Читать книгу HOYT - DER KILLER VON FOREST GROVE - Matt Serafini - Страница 6

Kapitel 2

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Melanie Holden erwachte vom Geräusch des Hausalarms. Erschrocken hob sie ihren Kopf vom Kissen. Eine Computerstimme warnte sie gerade, dass die Verandatür geöffnet worden war. Die Stimme wiederholte diese Worte mit einer nervtötenden Gleichgültigkeit, die ihr Kopfschmerzen bereitete.

Sie stieg aus dem Bett und wünschte sich, dass sie eine von diesen Stunden auf dem Schießstand besucht hätte. Die Vorstellung, eine Pistole zu besitzen, war abstoßend für sie. Nicht, dass sie generell etwas gegen Waffen hatte – was dieses Thema anging, war sie unentschlossen – aber sie traute sich einfach nicht zu, im Zweifelsfall verantwortungsvoll genug damit umgehen zu können.

Deshalb lief sie mit einem Baseballschläger aus Aluminium in ihrer Hand in den Flur hinaus. Das Haus war dunkel und nur das Nachtlicht für die Katze leuchtete ihr den Weg. Ihre Füße waren in ein gedämpftes orangefarbenes Licht getaucht, als sie voranschritt und dabei auf der Innenseite ihrer Wangen kaute, um ruhig zu bleiben.

In jedem Zimmer, an dem sie vorbeikam, schaltete sie das Licht an. Als Erstes durchsuchte sie die Küche und die Badezimmer. Dann das Gästezimmer und das Büro, doch alle waren verlassen.

Krächzend erwachte die Alarmanlage erneut zum Leben: »Ms. Holden, ist bei Ihnen alles in Ordnung?«

Sie zögerte noch, Entwarnung zu geben, denn die Verandatür der Küche stand tatsächlich einen spaltbreit offen … so als hätte jemand versucht, einzudringen, war aber von dem Alarm verscheucht worden.

Während die Zentrale es noch einmal versuchte, starrte sie die Tür an. »Ms. Holden, sollen wir die Polizei zu Ihnen schicken?«

Sie drückte die Tür ins Schloss und schob den Sicherheitsriegel vor. Ihr Herz klopfte so schnell, dass sie das Blut in den Ohren rauschen hören konnte. Die Stimme des Alarms sprach weiter mit ihr, aber sie konnte sich nicht mehr darauf konzentrieren.

War das etwa die Nacht, in der er sie endlich gefunden hatte? Doch es war niemand hier, und im Keller konnte sich auch niemand verstecken, da die Tür über einen eigenen Sensor verfügte. Wenn sie geöffnet worden wäre, hätte der Alarm es genauso wie bei der Verandatür mitgeteilt.

Die Sicherheitsfirma ließ nicht locker. Die Stimme verkündete nun, dass man die Polizei zu ihrer Adresse geschickt hatte. Sie hätte ihnen die Fahrt ersparen können, aber dafür fehlte ihr ehrlich gesagt die Zuversicht. Sie würde sich bestimmt besser fühlen, wenn sie hier nach dem Rechten sahen.

Sie brauchte diese Rückversicherung einfach.

Melanie fuhr sich mit der Hand durch ihre glatten blonden Haare und erinnerte sich daran, wie rot und lockig sie einmal gewesen waren. Sie hatte sie kurz nach den Ereignissen in Forest Grove gefärbt, in der Hoffnung, sich nicht mehr wie ein Opfer zu fühlen, wenn sie ihr Erscheinungsbild komplett änderte.

Sie trommelte mit ihren abgekauten Fingernägeln auf die Arbeitsplatte der Küche und zählte dabei die Minuten, bis die Polizei eintreffen würde. Das Gefühl, nirgendwo mehr wirklich sicher zu sein, war sowohl ärgerlich als auch angsteinflößend. Genau wie dieser Traum, den sie gerade geträumt hatte. Kein Wunder, dass sie jetzt dachte, Cyrus Hoyt wäre zurückgekehrt, um sein Werk zu vollenden.

Er ist tot!

Dieses Mantra hatte sie über Jahre hinweg immer wieder wiederholt. Aber in fünfundzwanzig Jahren hatte sie dennoch nie wirklich daran geglaubt. Ihr Psychiater bestand darauf, dass ihre anhaltenden Ängste aufgrund der Art und Weise, wie sie ihm entkommen war, vollkommen normal wären. Er versicherte ihr immer wieder, dass die Ermordung von Hoyt nötig gewesen war und sie sich deshalb keine Vorwürfe machen durfte. Das tat sie ja auch gar nicht. Das eigentliche Problem war, dass Melanie ihn nie wirklich hatte sterben sehen.

Als sie ihm damals einen letzten Blick zugeworfen hatte, als er zusammengeschlagen und blutig am Ufer des Lake Forest Grove gelegen hatte, hatte der Bastard noch geatmet.

Sie lief in ihr Zimmer zurück und griff nach ihrem Telefon. Es war jetzt 3:47 Uhr und an Schlaf war ohnehin nicht mehr zu denken. Lacey, die achtzehn Jahre alt und zur Hälfte Siam-, und zur anderen Hälfte Burmakatze war, stemmte sich auf ihre Vorderpfoten und versuchte die Lage einzuschätzen. Als sie sah, dass Melanie nicht mehr ins Bett zurückkam, steckte sie ihren Kopf wieder unter ihre Brust und schlief einfach weiter.

Du hast es gut, du kleiner Scheißer, dachte sie beinahe neidisch.

Sie brühte sich eine Tasse Kaffee auf, ließ sich damit in einen Sessel fallen und spielte mit ein paar neuen Apps auf ihrem Handy herum, während ihre Gedanken unweigerlich wieder ins Jahr 1988 zurückkehrten. Die Einzelheiten dieser Nacht spukten ihr noch immer durch den Kopf und ließen unzählige blutige Bilder wieder aufleben, denen sie nie wirklich entkommen war.

Zwanzig Minuten später traf die Polizei endlich ein und durchsuchte das Haus gründlich. Sie waren schnell und berichteten ihr von ein paar jugendlichen Gaunern, die in den Vorstädten immer wieder mal ihr Glück versuchten. Es war allerdings unwahrscheinlich, dass sie zurückkehren würden, da sie normalerweise direkt zum nächsten Zielobjekt weiterzogen, wenn es Schwierigkeiten gab. Doch all diese Beteuerungen erschienen ihr leer und beruhigten sie kaum.

