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Kapitel 1 – Mr. und Mrs. Commodore
ОглавлениеClandestine Prophezeiung des Tloxi-Kontinuums vom 1. Runoff 13,12: »Und kommen wird das Hohe Paar und wird euch in die Freiheit führen. Aber hütet euch: Die Freiheit ist nicht die Freiheit, und auf den Krieg folgt immer der Krieg.«
Am 2. Takshin der Periode 10-293 erhob sich Pater Pu Rhea Bel von seinem Lager und striegelte sein peroxidfarbenes Haar. Er hatte im Stile jener Legenden geträumt, die ein Wiederanknüpfen an die Alte Zeit vorhersahen, und im Sich-Erheben hatte er begriffen, dass der Tag nicht mehr fern sein würde. Er streichelte seinen Meditationskaktus und sah dabei in die zinnoberrot erstrahlende Wüste hinaus. Hart und glanzlos, ein Kegel aus poliertem Platin, stieg die eisig brennende Sonne dieser lebensfernen Welt am Horizont herauf, dass die zinkroten Berge der östlichen Bruchzone Funken sprühten und die geborstenen Felsquader der Großen Ngév ihre violetten Schatten in den Grund schmolzen. Von seinem erhöhten Anwesen ging der Blick nach Süden, Tagesmärsche weit, wo die Stollen und Abraumhalden der Heiligen Minen unter dem Stahllicht lagen, das auch in der finstersten Mittagsglut nicht flimmern würde. Mit den Fingerspitzen zeichnete er langsam die filigranen und zerbrechlichen Glieder seines Kaktus nach und fuhr durch den weißen flaumigen Blütenschopf. Er begriff, dass Großes vor sich ging. Er begriff, dass sich vieles ankündigte. Er begriff, dass die Zeit der Stille vorüber war. Wieder einmal.
Auf der Raumstation Alpha Ceti Tau hatte sich die Katze Morgan schon seit achtundneunzig Umläufen unsichtbar gemacht. Kommandant Borissowitsch studierte missmutig die einkommenden Meldungen. Eher zufällig stieß dabei die Datumszeile in sein verschlafenes und übellauniges Bewusstsein vor. Dann horchte er auf. Drang nicht ein ausgesprochen klägliches Maunzen durch die leeren Stollen und Korridore der einhundertdreißig Teratonnen schweren Orbitalstation? Die Besatzung bestand nur aus zwölf Mann, die sich in dem Koloss aus Titanstahl verliefen wie ein Häuflein Versprengter auf einem eingefalteten und dunklen Kontinent. Ab und zu quälten sich Geräusche durch den ikosaedrischen Leib des Außenpostens, ein Winseln, als sei man in die Eingeweide einer leidenden Kreatur verschlossen. Aber das waren nur die Gezeitenkräfte, die das Artefakt auf seiner Bahn hielten und dabei sachte malträtierten. Und doch schienen sich animalische Laute unter das Stöhnen des Stahls zu mischen. Er stand seufzend auf, ließ die Konsole auf Automatik gehen und machte sich mürrisch auf die Suche.
Jennifer deaktivierte den oszillierenden Warp und ging auf konventionellen Antrieb. Die ENTHYMESIS verließ den Korridor und schwenkte in den Neptunraum ein. Als wären sie schockgefroren, rasteten die Sterne auf ihrer Drift ein und verwandelten sich wieder in den fixen Hintergrund, in die kalt glühende Signatur des Raumes, dessen unstoffliches samtiges Schwarz uns nach allen Richtungen und Dimensionen hin umgab.
»Rendezvous einleiten«, sagte ich.
Jennifer sah nicht von der Konsole des Hauptbedienplatzes auf. Ihr Pferdeschwanz pendelte leicht, als sie eine Anzeige zu ihrer Rechten ablas. Dabei wurde ihr Profil sichtbar, während ich in der Spiegelung der polarisierten Frontscheibe ihr kaum merkliches Lächeln sehen konnte, das wie ein Zahnstocher in ihrem linken Mundwinkel steckte.
»Routine aktiviert«, gab sie zurück.
Es war eine Formalie, dass ich ihr Kommandos gab, die sie längst ausgeführt hatte. Aber auch das gehörte zu den eingefahrenen Spielchen, die wir nach Jahrzehnten der interstellaren Exploration zelebrierten: dass ich Befehle erteilte, die sie um einige Sekunden antizipierte, und dass sie Meldung machte, obwohl das ebenso wenig nötig gewesen wäre.
