einige der Bewohner konnten die Vorstellung, dass Scott Bishop jetzt den Gemischtwarenladen führte und den Bier- und Alkoholbereich im Gegensatz zu Earls Vision ausbaute, offenbar kaum ertragen. Das war anscheinend der direkte Weg in die Unzucht.
Nate war außerdem nicht besonders begeistert von dem Umstand, dass seine Nachbarn sich direkt an seinem ersten Tag wegen einer Ruhestörung in seinem eigenen Haus beschwert hatten. Trishs Musikgeschmack war durchaus fragwürdig, das stimmte, denn die meisten ihrer Lieblingsbands waren absolut grässlich und unmusikalisch, aber sie drehte sie immer nur tagsüber auf, wenn es erlaubt war. Er hatte sie schließlich überredet, sie als Zeichen der Solidarität leiser zu drehen – auch wenn das bedeutete, dass die Leute von Gegenüber nun nicht mehr sonderlich scharf darauf waren, zum nächsten Brady-Barbecue eingeladen zu werden.
Ja, es hatte einige Rückschläge gegeben, aber nichts, was man nicht wieder geradebiegen konnte. Alles, was er wollte, war, dass Trish sich bemühte, anstatt dagegen anzukämpfen. Sie verweigerte beinahe jede Unterhaltung, ob es nun um Gartenarbeit, Essenspläne oder, Gott behüte, womöglich die Idee, eigene Kinder zu bekommen, ging.
»Ich könnte dir doch helfen«, sagte er.
Trish lächelte, ihr Blick wurde sanfter und offenbarte einen kurzen Blick auf jene Frau, in die er sich einst verliebt hatte. »Lieber nicht«, sagte sie. »Ich packe jetzt ein paar Kisten aus und dann werde ich mich hoffentlich besser fühlen. Ich brauche deine Muckis nicht, um irgendwas nach oben zu tragen.«
Er ignorierte ihren Sarkasmus, denn ihre Unabhängigkeit hatte ihre Romanze erst richtig zum Lodern gebracht, damals, als sie noch als Bedienung in einem Irish Pub in Lower Manhattan gearbeitet hatte. Nate hatte dort immer nach seiner Streife vorbeigeschaut, angelockt von seinem Durst nach billigem Bier und endlosem Nachschub an Mozzarella-Sticks.
»Das sollte helfen, Ihre Figur zu ruinieren«, waren ihre ersten Worte gewesen, als sie den fettigen Teller vor ihm abgestellt hatte. Nur ihre Mundwinkel hatten ein Lächeln verraten, und Nate hatte sofort gewusst, dass er sie mochte. Sie war nicht sein Typ, und er ganz offensichtlich auch nicht ihrer, aber manchmal konnten Gegensätze nun mal eine immense Anziehungskraft aufeinander ausüben. Ihr rabenschwarzes Haar war kurz gewesen, aber ein paar Locken waren ihr einige Zentimeter in die Stirn gefallen. Kleine Ohren hatten aus den Haaren hervorgelugt und hatten seltsam genug gewirkt, um als liebenswert durchzugehen. Das Mädchen hätte gut und gern ein Vampir sein können, mit ihrer kreidebleichen Haut, dem schwarzen Nagellack und dem dazu passenden Lippenstift, aber all das stand ihr verdammt gut. Ihre Jeans waren zerrissen gewesen und Nate hatte dunkle Spitzenunterwäsche hindurchschimmern sehen können, wenn sie sich auf die richtige Art bewegt hatte.
In dieser Nacht hatte er sie beobachtet und das Aufblitzen von schnellem Witz und Selbstvertrauen bemerkt, was sie attraktiv machte und ihr haufenweise unerwünschte Komplimente eingebracht hatte, die sie aber wie Schiffe an den Klippen eines Leuchtturmes zerschellen ließ. An Trish Sleighton kam man nicht einfach so heran, es sei denn, sie ließ es zu.