Als das Haus durchsucht war und ihr Herzschlag sich ein bisschen beruhigt hatte, war es bereits kurz vor sieben Uhr morgens, und das bedeutete, dass in einer Stunde ihr Unterricht begann. Die Möchtegern-Einbrecher hatten keinerlei Spuren hinterlassen, aber es war ihnen definitiv gelungen, den Schließriegel zu knacken. Selbst die Polizeibeamten mussten zugeben, dass so etwas bei den üblichen kleinen Einbrüchen eher untypisch war. Mehr brauchte sie nicht zu hören und machte sich in Gedanken eine Notiz, dass sie direkt am Nachmittag noch weitere Schlösser an der Verandatür anbringen lassen würde.

Nach einer schnellen Dusche, kürzer als ihr lieb war, leerte sie eine Dose Fancy Feast auf Laceys violetten Teller, kraulte die Katze hinter den Ohren und schnappte sich ihre Lehrertasche. Die Katze miaute anerkennend, und Melanie verschwand durch die Tür.

***

Der Lehrerparkplatz war wie zu jeder Uhrzeit restlos überfüllt. Da vor acht Uhr keine Unterrichtsstunden begannen, hatte Melanie keine Ahnung, wieso ihre Kollegen immer schon so früh da waren. Aber einen guten Parkplatz zu bekommen hatte wahrscheinlich viel damit zu tun.

Sie fand einen freien Platz bei den Wagen der Schüler in einer Seitenstraße und parkte ihren kirschroten LaCrosse daneben. Ihr blieben jetzt nur noch fünf Minuten, um in die vierte Etage der Bibliothek zu gelangen, denn sonst würden die enthusiastischen Schüler schnell denken, dass sie an diesem Tag blau machen könnten.

Es war der letzte Unterrichtstag vor den Abschlussprüfungen, und Melanie konnte kaum erwarten, dass das Semester endlich endete. Die Tage, in denen sie Einführung in den Journalismus unterrichten musste, wären damit gezählt, und sie würde sie bestimmt nicht vermissen. Es war nie ihre Stärke gewesen, und sie hatte nicht vorgehabt, jungen Leuten beizubringen, wie man ein Klatschreporter wurde. Eigentlich hatte sie sich für eine Stelle im Fachbereich Englisch beworben, als eine der anderen Professorinnen krank geworden war. Die Krankheit hatte sich letzten Endes als Krebs herausgestellt, und sie hatte mit ansehen müssen, wie der Krebs einer Frau von sechsundfünfzig Jahren schrittweise das Leben ausgesaugt hatte, und das war alles andere als schön gewesen.

Melanie war nur vierzehn Jahre jünger und hatte nicht vor, in nächster Zeit noch einmal um ihr Leben kämpfen zu müssen.

Die Bibliothek des Campus war um diese Uhrzeit so gut wie leer. Eine der Studentinnen, die freiwillig in der Bibliothek aushalf, saß an der Rezeption und scrollte gerade durch ihren Instagram-Feed. Melanie ließ den Fahrstuhl links liegen und entschied sich stattdessen für die Treppen. Alles, was ihren Puls ankurbelte, kam ihr gerade gelegen, und wenn es auch nur für ein paar Sekunden war.

»Entschuldigt bitte die Verspätung«, rief sie, als sie den Klassenraum betrat. Ihre Schüler zeigten keine sichtbare Reaktion, doch eine unterschwellige Enttäuschung lag in der Luft, als sie ihre Tasche auf dem Tisch ablud und dahinter Platz nahm. Der Rock ihres Kostüms zog sich daraufhin eng um ihre Oberschenkel und bereitete ihr Unbehagen, als sie hastig die Anwesenheitsliste überprüfte.

Sie schloss ihre letzte Stunde mit einer Lektion aus der Bibel ab, und einige der Jugendlichen waren ehrlich erstaunt darüber, dass sie nicht einfach nur andere Personen oder Unternehmen beleidigen durften.

»Aber wieso denn nicht, Professor Holden? Ich meine, das ist doch dann … meine Meinung, oder etwa nicht?«

Das ist geradezu typisch für das einundzwanzigste Jahrhundert, dachte sie.

Die Kids interessierten sich hauptsächlich für die Benotungen ihrer letzten Aufgaben und fanden zugegebenermaßen äußerst kreative Wege, sich im Laufe des Kurses nach diesen zu erkundigen. Als sie schließlich zugab, dass sie diese noch gar nicht korrigiert hatte, wurde ihre Ehrlichkeit mit einer Welle hörbaren Unmuts quittiert.

»Ich muss doch dafür sorgen, dass ihr euch am Donnerstag alle noch einmal hier einfindet, oder etwa nicht?«, sagte sie lächelnd. »Denn dann beginnen die offiziellen Prüfungen und dann bekommt ihr auch eure Arbeiten zurück.« Sie entließ die Klasse fünfzehn Minuten früher, weil sie unbedingt in ihr Büro wollte, um telefonisch einen Termin mit dem Schlüsseldienst zu verabreden.

Melanie überholte jetzt zwei Studenten, die es offenbar nicht so eilig hatten – zwei schmuddelig aussehende Teenager in langärmeligen Pullovern – warf ihnen aber dennoch ein freundliches Lächeln zu. Als sie um die Ecke bog, kommentierten diese, wie hübsch prall ihr Hintern in diesem Rock doch aussah, und ihre Stimmen klangen weitaus lüsterner, als ihr lieb war.

Dieses Teil werde ich bestimmt kein zweites Mal anziehen!

Als sie an der Tür von Rileys Büro vorbeikam, winkte dieser sie herein. Melanie glaubte, einen schwachen Geruch von Patschuli und Gras an ihm wahrnehmen zu können. Wenig überraschend, immerhin trug er gelegentlich auch Schlaghosen und das ohne jede Spur von Selbstironie.

»Kann das nicht warten, Riley?«, fragte sie. »Ich muss für heute Nachmittag einen Termin vereinbaren. Das Ganze ist wirklich wichtig.«

»Nada, Professor.« Er warf Melanie ein Türschild mit der Aufschrift Mittagspause – bin in einer Stunde zurück zu. »Häng das draußen dran und schließ die Tür. Glaub mir, du wirst wissen wollen, was ich dir zu erzählen habe.«

Als sie saß, fischte er ein Dokument aus dem unteren Teil eines Stapels heraus. »Erinnerst du dich noch daran, dass ich mich mal bereit erklärt habe, für diesen Fachbereich den Teilzeit-Admin zu spielen? Mit weniger Mitteln mehr erreichen und so?«

Das tat sie. Denn das gleiche Mantra hatte auch sie in die Fänge des Journalismus getrieben. Bei der trägen Konjunktur im Land musste jeder hier mehr in seine Arbeit hineinstecken, um auf diese Weise die entstandenen Löcher zu stopfen.