Vor uns drehte sich die samaragdgrüne Sichel des Neptun, dessen Backbordseite fahl von der fernen Sonne angeschienen wurde. Links unten wanderte die ebenso feine Sichel des Triton langsam in den Planetenschatten hinein. Es war ein Bild von majestätischer Schönheit, das erhabene und lautlose Ballett zweier Körper, die hier seit Jahrmilliarden ihre Pirouetten drehten und die seit wenigen Dekaden die Zeugen menschlicher Aktivitäten geworden waren. Dieser Anblick: Die große heliumblaue und die kleine steinerne Kugel waren uns einmal das letzte Bild gewesen, das ein Verstoßener mit sich nimmt, der über die Schulter hinweg zu dem verschlossenen Stadttor seiner Heimat zurückschaut. Neptun und Triton waren uns wie Cherubim gewesen, die vor dem unbetretbaren Paradies des inneren Sonnensystems wachten, aus dem wir uns selbst nach dem sinesischen Annihilatorangriff vertrieben hatten. Für Jahre war der erdnahe Raum für uns tabu gewesen. Wir hatten in die Diaspora der extragalaktischen Weiten fliehen müssen, um dort den Gegenschlag vorzubereiten, der uns endlich wieder in unsere angestammten Rechte einsetzte.
»Keine weiteren Befehle«, sagte ich halblaut.
Obwohl ich hinter Jennifer saß, nickte ich bekräftigend. Sie konnte mich nicht sehen, aber auch diese Geste kannte sie.
»Leitstrahl aufgeschaltet«, erläuterte sie. »Übergebe an Tloxi-Kontinuum.«
Ich nickte noch einmal. Dann lehnte ich mich zurück. Das konnte jetzt noch einige Minuten dauern. Länger als der Flug von der Erde zur Neptunbahn. Es wurde ganz still auf der Brücke der ENTHYMESIS. Die Automatik blinkte und tirilierte. Rubinrote und strontiumgrüne Lichter flammten auf und erloschen wieder. Die Korrekturdüsen sprachen selbsttätig an und steuerten den Explorer in Feinarbeit auf seinen Annäherungskurs.
Ich warf einen Blick auf die Backbordseite der Brücke, wo einige Tloxi in lautlosem Stand-by verharrten. Sie rührten sich nicht. Nur ihre grün glühenden Augen verrieten, dass sie am Leben, besser gesagt: in Funktion, waren. Im Gegensatz zu Jennifer und mir, die wir von Gravigurten in unseren Sitzen gehalten wurden, standen sie frei und ungesichert da. Sie hatten einfach ihre persönlichen Feldgeneratoren online auf die Schiffsautomatik geschaltet und sie mit ihr synchronisiert. So wirkten stets die gleichen Kräfte auf sie wie auf die ENTHYMESIS. Solange wir nicht an einem Hindernis zerschellten, würden sie an Ort und Stelle bleiben, so als befänden wir uns auf einem festen Himmelskörper und nicht auf einem bulligen Schiff, das mit Mach dreihundert in die Scherkräfte am äußeren Rand des Gravitationstrichters eines Gasriesen eintauchte und schräg zu den Feldlinien in dessen hohen Orbit einschwenkte.
Zwischen ihnen knisterte das telepathische Fluidum, über das sie sich verständigten, wenn sie nicht gerade über Schallwellen mit uns tumben Erdlingen kommunizieren mussten. In gewisser Weise war es so ähnlich wie das wortlose Einverständnis, das zwischen Jennifer und mir herrschte, wenn auch die Informationen, die ihre kollektive Intelligenz dabei verarbeiten konnte, ungleich komplexer waren. Sie konnten sich auch unserer Bordautomatik aufschalten, von der ihre Anweisungen dann wie ein ferner Hall wahrgenommen und transkribiert wurden.