Nate ließ sich seufzend auf einen Küchenstuhl fallen und spielte an dem gehäkelten Platzdeckchen herum, während seine Erinnerungen an einfachere Tage mit der harten Realität kollidierten. »Meine Männer führen sich immer noch wie ein paar Aushilfen im Supermarkt auf«, rief er jetzt laut. »Solange ich in der Nähe bin, reißen sie sich anscheinend zusammen, aber kaum kehre ich ihnen den Rücken zu, ist Party angesagt.«
»Dad hat gesagt, du sollst ihnen Gottesfürchtigkeit beibringen.«
»Ich habe ihnen stattdessen das Privileg genommen, das Sonntags-Footballspiel sehen zu können, ist das nicht eigentlich sogar noch viel besser? Steve Maylam muss außerdem sogar die Nachtschicht am Montag übernehmen … ab sofort und bis zum Ende der Saison. Ich denke, das ist schon einmal ein Anfang.«
»Ich mag Maylams Frau«, sagte Trish. »Missy ist die Einzige, die ich in diesem wundervollen kleinen Ort eine Freundin nennen würde. Die einzige Desperate Housewife, die ich hier kenne, die sich lieber über David Lynch als über Kartoffelsalat-Rezepte unterhalten möchte.«
»Wann hast du denn mit deinem Dad gesprochen?«
»Er war heute hier. Er hat mir gesagt, dass du mehr wie er sein sollst und dass sich die Leute schon über uns wundern.«
»Dieser Kerl …«
»… hat dir einen Job besorgt.«
»Und deshalb muss ich automatisch sein Klon werden?«
»Nein, natürlich nicht. Ich habe ihm auch gesagt, dass das vollkommen absurd wäre. Aber du weißt ja, wie er ist. Er hasst es, wenn sich Dinge ändern. Seit er aus dem Rennen ist, weiß er nichts mehr mit sich anzufangen. Aber es ist nett von dir, dass du ihn immer noch vorbeikommen und aushelfen lässt.«
»Es gibt hier wirklich eine Menge Abläufe und Traditionen, an die man sich erst einmal gewöhnen muss«, erwiderte er. »Dein Dad will einfach nur dafür sorgen, dass seine Stadt in guten Händen ist. Um ihn mache ich mir keine Sorgen, ich mache mir eher Sorgen um dich.«
»Du bist so ein Idiot.«
»Und du bist eingerostet. Das Mädchen, das ich einmal kennengelernt habe, hätte mir als Erstes erklärt, dass ich mir um meinen Cholesterinspiegel Sorgen machen sollte und mich dann zum Kistenauspacken verdonnert.«
»Das stimmt«, sagte sie. »Na ja, da du ja auch hier wohnst, kann ich dich ja schlecht rauswerfen.«
»Wenn du deine Phasen hast, ist es echt schwer, zu dir durchzudringen.«
Trish kam jetzt um den Tisch herum und legte ihre weichen Hände auf seine Schultern. »Ich weiß, ich bin eine furchtbare Ehefrau, okay? Ich bin selbstsüchtig, zickig und wahrscheinlich auch ein wenig arrogant. Ich weiß, dass du Probleme mit dem Job hier hast, aber du wolltest ihn unbedingt haben, erinnerst du dich daran? Ich versuche doch nur, geduldig zu sein und darauf zu warten, dass es bei mir endlich Klick macht.«
»Vielleicht ist das ja das Problem. Du sitzt hier herum und wartest darauf, dass dein Leben einen Sinn ergibt, anstatt aktiv etwas dafür zu tun.«
»Das ist nicht so leicht, Nate. Du wusstest immer, was du willst, und hast es bekommen. Aber ich? Ich bin hier so unfassbar weit entfernt von Lesbenbars, Kunstausstellungen und Independent-Filmen. Ich finde es hier einfach nur schrecklich.«
»Weißt du, was wirklich schrecklich ist? Wenn deine Karriere so weit den Bach runtergegangen ist, dass dein Schwiegervater ein paar Strippen ziehen muss, um dir einen Job zu besorgen. Wir hatten uns doch darauf geeignet, dass es für uns die beste Option als Familie ist. Hier gibt es Aufstiegsmöglichkeiten, weitaus bessere als irgendwo in privaten Sicherheitsfirmen arbeiten zu müssen.«
»Aber längst nicht so viel Geld.«
Nate spürte, wie er wütend wurde. Trish wurde sofort bissig, wann immer sich ihr die Gelegenheit dazu bot, und wenn sie erst einmal eine Wunde geöffnet hatte, dann hielt sie das Salz schon bereit. »Gottverdammt. Schon wieder diese Leier? Muss ich dir wirklich erklären, wieso ich bei der Polizei bleiben wollte, anstatt in den privaten Sicherheitsdienst zu wechseln?«
»Tut mir leid, dass ich wieder davon angefangen habe.« Trish warf auf ihrem Weg in den Keller die Arme in die Höhe. »Du musst mich an nichts erinnern, wirklich nicht. Wieso läufst du draußen nicht einfach noch ein wenig Streife und lässt mich hier meine verdammte Arbeit machen?«
»Arbeit? Ha!«, schrie er ihr hinterher, als sie die Tür hinter sich zuschlug. Ihre Schritte verharrten kurz, und ihm wurde bewusst, dass er einen Nerv getroffen hatte. Wenn er sie damit verletzt hatte, dann geschah es ihr ganz recht, denn Trish heilte da unten nicht gerade Krebs, sondern fand nur heraus, dass sie keine zwanzig mehr war und zum Leben mehr gehörte als sich irgendeiner beschissenen Szene zugehörig zu fühlen.