»Hör zu, Mel, ich komme am besten gleich zum Punkt, okay? Auch wenn es, na ja, total gegen meine Art ist. Du weißt schon … negative Stimmung und so.«

Melanie war sich sicher, dass ihr die Augen aus den Höhlen quellen würden, wenn sie diese noch etwas weiter aufriss. Riley wollte offenbar auf irgendetwas hinaus, und sie wünschte sich, er würde sich damit beeilen und endlich zum Punkt kommen.

Er schob das Dokument über den Schreibtisch und deutete darauf. »Das ist eine Liste mit allen Sommerkursen.«

Ihr Herz machte unweigerlich einen Satz, als ihr klar wurde, worauf das Ganze hier hinauslief. Morton, dieser Mistkerl, hatte doch wohl nicht wirklich die Dissektion des Epos vom Studienplan gestrichen, oder? Genau jenen Kurs, den sie seit mittlerweile gut zwei Jahren entwickelte und plante und für den im nächsten Monat ein Testlauf anstand. Aber ein Kurs, der seine maximale Anzahl von Teilnehmer an nur einem einzigen Nachmittag erreicht hatte, war wohl noch nicht bereit für das College-Hauptprogramm.

Melanie nahm mit zittrigen Händen den Ausdruck entgegen. Doch Dissektion des Epos war zusammen mit all den anderen Sommerkursen aufgelistet.

Riley musste ihren verblüfften Gesichtsausdruck bemerkt haben, denn er schüttelte den Kopf und wich ihrem Blick aus. »Der Kurs ist noch da«, sagte er leise, »aber du wirst ihn nicht halten.«

Melanie folgte daraufhin mit den Augen der Linie bis zu dem Punkt, an dem der zuständige Professor aufgeführt war. Dort stand tatsächlich nicht HOLDEN. Laut der Liste würde Jill Woreley ihren Kurs abhalten.

»Das ist doch ein Versehen, oder?«

Rileys Gesicht war ungerührt.

»Wie kannst du das wissen?«, fragte sie.

»Weil ich Morton heute Morgen mit Woreley hier getroffen habe. Er hat gesagt, dass er zuversichtlich ist, dass sie der Aufgabe gewachsen sei, einen kleinen Kurs wie diesen zu leiten, und dass dies zu größeren und besseren Aufgaben auf dem College führen würde. Das waren exakt seine Worte.«

Melanie fühlte sich, als hätte ihr jemand in den Magen geboxt. Jill Woreley war eine Hochschulassistentin, genauso wie sie. Vor sechs Jahren hatten sie beide hier angefangen, wobei Melanie drei Monate früher als Jill angestellt worden war. Der einzige Unterschied zwischen ihnen bestand darin, dass man Jill direkt vom College geholt hatte. Das Gerücht, dass ihr Vater maßgeblich an der Wiederwahlkampagne des Bürgermeisters beteiligt gewesen war, hielt sich hartnäckig, und als diese tatsächlich gewonnen war, wurde die unerfahrene Absolventin plötzlich Professorin.

Melanie hingegen hatte ihr Lehrgeld bezahlt und zuvor zwölf Jahre lang als Highschool-Lehrerin gearbeitet. Ein Job mit vielen Nachteilen und nur einer Handvoll Vorteilen. Das hatte sie mit den nötigen Fähigkeiten versorgt, die sie brauchte, um in den Collegebetrieb einsteigen und ihren Studenten eine spannende Lernerfahrung bieten zu können. Zu viele ihrer Kollegen scheiterten daran, ihre Vorlesungen interessant zu gestalten, und diese waren leicht auszumachen. Es waren die Vorlesungen, die nie ausgebucht waren und deren Reihen sich mit fortschreitendem Semester immer mehr lichteten.

Melanie war stolz darauf, es besser zu machen, und sie arbeitete hart daran, ihre Studenten bei Laune zu halten. Sie wollte nicht damit enden, den Stempel als langweilige Lehrerin aufgedrückt zu bekommen, und kämpfte deshalb gegen dieses Stigma an, wann immer sie einen Vorlesungssaal betrat.

Hin und wieder rief sie sogar ihren Eintrag auf RateMyProfessor.com auf, um nachzusehen, ob sie mit dieser Taktik erfolgreich war, denn was waren die ganzen Mühen wert, wenn sie in ihrem Job nicht gut genug war?

»Wo ist Morton jetzt?«

Riley runzelte die Stirn. »Der hat Woreley zum Essen ausgeführt.«

»So ein Mistkerl«, erwiderte sie wütend. »Er hat mir die Erlaubnis gegeben, den Kurs aufzubauen. Er sagte, dass ich absolut freie Hand hätte und dass es ein Sprungbrett für meinen Tenure werden könnte, und jetzt vergibt er den Kurs an das Mädchen, das Beowulf mithilfe eines grässlichen CGI-Films abhandeln wollte?«

»Ich habe damals dabei geholfen, einige der Arbeiten zu kontrollieren«, sagte Riley. »Nicht ein, sondern gleich zwei Essays sprachen den Hauptcharakter von der Sünde frei, mit Angelina Jolie geschlafen zu haben.«

Melanie hielt sich eine Hand vor den Mund und kicherte, aber nur wegen der Absurdität des Ganzen. »Ich kann einfach nicht glauben, dass sie vor mir ihre Tenure bekommt.«

»Nicht einmal Dennis Morton wird dich davon abhalten können. Die Zahlen lügen nicht. Die Studenten lieben dich. Du hast eine hohe Anwesenheitsquote, das Feedback ist durchweg toll, und zwar jedes Semester. Es schadet sicher auch nichts, dass du verdammt süß aussiehst. Ich mag vielleicht vom anderen Ufer sein, aber selbst ich habe mir schon ausgemalt, wie es wäre, bei dir zu landen.«

Riley versuchte daraufhin, ein verführerisches Grinsen aufzusetzen, was Melanie schallend lachen ließ.