»Rendezvous in drei Minuten«, sagte Jennifer.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder der Frontscheibe zu. Und dann rückte das Ziel dieses Fluges allmählich nahe genug heran, dass wir es mit bloßem Auge wahrnehmen konnten. Anfangs waren es winzige, silbrig perlende Lichtpunkte, die sich vor den gewaltigen blaugrünen Gaswirbeln des Neptun abzuheben begannen. Dann schoben sie sich auseinander, wurden zu Perlenschnüren. Schließlich schuppten sich, wie bei einer Zellteilung, die sich im Zeitraffer vollzog, zwei längliche Strukturen auseinander. Es war, als wenn sich zwei DNS-Stränge voneinander lösten und langsam weiter auseinander schwebten. Gewebe, so zerbrechlich und filigran, dass sie am unteren Ende der Sichtbarkeit angesiedelt waren, aber zugleich so komplex und robust, dass sie den Eindruck unwiderleglicher Macht verströmten.
»Sieh doch …«, sagte Jennifer, und der warme Glanz ihrer Stimme reichte hin, mir die Begeisterung zu vergegenwärtigen, die in ihren Augen loderte. Ich richtete mich in meinem Gravisessel auf, um über ihre Schulter hinweg nach vorne sehen zu können. Selbst in die Gruppe der Tloxi kam Bewegung.
Und dann sahen wir die gewaltigen, kilometerlangen Gerüste, in denen das Skelett der MARQUIS DE LAPLACE II montiert wurde, des Schwesterschiffs unserer treuen MARQUIS DE LAPLACE, deren Jungfernflug zum Sirius geführt hatte und die nun flottgemacht wurde, einige Tausend Galaxien in der Großen Mauer zu erkunden.
Das neue Schiff würde etwas kleiner und bedeutend leichter sein. Die weiterentwickelte Warptechnologie machte es möglich, auf 60 Prozent der Masse des Reaktorblocks zu verzichten. Dennoch war das Titanstahlskelett beeindruckend genug: Über zwölf Kilometer lang hing es in den gravimetrischen Gerüsten, die auf einem hohen Orbit über den blauen Methanwolken des Neptun schwebten. Zehntausende von Tloxi wuselten darauf herum. Sie hatte ihre kollektive Intelligenz mit unseren KI-gestützten Automaten verschaltet und arbeiteten Hand in Hand mit unseren Schweißrobotern, Lastenträgern und Drohnen zusammen. Menschliche Arbeiter waren auf der Baustelle kaum anwesend. Einzig einige Bauingenieure, deren einsitzige Scooter an den gelben Blinklichtern erkennbar waren, schnellten zwischen den Bauabschnitten hin und her und koordinierten die Fortschritte der Arbeiten mit ihren Masterboards. Über Engstrahl kommunizierten sie mit der kollektiven Intelligenz der Tloxi.
Einige Kilometer entfernt, im schwachen Licht des Neptunraums als fernes Glitzern erkennbar, entstand die MARQUIS DE LAPLACE III. Die Arbeiten erfolgten synchron, die Schiffe wuchsen simultan aus ihren stählernen Kokons hervor wie der rechte und der linke Arm eines Embryos, der im Fruchtwasser seiner Geburt entgegenreift.
Pausenlos öffneten sich Warpkorridore, und riesige Schiffe materialisierten aus dem Hyperraum. Es waren Frachter, Transportschiffe, die Millionen und Abermillionen Tonnen Titan und anderer Rohstoffe von unseren Kolonien in allen Teilen der Galaxis herbeischafften. Von Lambdatriebwerken der neuesten Generation gesteuert, durchtunnelten die megatonnenschweren Schiffe in Augenblicken Tausende von Lichtjahren und versorgten die titanischen Schmieden, in denen unsere neuen Schiffe wuchsen, mit Nachschub. Er wurde von den zahlreichen Völkern und Welten bereitgestellt, die wir aus der Diktatur der Sineser befreit hatten und die nun mit uns Handel trieben, oder auch von unseren eigenen Asteroidenminen im Eschata-Nebel, noch jenseits des Kleinen Korridors, weit außerhalb der Milchstraße.
Die Ressourcen mehrerer Galaxien standen zu unserer Verfügung, ausgebeutet vom Ingenium unserer Techniker und dem Fleiß der Tloxi, vertraglich vereinbart mit Dutzenden von Zivilisationen, die wir noch kaum dem Namen nach kannten. Wir wussten bislang nicht viel mehr von ihnen als eben das, dass sie von Sina unterdrückt und versklavt gewesen waren. Wir hatten ihnen die Freiheit geschenkt und sie durch faire Verträge an uns gebunden. Dennoch sahen wir uns unüberschaubarer Fremdheit gegenüber.