Nates kurzzeitiger Triumph verwandelte sich allerdings schnell in Schuldgefühle, denn das war eine Karte gewesen, die er niemals hatte spielen wollen. Der Umzug war ihr nicht leichtgefallen, das wusste er, aber sie verstand einfach nicht, wie gut sie es eigentlich getroffen hatten. Sie hatten hier ein großartiges Haus, er einen sicheren Job und, was das Wichtigste war, es war ein idealer Ort, um eine Familie zu gründen. Landleben vom feinsten, gute Schulen, eine sichere Gegend und ein starker Gemeinschaftssinn. Forest Grove besaß all das, und er diente den Bewohnern dieser Stadt mit Stolz. Ja, in manchen Dingen waren sie ein wenig altmodisch, aber die Welt veränderte sich stetig, und diese Macken würden sich irgendwann legen.
Nates Bauch knurrte laut. Dann würde er heute Abend eben eines der örtlichen Lokale beehren. Er liebte die großen Pizza-Streifen in Walt’s Pizzeria, aber er aß mittlerweile kaum etwas anderes. Heute war ihm eher nach einem Steak-Sandwich oder nach einem von diesen mexikanischen Käsesteaks, von denen seine Kollegen die ganze Zeit über schwärmten.
Danach würde er vielleicht noch eine Tour durch die Stadt machen. Er versuchte nämlich immer noch, ein Gespür für eine Routine hier zu bekommen. Wer sich am besten wo aufhalten sollte und wann. Wenn er das erst einmal gelernt hatte, würde es bestimmt leichter werden, sofort zu merken, wenn irgendetwas nicht stimmte.
Nate stand also auf, überlegte kurz, ob er Trish Bescheid sagen sollte, wohin er ging, entschied sich dann aber dagegen.
Es interessiert sie ja sowieso nicht, dachte er und ging, ohne ein weiteres Wort.
***
Marcy fühlte sich gut. Sogar besser als gut, um genau zu sein. Ihr Kopf schwamm wegen so viel Kentucky Bourbon, dass sich selbst falsche Entscheidungen mittlerweile wie richtige anfühlten. So wie jene, die Bar gleich mit zwei Kerlen zu verlassen, weil sie sich nicht für einen entscheiden konnte, und einzuwilligen, mit ihnen auf eine Spritztour zu kommen.
Vince fuhr. Die Seitenblicke, die er ihr zuwarf, waren lüstern, doch er schwieg und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Er hatte die ganze Nacht einen Whiskey nach dem anderen getrunken, ihr aber versichert, dass er sich immer komplett im Griff hätte, egal wie viel er getrunken hatte.
»Jeder ist doch in irgendwas gut«, hatte er gesagt und sie angegrinst. »Ich bin eben der weltbeste betrunkene Fahrer.«
Die Absurdität dieser Bemerkung hätte sie noch nicht einmal unter normalen Umständen beeindruckt. Selbst jetzt, in ihrem Zustand, war ihr klar, wie vollkommen verantwortungslos und dämlich sie war, aber ihr alkoholgeschwängerter Schädel schien irgendwie über alles kichern zu müssen, was Vince zu ihr sagte. Dass er auf ihre Bitte hin sein Shirt ausgezogen hatte, konnte vielleicht auch etwas damit zu tun haben. Sie nahm ihren Blick nur dann kurz von seiner wie in Stein gemeißelten Schwimmer-Statur, um sicherzustellen, dass auch Caleb noch so an ihr interessiert war wie Vince. Er saß hinten und hatte die Arme auf der Rückenlehne ausgebreitet, als wäre der Audi eine Lounge. Er musterte sie schweigend aus zusammengekniffenen Augen und bedachte sie mit einem wölfischen Grinsen.
Ich werde mich so was von beiden gleichzeitig rannehmen lassen. Der Gedanke allein ließ sie schon feucht werden. All diese Aufmerksamkeit galt nur ihr allein. Zwei Männer, die um ihre Zuneigung buhlten, und beide versuchten gerade, eine größere Reaktion bei ihr hervorzurufen. Sie schienen bereit zu sein, alles zu geben, weshalb es nur fair war, dass sie das Gleiche tat.