»Ich verstehe«, kommentierte er. »Dann bin ich ja froh, dass ich mich nicht für dich aufgespart habe, wenn du meine Annäherungsversuche so offensichtlich nicht ernst nimmst.«

»Ach hör auf, oder soll ich deinem Ehemann erzählen, dass du mich sexuell belästigt hast?«

»Okay, ich habe es ja begriffen.« Riley nahm Melanies Hand in seine. »Das ist nur bürokratischer Irrsinn. Zeig diesem College einfach weiterhin, was für ein verdammter Rockstar du bist. Mehr kannst du nicht tun, aber es wird genügen.«

»Ich weiß nicht, wie viele Arbeiten ich noch publizieren soll und an wie vielen Konferenzen ich noch teilnehmen muss. Ich dachte, sechs Jahre würden genügen, um ganz oben anzukommen, aber offenbar muss man nur jung genug sein und über die richtigen Beziehungen verfügen. Was versteht Woreley denn schon von epischer Lyrik? Ihre Dissertation hatte das Thema Frauenforschung

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Riley. »Wir haben den längeren Atem.«

Melanie wusste Rileys aufmunternde Worte zu schätzen, auch wenn sie ihr aktuell viel zu optimistisch erschienen. Sie durchquerte jetzt den schmalen Korridor, huschte in ihr Büro und hieb dort mit der Faust auf ihren Tisch. Irgendwie war es Jill Woreley gelungen, ihr das Baby abzuluchsen. Ein achtundzwanzigjähriges Flittchen mit regelmäßigen Facebook-Updates wie Feiern mit meinen Bitches, die ganze Nacht!, die mehr damit beschäftigt war, ihre Leber zu ruinieren als an ihren Fertigkeiten zu feilen. Einmal hatte sie sich sogar über das Lesen als solches beklagt, und dass sie den Tag herbeisehnte, wenn dieser Prozess endlich überholt sei.

Meine Damen und Herren, darf ich vorstellen, Ihre Professorin für Dissektion des Epos.

Bis Dennis vom Mittagessen zurückkam, konnte sie nicht viel tun. Sie ging deshalb online und suchte sich die Telefonnummer eines Schlüsseldienstes heraus. Nachdem sie einen Termin vereinbart hatte, erwog sie außerdem die Installation von Außenkameras und begann sich mehr und mehr für die Vorstellung zu erwärmen, auch ihren Garten überwachen zu können.

Sie schloss die Augen und sah ihn sofort vor sich, mit seiner blutverkrusteten Maske und der schartigen Klinge. Sie spürte erneut, wie das Blut in ihren Mund tropfte und ihre Zunge bedeckte, so als wäre es erst gestern gewesen.

Er ist tot! Tu dir das nicht immer wieder an.

Aber Melanie brauchte Gewissheit. Doch so, wie sie den See damals verlassen hatte, konnte niemand ganz genau sagen, ob er nicht mehr lebte. Es war absurd zu glauben, dass Cyrus Hoyt letzte Nacht vor ihrer Tür gestanden hatte, aber der Gedanke allein jagte ihr trotzdem eine Heidenangst ein. Es war viel zu leicht, sich ihn in ihrem Hinterhof vorzustellen. Der Armeemantel, das schartige Messer, die schmutzige Maske … einfach alles.

Es war ein grässlicher Gedanke.

Sie schob ihn krampfhaft beiseite, obwohl sie wusste, dass er immer wieder auftauchen würde … so wie er es jeden Tag seit fünfundzwanzig Jahren tat.

***

Es war kurz nach vier, als Melanie nach Hause kam. Ihr Schlosser wartete bereits in der Einfahrt auf sie. Während er sich direkt an die Arbeit machte, setzte sie sich mit der Absicht an ihren Schreibtisch, endlich diese verdammten Abschlussarbeiten zu korrigieren, konnte sich aber einfach nicht konzentrieren. Kurz darauf fand sie sich auf einer Recherchetour im Internet wieder, wo sie nach Überwachungstechnik suchte.

Nachdem sie sich eine Stunde lang durch Kundenrezensionen und übertriebene Produktbeschreibungen geklickt hatte, entschied sie sich schließlich für einen Festplattenrekorder, der eine ganze Woche Überwachungsmaterial aufzeichnen konnte. Ein High-End-Gerät, das knapp einen Riesen kostete – aber das war nur ein kleiner Preis, wenn sie dadurch nachts ruhiger schlafen könnte.

Sie stellte dem Schlosser einen Scheck aus und legte noch fünfzig Dollar für den schnellen Service obendrauf. Dann ließ sie sich alles zeigen und verabschiedete ihn. Es war jetzt kurz vor sechs und daher an der Zeit, übers Abendessen nachzudenken. Ein Salat schien die beste Option zu sein, dachte sie gerade, als es plötzlich an der Tür klingelte.

Melanie erschrak. Durch das Erkerfenster im Wohnzimmer konnte sie ihren Nachbarn mit einem Bier in der Hand, auf einem fahrbaren Rasenmäher sitzen sehen. Er war nur einen Steinwurf entfernt, also gab es keinen Grund, Angst zu haben.

Cyrus kam schließlich stets bei Nacht.

Sie lief zur Eingangstür, fest entschlossen, den schwarzen Mann aus ihren Gedanken zu verjagen.

Es war Riley, der vor der Tür stand, mit einem Wein-Karton und einer Tüte Sandwiches in den Händen. Er kam herein und drückte seine kratzige Wange an ihre. »Ich musste über deinen Tag heute nachdenken und dachte mir, dass du vielleicht Gesellschaft brauchen könntest. Ich hab auch Wein mitgebracht.«

Das war genau das, was sie jetzt brauchte. »Wein aus dem Tetrapack«, sagte sie lachend. »Das ist ein Kater garantiert.«

»Jap, und mein Ehemännchen hat mir den Abend frei gegeben. Also los, lassen wir es krachen.«

Sie setzten sich an die Küchentheke und futterten die vegetarischen Sandwiches, während der Wein floss. Dabei unterhielten sie sich über belanglose Dinge, was die niederschmetternden Ereignisse des Tages irgendwann zu einem unbedeutenden Hintergrundrauschen verkommen ließ.

Rileys Augen waren bereits glasig, als er eine Tüte Gras hervorzauberte und fragte, ob es okay wäre, wenn er sich einen Joint drehte und reinzog.

»Nur zu«, sagte Melanie. »Vielleicht nehme ich sogar auch einen.«

Als ihnen irgendwann der Gesprächsstoff ausging, kamen sie jedoch unweigerlich wieder auf die Probleme des Tages zu sprechen. Riley nickte anerkennend, als sie ihm von den Kids zu erzählen begann, die ihren prallen Arsch bewundert hatten.