Fasziniert ließ ich die Blicke über den kosmischen Bauplatz schweifen. Wenige Tausend Meter neben uns blähte sich der plasmablaue Rüssel eines Warpkorridors auf und spie eine tropfenförmige Cargodrohne aus. Sie materialisierte wie ein Holobild, das sich mit einigen leichten Störungen und Verzerrungen über einem Masterboard aufbaut, und glitt dann an uns vorbei. Es war ein gewaltiges Schiff von mehreren Millionen Bruttoregistertonnen. Seine Form glich der eines Kugelfisches, der sich drohend aufgeblasen hatte. Kurze Stummelflügel trugen die Steuerraketen, die pausenlos feuerten, um die ungeheure Masse auf ihren Rendezvouskurs auszurichten. Hinter dem Dorn des Haupttriebwerkes köchelten die Rückstände der Fusionsprozesse, die es in Augenblicken von einer der Verladestationen bei Eschata I, einige Hunderttausend Lichtjahre entfernt, hierher katapultiert hatten. Es ging vor uns herunter und schwenkte auf die Längsachse der im Entstehen begriffenen MARQUIS DE LAPLACE II ein, die es für die nächsten Tage mit frischem Rohstahl versorgen würde. Das vollautomatische und unbemannte Schiff hatte gewaltig gewirkt, als es lautlos an uns vorbeigezogen war. Jetzt wurde es winzig, als es sich dem unvollendeten Torso der MARQUIS DE LAPLACE näherte. Schließlich war es nur noch ein Tropfen vor der lang gestreckten Konstruktion.
»Das war knapp«, sagte ich.
Jennifer hob vor mir die Schultern.
»Die Warptunnel münden in feste Korridore«, erklärte sie. »Der Leitstrahl hat uns auf Sicherheitsabstand gehalten.«
Ich kratzte mich am Kinn und sah der Cargodrohne nach, die tief unter uns mit dem arbeitsamen Gewusel verschmolz.
»Sicherheitsabstand«, brummte ich. »Zu meiner Zeit …«
Jetzt wandte sie sich doch in ihrem gravimetrischen Pilotensitz zu mir herum und zwinkerte mich fröhlich an.
»Bei unseren ersten Manövern dieser Art war der Mindestabstand zu festen Körpern auf zehn Millionen Kilometer definiert. Heute«, sie nickte zu unseren Passagieren, die mit glühenden Augen in der Backbordabsperrung der Brücke standen, »heute ist man der Meinung, fünftausend Meter seien ausreichend.«
Damit ließ sie ihren Sessel in die Ausgangsposition zurückschnellen. Die Tloxi zwei Armlängen zu meiner Linken verzogen nicht die Miene.
»Mag sein«, sagte ich unbehaglich. Dass wir, zumindest technologisch, zu Juniorpartnern dieser drahthaarigen Knirpse wurden, wollte mir nicht recht behagen. Aber mir war noch etwas anderes aufgefallen. »Zoom!«, sagte ich mit jenem unpersönlichen Tonfall, der auf die Automatik abgestimmt war. »Folge der Cargodrohne über dem Baugerüst!«
Die polarisierende Scheibe vor uns verwandelte sich in einen holografischen Monitor, der jetzt auf den linken unteren Bildausschnitt fokussierte und ihn in einem abrupten Satz heranholte. Wir sahen die tropfenförmige Drohne über den filigranen Auslegern der Elastalstahlträger dahingleiten. Es sah aus wie ein Kugelfisch, der über einen Korallengarten schwimmt. Sein Schatten folgte ihm, immer wieder perspektivisch zerbrochen und zerknickt, über den Rumpf des unfertigen Schiffes. In dieser Vergrößerung sah man einzelne Tloxi und Menschen, die Schweißroboter dirigierten oder automatische Lastenträger anwiesen. Silberne Reflexe blinkten an den metallenen Flächen und Kanten. Die charakteristischen harten Schlagschatten des atmosphärelosen Raumes stanzten schwarze Löcher auf die Planken aus Titan.
»Wo steht die Sonne?«, fragte ich.
Die Automatik unserer braven ENTHYMESIS benötigte für die Antwort keine Sekunde. Tatsächlich hatte sie diese in einer Nanosekunde parat, stellte sie aber lange genug zurück, um sich der trägen menschlichen Aufmerksamkeit versichert zu wissen.