»Jetzt muss ich aber noch mal fragen.« Ihre Worte hörten sich seltsam breiig an. »Wieso fahren wir den weiten Weg hier raus, wenn wir doch zu Calebs Bude hätten fahren könnten? So könnten wir schon längst unseren Spaß haben.«
»Wir sind zu Highschool-Zeiten immer hier rausgefahren«, erklärte Vince. »So wie alle Kids aus der Gegend. Dort gibt es ein altes Camp. Da können wir tun und lassen, was wir wollen, ohne dass wir uns Gedanken darüber machen müssen, gestört zu werden.«
Gestört. Von Freundinnen zum Beispiel. Diese Idioten sollten sich nur nichts darauf einbilden, denn Marcy hatte ihre eigene komplizierte Beziehungskiste an der Schule, und hätte sich Kev nicht als ein solcher Dreckskerl entpuppt, wäre sie heute Nacht auch nicht auf Rache-Sex aus. Dieser Hurenbock hatte nämlich geglaubt, sie würde niemals dahinterkommen, dass er all seine Kolleginnen in der Videothek vögelte. Ihrer Meinung nach würden sie danach quitt sein.
»Da ist die Abzweigung«, rief Vince und versuchte, mit zusammengekniffenen Augen in der absoluten Dunkelheit abseits der Autoscheinwerfer etwas zu erkennen. »Von dort aus ist es nur ein kurzer Weg.«
»Ein altes Camp?«, fragte Marcy zweifelnd und machte damit ihrem Unbehagen Luft.
»Ist doch besser als ein Hotel. Keine Sorge, da gibt es auch Betten«, sagte Caleb, als ob es das Ganze besser machen würde.
Vince lenkte den Audi jetzt auf den Feldweg und schaltete den Motor aus. Marcy stieg auf ihrer Seite aus und ließ ihre Hand sofort über die Beule in Calebs Shorts gleiten. »Wir könnten den ganzen Weg laufen …«
Caleb packte ihren Hintern, drückte fest zu und presste seine Lippen dann in die Kuhle an ihrem Hals.
Marcy zog daraufhin ihr Top aus, ließ es fallen und fuhr durch Calebs Haare, während er ihre Brüste küsste. »… ich glaube allerdings nicht, dass wir es bis dorthin schaffen.«
»Meinetwegen«, sagte Vince, öffnete seinen Gürtel und schlüpfte aus seiner Hose, während er sich den beiden näherte.
Marcy drückte seinen Kopf gegen ihre andere Brust und stöhnte leise, als beide Kerle sie gleichzeitig küssten und liebkosten.
Doch plötzlich durchschnitt ein Lichtstrahl auf dem Pfad hinter ihnen die Nacht. Marcy bemerkte ihn sofort und stieß die beiden Jungen von ihrem Busen weg. Doch diese drängten sich wie hungrige Kälber an sie … je mehr sie sich wehrte, desto stärker.
»Lasst das«, sagte sie schließlich, zog sich von ihnen zurück und suchte in der Dunkelheit hektisch nach ihrem Oberteil. »Da kommt jemand.«
Die beiden Jungs drehten sich daraufhin zu dem Lichtschein um.
»Hey Kumpel«, grunzte Caleb, »hör auf, mir mit dem verdammten Ding genau ins Gesicht zu leuchten.«
Marcy kroch immer noch auf der Suche nach ihrem Top auf dem Boden herum, als hinter der Taschenlampe plötzlich ein Knall ertönte, gefolgt von einem krachenden Platschen irgendwo über ihr. Dann schien Caleb irgendwie aus dem Himmel zu fallen und landete wie eine Tonne Ziegelsteine auf ihrem Rücken. Sie keuchte erschrocken auf, als Caleb von ihrem nackten Rücken rollte und mit einem dumpfen Schlag im Dreck liegen blieb. Sie hatte sich gerade wieder aufgerichtet, als ein zweiter Knall ertönte. Vince Schädel explodierte und klatschte gegen ihre Wange, dann brach er ebenfalls zusammen. Sein Körper zuckte und wand sich zu ihren Füßen und Blut spritzte in gleichmäßigen Abständen aus ihm heraus.
Marcy schrie, als der Killer auf sie zu taumelte und seinen Taschenlampenstrahl auf ihre Füße sinken ließ. Sie machte einen Satz rückwärts und starrte fassungslos die Leichen an. Blutige Löcher klafften in ihren Köpfen und Rauchsäulen stiegen träge aus ihren zerschmetterten Schädeln.
Bevor sie auch nur einen weiteren Ton hervorbringen konnte, blitzte der Pistolenlauf erneut im Mondlicht auf, gefolgt von einem Donnerschlag und einem grellen, blendenden Mündungsblitz.