»Sie haben dir hinterher gestarrt und das ist ein Problem für dich? Es sollte dich doch eher trösten, dass es an dir immer noch Dinge gibt, die Teenager gern sehen wollen.«

»Das sind Kinder und ich bin alt genug, um deren Mutter zu sein.«

»Dann eben MILF-Fantasien«, sagte Riley grinsend und zündete sich einen Joint an. Die Küche war innerhalb von Sekunden mit Rauchschwaden durchzogen. »Was könnte für eine Bande verhätschelter Heranwachsender heißer sein als eine reife Frau mit einem Hammerkörper, und genug Lebenserfahrung, um genau dort mit dem Verhätscheln anzusetzen, wo ihre Muttis aufgehört haben?«

»Das ist aber echt zynisch.«

»Wir arbeiten mit zwanzigjährigen Kindern, Mel. Wie oft wirst du in einem Semester von den Eltern dieser Erwachsenen angerufen, weil die sich entschuldigen wollen, weil ihr Kind irgendeine Semesterarbeit verbummelt hat?«

»Und trotzdem soll ich mich geschmeichelt fühlen, wenn mich Sechsjährige gefangen im Körper junger Männer attraktiv finden?«

»Wieso denn nicht?«

»Lassen wir das Thema lieber. Bist du nicht eigentlich hergekommen, um mich aufzuheitern?«

Riley legte seinen Arm um Melanies Schulter und zog sie eng an sich. Sein Aftershave duftete angenehm, und sich an seiner Schulter anlehnen zu können, beruhigte sie.

»Ich hab nachgedacht, Mel, und du solltest mich bitte erst mal ausreden lassen. Da Dennis sich als Volltrottel entpuppt und dich aus der Dissektion-des-Epos-Vorlesung geschmissen hat, habe ich mich gefragt, wie jetzt deine Pläne für den Sommer aussehen.«

Darüber hatte sie sich noch gar keine Gedanken gemacht. Die Vorlesung hätte nämlich den größten Teil des Junis und Julis verschlungen. Nun lagen also drei volle Monate vor ihr, und sie hatte keine Idee, was sie mit ihnen anstellen sollte.

»Okay, also … es ist nur eine Idee, aber … wieso fahren wir nicht nach Forest Grove?«

Melanie hatte das Gefühl, als würde ihr das Herz in die Hose und von da direkt in den Keller rutschen.

»Ich weiß, das klingt verrückt«, sagte Riley. »Es war Aarons Idee, und auch wenn er manchmal etwas unsensibel wirkt, besitzt er gute Beziehungen zu einem Literaturagenten in New York. Letztes Wochenende beim Abendessen sind wir irgendwie auf dich zu sprechen gekommen. Lange Rede kurzer Sinn, der Agent wäre an dem Material interessiert und hat uns garantiert, dass er es für eine nicht unerhebliche Summe an den Mann bringen könnte.«

»Ich habe es dir doch schon hundertmal erklärt, Riley …«

»Ich weiß«, unterbrach er sie schnell. »Das hast du. Du hast gesagt, dass du Glück hattest, dem Camp entronnen zu sein, dass du dir aber nicht sicher sein kannst, ob Cyrus Hoyt wirklich tot ist. Mal abgesehen davon, dass man ihn beerdigt hat …«

»Auf dem Eternal Walk Cemetery«, sagte sie nickend. Das hatte sie über die Jahre hinweg bestimmt ein Dutzend Mal überprüft und sich bestätigen lassen. Aber es half dennoch nichts.

»Du wirst von dem Geist eines Wahnsinnigen verfolgt, den du aber umgebracht hast, meine Liebe. Forest Grove hat das Geschehene längst hinter sich gelassen, du aber nicht. Gäbe es einen besseren Weg, als in sich zu gehen, etwas Schmutz aufzuwühlen und aus deinem Unglück Profit zu schlagen? Das ist Amerika. Das macht hier jeder.«

»Ich werde nicht verfolgt«, antwortete Melanie wenig überzeugend. Riley hatte recht, aber es tat verdammt weh, es hören zu müssen.

Die Aussicht, in jene Gegend zurückzukehren, war alles andere als einladend. Es war dort vielleicht sicher, aber die Erinnerungen an alles, waren immer noch äußerst lebendig … an die helle Holzverkleidung in den Hütten … an das Graffiti in der Außentoilette, welches Wer an Toilettentüren schreibt, auch gern in die Hosen scheißt zu verkünden gewusst hatte … und das malerische Ufer des Sees mit seiner trügerischen Sicherheit.

Und dann waren da noch die Leichen. Jennifers Körper, aufgeknüpft in der Hütte der Mädchen. Ihr heißer, rosafarbener Victorias-Secret-BH war zerrissen und mit Blut bespritzt gewesen. Sie hatten das Ding ein paar Tage vor ihrem Aufbruch nach Forest Grove extra zusammen gekauft, weil Jen für die Jungs vom Land unbedingt hatte gut aussehen wollen. Bills Leiche, die durch das Fenster der Hütte geworfen worden war – Hoyts Versuch psychologischer Kriegsführung.

Schmerzhafte Erinnerungen, die sich extrem verstärken würden, wenn sie erst einmal zurück in Connecticut wäre.

Vielleicht hatte Riley ja recht damit, dass sie die Rolle des Opfers in Dauerschleife abspulte, aber wie sollte sie sich denn sonst benehmen? Es verging nun mal kein einziger Tag, an dem sie sich nicht fragte, was aus Jen geworden wäre. Denn dieses Mädchen hatte immer das bekommen, was sie wollte. Es war also keine Frage gewesen, ob sie es in die New Yorker Modewelt schaffen würde, sondern vielmehr nur wann.

Bill war gut aussehend und stark gewesen und hatte den dämlichsten Sinn für Humor besessen, der ihr je untergekommen war. Er war die Art von Typ gewesen, die einen zum Lachen brachte, selbst wenn man schon drauf und dran war, ihm eine reinzuhauen. Sie mochte es, sich hin und wieder ein Leben mit ihm vorzustellen, ein Vorstadtleben mit drei Kids … die Football-Termine des Ältesten zu koordinieren, damit er kein Spiel verpasste … kinderfreie Samstagabende … sonntags lange Ausschlafen und ein paar Drinks mit den Nachbarn nehmen.

Dinge, die das Leben eben so für einen bereithielt.