»9:42 Uhr, Azimut: -3,76°.«
Was so viel hieß wie: halblinks unter uns. Wie konnte sie dann auf den Bauplatz, der ebenfalls links unter uns war, Schatten werfen, noch dazu derartig harte Schlagschatten? Wir waren sieben Milliarden Kilometer von unserem Zentralgestirn entfernt.
Ich schüttelte irritiert den Kopf.
»Jetzt weiß ich, was du hast«, schmunzelte Jennifer. Sie schaltete die Steuerbordaußenkamera auf den kleinen Monitor, der in meine Armlehne eingelassen war. Er zeigte einen einzelnen magnesiumweißen Lichtpunkt inmitten der unendlichen schwarzen Finsternis des Raumes.
»Unsere Freunde haben einen kleinen Scheinwerfer aufgestellt«, fügte sie süffisant hinzu.
Ich betrachtete blöde den kleinen weißen Stern und versuchte, Entfernung, Lichtstärke und Energieverbrauch zu überschlagen.
»Sie selbst brauchen das natürlich nicht«, führte Jennifer weiter aus. Es schien ihr wieder einmal Spaß zu machen, mich zu belehren. »Sie orientieren sich mittels Röntgensonar und kommunizieren über Engstrahl. Aber als kleine Aufmerksamkeit gegenüber ihren menschlichen Mitarbeitern haben sie die Baustelle ein wenig ausgeleuchtet.«
Die ENTHYMESIS nahm einen letzten Schwenk vor, der von den Feldgeneratoren abgefedert wurde, sich uns aber dennoch auf unterschwellige Weise mitteilte. Kein Erdenmensch wäre in der Lage, die hauchfeinen Beschleunigungskräfte zu registrieren, mit denen ein Offizier der fliegenden Crew nach einigen Jahrzehnten der interstellaren Exploration auf die leisesten Bewegungen und Manöver seines Schiffes reagierte. Erst einige Sekundenbruchteile später, als das Sichtfeld umherzutaumeln begann, nahmen wir bewusst wahr, was sich uns zuvor schon auf subtileren Kanälen mitgeteilt hatte. Die gewaltige, frei schwebende Baustelle der MARQUIS DE LAPLACE II glitt nach steuerbord davon. Ein im Vergleich dazu winziges Modul schob sich in unser Blickfeld. Es war eine Orbitalstation der neuesten Generation. Die schwerelose Bauhütte dieses Platzes, an dem gerade das ambitionierteste Projekt der unierten Menschheit verwirklicht wurde.
Wir hörten, wie die Bremsraketen zündeten, um die Annäherungsgeschwindigkeit der ENTHYMESIS der Eigengeschwindigkeit der Station anzupassen. Irgendwo zischten pneumatische und hydraulische Vorgänge. Landestutzen wurden ausgefahren, um das Ankoppeln vorzubereiten. Schleusen wurden mit Druckluft geflutet. Schotte geschlossen. Gewaltige Kräfte wurden umgelagert oder absorbiert. Von all dem nahmen wir nichts wahr, was über ein fernes Grummeln und Rumpeln hinausgegangen wäre.
»Rendezvous in 15 Sekunden«, zählte Jennifer. »14 … 13 …«
Man sah jetzt die Landeplattform der Station. Einige Tloxi-Techniker standen bereit. Immer noch war es ein irritierender Anblick, sie ohne Schutzanzüge im freien Raum operieren zu sehen. Aber sie benötigten weder Sauerstoff noch atmosphärischen Druck. Ihre körpereigenen Feldgeneratoren schützten sie vor der kosmischen Strahlung. Sie arbeiteten mit der gleichen Effizienz im Inneren eines Schiffes wie außerhalb. Und über die umständlichen Vorkehrungen unserer Extra Vehicular Activities hätten sie sich nur lustig gemacht, wenn dieses fleißige und genügsame Volk so etwas wie Humor besessen hätte.
Wir setzten auf. Sofort begann es unten zu wuseln. Tank- und andere Versorgungsschläuche wurden an der ENTHYMESIS befestigt. Wir wurden unaufgefordert mit Plasma, Wasser, Sauerstoff und anderem befüllt, das für uns lebensnotwendig war. Eine transparente Gangway aus Elastal wurde herangefahren und an die große Schleuse unseres Explorers angekoppelt. Mit leisem Zischen wurde der Druckausgleich hergestellt.