Eine Weile schien es so, als würde sie diese Dinge mit Reggie Nolan haben können. Ihrem Ex-Mann. Ein Football-Co-Trainer mit tief sitzenden Aggressionsproblemen, die mit seinen Unzulänglichkeiten zusammenhingen. Melanie hatte seine von Unflätigkeiten bestimmte Herangehensweise an das Coaching immer schon als relativ abstoßend empfunden, sich aber lange Zeit zurückgehalten, so wie Reggie seinen Missmut aus ihrer Beziehung herausgehalten hatte … bis zu dem Tag, an dem er genau das nicht mehr getan hatte.

Selbst jetzt fühlte sich Melanie noch verantwortlich für das Scheitern ihrer Ehe. Hätte sie einen anderen Weg gefunden, das Thema zur Sprache zu bringen, wären die Dinge vielleicht anders verlaufen. Vielleicht hatte er ja etwas Besseres verdient, als eine mitternächtliche Tirade auf der Fahrt von einer Fakultätsfeier nach Hause – genau wie sie die Reaktion nicht verdient hatte, die sie damit provoziert hatte.

Sie erinnerte sich noch lebhaft daran, wie ihr Kopf gegen die Fensterscheibe geknallt war, als er quer über die zweispurige Straße gedonnert, in eine Ausfahrt eingebogen war und ihr dann mit dem Handrücken einen Schlag versetzt hatte. Sie war noch nie zuvor eine Schlampe genannt worden, und das hatte sie irgendwie am meisten verletzt, auch wenn nach dem brutalen Schlag ihr gesamtes Gesicht geschmerzt hatte.

Melanie hatte direkt am nächsten Tag die Scheidung eingereicht, und Reggie war bereits verschwunden, als sie wieder nach Hause gekommen war. Für den Rest des Schuljahres hatte sie ihn nur noch ein paarmal gesehen, und im nächsten Jahr war er nicht mehr an die Schule zurückgekehrt. Vielleicht hatte man ihn auch darum gebeten. Für sie war nur wichtig, dass sie ihm nicht mehr hatte begegnen müssen. Sie war lieber allein, als ein Elend wie dieses erdulden zu müssen.

Riley strich ihr jetzt über die Oberseite ihrer Hand und holte sie damit sanft aus ihrem Tagtraum zurück. »Ich wollte nicht, dass du dich deswegen schlecht fühlst«, beteuerte er, »aber du bist viel zu umwerfend und brillant, um als Gefangene in deinem eigenen Haus zu leben. Du solltest ein neues Leben beginnen und dich nicht an das klammern, was man dir genommen hat.«

»Du weißt doch gar nicht, worum du mich da bittest.«

»Das stimmt«, sagte er. »Lassen wir das Thema jetzt. Aber bitte denke darüber nach. Du hast eine Geschichte zu erzählen und die Leute wollen sie hören. Erinnerst du dich noch an den Notarzt, der dich in jener Nacht behandelt hat?«

Das tat sie tatsächlich. Er lebte jetzt als Autor wahrer Kriminalfälle in Kalifornien. Riley hatte ja recht. Dennis Mortons Fuchtel entfliehen zu können sollte eigentlich Anreiz genug sein. Die Ereignisse jener langen Nacht im Camp Forest Grove aufzuschreiben, reizte sie allerdings nur bedingt, die Vorstellung, damit etwas gegen diesen Wurm in der Hand zu haben hingegen schon. Ganz besonders, falls das Buch tatsächlich ein Erfolg werden würde. Denn dann würde sie jede Schule mit Kusshand aufnehmen, und der Stiftungsrat würde Morton die Hölle heißmachen, damit er die berühmte Autorin des Ortes zufriedenstellte. Das war allerdings ein ziemlicher Ritt, nur um ihren Kurs halten zu können, und es ärgerte sie maßlos, ihn auf sich nehmen zu müssen.

»Kann ja vielleicht nicht schaden, noch mal darüber nachzudenken«, sagte sie deshalb.

***

Melanie verbrachte den Mittwoch verbarrikadiert in ihrem Büro, wo sie mit der Raserei einer akademischen Psychopathin Abschlussarbeiten korrigierte. Zwei Englischtests und zwei Wiederholungen zum Thema Einführung in den Journalismus in weniger als sechs Stunden, und danach noch mal zwei Stunden, um die Gesamtnoten zu bestimmen.

Die Gewissheit, von Dennis hintergangen worden zu sein, wuchs mit jeder Stunde. Normalerweise war es zu einem Teil seiner Endsemester-Masche geworden, für alle Professoren ansprechbar zu sein. Er wollte wissen, wie die Dinge liefen, ob es Probleme mit irgendwelchen Studenten oder eventuelle Streitigkeiten über die Benotung gab, um gegen aufgebrachte Eltern gewappnet zu sein. Doch heute war er nur ein Phantom und seine geschlossene Bürotür sprach Bände über die aktuelle Sachlage.

Riley hatte währenddessen unauffällig in Umlauf gebracht, dass man Melanie die Dissektion eines Epos entrissen hatte, was in einem Strom aus mitfühlenden Gesichtern in ihrem Büro resultierte. Viele Kollegen gaben ihr Zuspruch, was ihr das Gefühl vermittelte, gemocht und respektiert zu werden, auch wenn es an der Sache natürlich nichts änderte. Sie hatte das wichtigste Kapitel ihrer bisherigen Karriere verloren und ihr Boss hielt es offenbar nicht einmal für nötig, sie darüber zu informieren.

Als die letzte Note vergeben war, konnte sie keine weitere Sekunde mehr in diesem Büro verbringen. Um halb fünf galt Dennis immer noch als vermisst. Soweit es ihn betraf, musste er doch denken, dass Melanie immer noch annahm, den Kurs leiten zu dürfen. Es sei denn, er hatte damit gerechnet, dass Riley den Stundenplan gesehen und die Neuigkeiten ausposaunt hatte.

Doch, das klingt tatsächlich ganz nach ihm.

Sie huschte aus dem Gebäude und fuhr nach Hause. Lacey lag zusammengerollt auf der Couch und sah aus, als hätte sie sich seit dem Morgen, als sie das Haus verlassen hatte, nicht mehr bewegt. Sie maunzte ein paarmal, als Melanie ihre Kleidung auszog und sie in den Waschraum warf. Dann sprang die Katze von der Couch und folgte ihr den Flur entlang bis zum Badezimmer, nur um sofort wieder zurückzuflitzen, als sie hörte, wie Melanie die Dusche anstellte. Das kleine Tier war anscheinend immer noch angeschlagen von jenem Tag, als es sich im Schlamm gewälzt hatte und das Fell danach so verfilzt gewesen war, dass es ein Bad gebraucht hatte.

Als sie aus der Dusche kam, fand sie eine Textnachricht von Riley vor. Dennis ist gerade auf dem Campus aufgetaucht. Ich habe gesehen, wie er auf dem Parkplatz eingebogen ist, als ich wegfuhr. Schnapp ihn dir! Zeig‘s ihm! :P

Sie sprang sofort in ein Paar kakifarbene Shorts und streifte ein ärmelloses Shirt über. Ihr blieb nicht viel Zeit, also drehte sie ihre noch feuchten Haare kurzerhand zusammen und setzte eine dunkelblaue Red-Sox-Kappe auf.

Es war beinahe sechs Uhr, als sie den Campus erreichte, und die meisten Lehrer hatten das Gelände bereits verlassen. Der kleine Parkplatz hinter dem Gebäude für Englische Sprache war wie leer gefegt, als sie neben Dennis Wagen parkte. Ihre Wagentür fügte seinem silbernen Lexus womöglich eine kleine Delle zu, aber sie nahm sich nicht die Zeit, nachzusehen.

Er kämmte sich gerade seinen Schnurrbart vor einem kleinen Tisch-Spiegel, als Melanie in sein Büro trat. Sein erschrockener Gesichtsausdruck, gepaart mit dem deutlich sichtbaren Zucken, das durch seinen Körper fuhr, zeugte von absoluter Überraschung.

»Was kann ich für dich tun, Melanie?«, fragte er mit zittriger Stimme.

»Das weißt du ganz genau«, antwortete sie. Solche Dinge waren ihr noch nie leicht gefallen, daher fühlte sie sich unwohl in ihrem Körper und ihre Worte klangen irgendwie zäh und fremdartig. Beiß die Zähne zusammen und mach einfach weiter!

Er seufzte und zog seine Anzugjacke über seinem Bierbauch zurecht. »Das war beileibe keine leichte Entscheidung, Melanie.«

»Dann kläre mich doch bitte jetzt auf«, antwortete sie. »Du warst derjenige, der mich ermutigt hat, den Kurs überhaupt auf die Beine zu stellen. Ich habe zwei Jahre damit verbracht, meine Kenntnisse auf diesem Gebiet zu perfektionieren. Ich habe mich in die Arbeiten Homers, Virgils und Hesiods vertieft. Ich habe recherchiert und darüber geschrieben. Niemand an dieser Schule kennt sich damit besser aus als ich.«

»Weißt du, mit welchem Kurs du während deiner Karriere den größten Erfolg hattest?«

Mit allen, war sie versucht zu sagen … nicht aus Arroganz, sondern weil sie ihren Wert durchaus realistisch einschätzen konnte. Der Beweis dafür fand sich, wie Riley richtig bemerkt hatte, in ihren konstant überfüllten Kursen. Aber sie biss sich auf die Zunge und beantwortete die Frage nur mit einem Schulterzucken.

»Einführung in den Journalismus, wer hätte das gedacht?«, sagte Dennis. »Weißt du, was das Interessanteste daran ist? Du kamst eigentlich als Literaturprofessorin hierher, aber weil du eine Team-Playerin bist, hast du dich des Journalismus angenommen, als das College dich gebraucht hat. Dein Erfolg dabei spricht Bände. Volle Klassen, gigantische Erfolgsraten und Spitzen-Ergebnisse. Wie es scheint, hast du also deine Stärke und deine … Nische gefunden, und ob du es nun zugeben willst oder nicht, aber ich glaube, wir beide wissen, wo du wirklich hingehörst.«

»Dennis, das ist nicht fair. Ich bin damals gern eingesprungen, und ich bin froh, dass man meine Arbeit schätzt. Aber du hast mir persönlich versprochen, dass das Journalismus-Gebiet keine dauerhafte Sache wird. Du hast mir grünes Licht für Dissektion eines Epos gegeben, damit ich mich beweisen kann. Aber jetzt nimmst du es mir einfach weg. Gib mir den Kurs zurück. Bitte.«

Dennis goss ihnen zwei Scotch ein, aber Melanie lehnte ab. Sie wartete auf seine Antwort und erkannte plötzlich, dass es ein Fehler gewesen war, ihn zu bitten.

»Ich habe den Kurs an Miss Woreley gegeben, weil ich sehen will, wie sie sich außerhalb ihrer Komfortzone schlägt. So wie du damals mit dem Journalismus. Sie wird die Erste sein, die sich mit dem Thema auseinandersetzen muss.«

»Das ist Bockmist!« Ihr Blut kochte jetzt. »Wenn du willst, dass sie sich außerhalb ihrer Komfortzone schlägt, dann lass sie von mir aus zwei Jahre lang über Ethik im Journalismus referieren. Aber mich solltest du für meine Arbeit belohnen und mich den Kurs abhalten lassen, den ich ganz allein aufgebaut habe.«

»Ich habe meine Entscheidung bereits getroffen. Auf diese Weise kann ich Miss Woreley richtig beurteilen, ich entschuldige mich aber, wenn ich dich damit verärgert haben sollte. Doch da ich dich als Team-Playerin kennengelernt habe, bin ich mir sicher, dass du meine Entscheidung respektieren wirst.«

Sie kochte immer mehr vor Wut und ihre milchig-weiße Haut war mittlerweile rot angelaufen. Morton konnte auf ihren Wangen gerade bestimmt mehr als ein Dutzend Rottöne zählen. Noch schlimmer war es allerdings, dass ihr Tränen in die Augen stiegen, und das trug dazu bei, dass sie sich noch unwohler fühlte. »Du könntest mich zumindest endlich fest anstellen.«

Er hob das Glas an seine haarigen Lippen … um sein Grinsen zu verbergen, hätte sie schwören können. »Ich fürchte, dass du an diesem College momentan noch nicht fest angestellt werden kannst.«

»Dennis.«

»Da das Budget so schmal ist, kann ich in diesem Jahr nur einen einzigen Professor fest anstellen, und der Ausschuss war einstimmig in seiner Entscheidung, für Jill Woreley als Langzeitinvestition.« Er leerte sein Glas, lief zur Tür und öffnete sie. »Wir können das Gespräch sehr gern während der regulären Bürozeiten fortsetzen.«

Melanie fühlte sich wie erschlagen. Ihr Herz hämmerte, aber sie stürmte ohne ein weiteres Wort hinaus. Wenigstens hatte sie jetzt Gewissheit, auch wenn das nicht dazu beitrug, dass es ihr besser ging. Auf dem Weg zurück zu ihrem Wagen fühlte sie sich hundeelend, so als müsse sie sich jeden Moment übergeben.

Nicht, weil Dennis sie bezüglich ihrer Anstellung übergangen hatte, und auch nicht, weil diese dumme Göre plötzlich wertvoller für die Schule geworden war als sie, sondern, weil sie dadurch genau wusste, was sie als Nächstes tun würde.

***

Am nächsten Tag konnte Melanie an nichts anderes mehr denken, als daran, ihre Arbeit zu Ende zu bringen und dann so schnell wie möglich von diesem Campus zu verschwinden. Sie verteilte die korrigierten Arbeiten, als würde ihr Leben davon abhängen, und entließ die Klasse augenblicklich, als es keine drängenden Fragen mehr gab.

Oh Wunder …

Sie hielt es nicht aus, noch länger an diesem Ort sein zu müssen. Es erinnerte sie auf schmerzhafte Weise an ihr berufliches Scheitern. Daran gab es nichts zu beschönigen, wenn man bedachte, dass ihre Karriere das Einzige war, das sie in ihrem Leben besaß.

Sie räumte gerade ihr Büro auf, als ausgerechnet Jill Woreley an ihre Tür klopfte und hereinkam.

»Das ist gerade kein so guter Zeitpunkt, Jill …«

»Wann ist es das denn schon? Es heißt, du würdest für den Sommer die Stadt verlassen. Ich wollte vorher nur kurz mit dir reden.« Das Mädchen vergeudete wirklich keine Zeit und ließ sich jetzt in einen Sessel fallen. Ihre weißen Shorts rutschten dabei nach oben, als sie ihre Beine übereinanderschlug und ihre bronzefarbenen Oberschenkel beinahe anstößig aneinander rieben.

Melanie spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht schoss, als sie ihren Laptop in ihre Tasche stopfte. »Na schön«, stieß sie verärgert hervor. »Du kannst mich von mir aus zu meinem Wagen begleiten.« Eigentlich hatte sie noch gar nicht vorgehabt, zu gehen, aber nun, da Jill offenbar darauf aus war, es sich hier gemütlich zu machen, fühlte sie sich in ihrem eigenen Büro beinahe wie in einem Bordell.

»Du solltest nicht sauer auf mich sein, Mel.«

Ihre Eröffnung war so unverblümt wie geradeaus und traf Melanie entsprechend unvorbereitet. Bevor sie ihre Überraschung verwunden hatte, war das Mädchen auch schon nicht mehr aufzuhalten.

»Dennis hat Dissektion eines Epos an mich vergeben, warum auch immer. Ich kann doch nichts dafür. Wieso begraben wir das Kriegsbeil also nicht einfach?«

Melanie konnte kaum glauben, was sie da hörte. Ihr fehlten komplett die Worte, allerdings nicht etwa aus Feigheit, sondern vor Schock.

Jill plapperte währenddessen unaufgefordert weiter: »Die Kommission mochte meine Dissertation über die Griechischen Götter als Externalisierung menschlichen Verhaltens. Also tu nicht so, als hätte ich von dem Thema überhaupt keine Ahnung. Ich werde vor dir meinen Tenure bekommen, so einfach ist das, wegen meines frischen Blicks und ein paar neuen Ideen. Du wirst doch jetzt nicht für eine vergiftete Arbeitsatmosphäre sorgen wollen, oder?«

Der Drang, ihr einen Kinnhaken zu verpassen, wuchs stetig, aber Melanie schwieg eisern. Sie liefen jetzt den Rest des Weges schweigend nebeneinanderher, zumindest, bis sie das Gebäude verlassen hatten, denn dann fasste Jill sie an den Schultern.

»Jetzt hör mir mal zu, Mel«, begann sie. »Ich habe keinen Streit mit dir, und du willst ganz sicher auch keine Probleme mit mir bekommen. Es wäre also das Vernünftigste, wenn du mir das Curriculum, das du für den Kurs entwickelt hast, einfach aushändigst, damit ich nicht komplett bei null anfangen muss. Dann könnte ich Dennis auch berichten, dass du sehr kooperativ und hilfsbereit gewesen bist. Das käme den Studenten zugute, würde mir helfen und auch dir nützen, wenn das nächste Mal deine Festanstellung im Gespräch sein sollte.«

Melanie sah auf ihre Schultern hinab. Die Hände des Mädchens lagen immer noch auf ihr. Jill schien jetzt offenbar selbst davon überrascht zu sein, denn sie zog sie zurück, räusperte sich, und dann setzten die beiden ihren Weg fort.

Sie liefen bis zur Straßenecke, wo Melanie geparkt hatte. Sie warf ihre Tasche auf den Rücksitz ihres Wagens und schlug dann die Tür sehr viel energischer zu, als sie es eigentlich beabsichtigt hatte. Ohne ein weiteres Wort setzte sie sich anschließend hinter das Steuer und versuchte die Fahrertür zu schließen, doch Jill packte sie am oberen Türrahmen und zog sie wieder auf.

»Hast du mir denn gar nichts zu sagen?«

»Nein«, erwiderte Melanie. »Viel Glück mit dem Kurs, Jill. Denn du wirst ihn allein halten müssen.«

»Nun komm schon, Mel. Gib mir deine Aufzeichnungen. Das wird es für uns beide sehr viel leichter machen.«

»Ich bin äußerst neugierig, wie du die Sache meistern willst, denn ich werde dir garantiert nicht helfen. Es ist meine Arbeit, und ich werde die Aufzeichnungen nutzen, wenn die Zeit dafür gekommen ist.«

»Deine Zeit ist bereits gekommen … und wieder verstrichen. Dafür kannst du niemand anderen verantwortlich als dich selbst. Du solltest mal besser langsam die Verantwortung für deine Fehler übernehmen, du blöde Schlampe.«

Melanie lächelte nur. Sie fand, dass ihre fragwürdige Entscheidung mittlerweile durchaus berechtigt war. »Das werde ich«, sagte sie. Sie konnte es nun kaum noch erwarten, endlich aus dieser Stadt zu verschwinden.

HOYT - DER KILLER VON FOREST GROVE

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