Einige Augenblicke später marschierten wir den mit Gravinoppen ausgelegten Verbindungstunnel hinunter. Im Vorraum der Schleuse wartete General a. D. Dr. Rogers. Er kam mit stampfenden Schritten auf uns zu und verzog das Gesicht zu einer weit ausholenden Grimasse. Zuerst schloss er Jennifer in die Arme. Seit er auf der Akademie unser Chefausbilder gewesen war, hatten wir ein enges Verhältnis zueinander. Und Jennifer war in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Art von Tochter für den alten Haudegen geworden.
»Schön, dass ihr da seid!«, knurrte er.
Dann begrüßt er auch mich mit einem kantigen Händedruck.
Eine Weile standen wir in enger Umarmung beieinander. Es war kühl in diesem Zwischendeck, das an die Wartehalle eines Provinzflughafens erinnerte. Rogers verströmte einen leichten Whiskeygeruch, und mir schien, dass seine Wangen noch röter, seine stahlblauen Augen noch eine Spur wässriger geworden waren. Für Sentimentalitäten hatte er nie viel übrig gehabt. Deshalb wunderte mich dieses Innehalten bei der Begrüßung, bei der die Sekunden sich zu dehnen begannen.
Die Tloxi, die mit uns gereist waren, kamen die Rampe herunter und gingen wortlos an ihr Tagewerk. Sie gliederten sich in das Arbeitskollektiv ein, das hier draußen gewaltige Schiffe aus dem Nichts erstehen ließ, und wurden von diesem an die Stellen geführt, an denen sie in den kommenden Monaten mit anpacken würden.
Rogers ließ uns los und wandte sich um. Gemeinsam gingen wir ein paar Schritte. Vor der großen Panoramascheibe blieb er stehen.
»Seht euch das an!«, sagte er und breitete die Arme aus.
Wir versanken erneut in den Anblick der MARQUIS DE LAPLACE II, deren unfertiger Titanstahlleib von Myriaden winziger Lichtpunkte umschwärmt wurde. Wie ein Wal in der Korona seiner Symbionten, dünte das Schiff in einer irisierenden Aura helfender Geister, die aus Optochips und Elastalstahlplatten, Schleusenringen und Quantenrechnern, Warpspulen und Feldgeneratoren, Zerokupplungen und Gravipandern einen eigenständigen und autarken Kosmos schufen, der in Kürze zehntausend Mitarbeitern beider Stäbe zur dauerhaften Heimat werden und Milliarden Lichtjahre zurücklegen würde.
»Dass meine alten Augen das noch sehen …«, sagte Rogers, wobei schon ein Gran Ironie in die Ergriffenheit einsickerte. Dann schüttelte er die besinnliche Stimmung endgültig ab. »Aber kommt! Wir sind nicht hier, um uns auf alten Lorbeeren auszuruhen. Es gibt viel zu tun!«
Er klopfte mir auf die Schulter und führte dann Jennifer am Arm den Gang hinunter, wo sich sein kleines Büro befand.
»Kaffee?«, fragte er jovial, als wir in sein neues Reich eintraten.
Ich nickte. Jennifer wünschte sich eine Holunder-Hühner-Milch. Ein junger Kadett, der in einer Regungslosigkeit, die jedem Tloxi Ehre gemacht hätte, bereit gestanden war, klappte zusammen und eilte davon.
Einige weitere Adjutanten waren anwesend, die Rogers uns jetzt mit knappen Gesten vorstellte. Sie verbeugten sich tief und schüttelten uns ehrfürchtig die Hand. Der General nannte uns mit dürren Worten ihre Aufgabenfelder. Er war nicht bei der Sache. Ich sah ihm an, dass er das steife Prozedere so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte.
Mich interessierte der Vorgang umso mehr. Die jungen, glatten Gesichter dieser Ordonnanzen und Offiziersanwärter bestürzten mich. Gerade wenn sie vor Bewunderung leuchteten, las ich darin weniger den Stolz, solch hochdekorierten Helden, wie wir nun einmal waren, persönlich die Hand drücken zu dürfen, als vielmehr das peinlich berührte Staunen darüber, Personen, die sie aus den Geschichtsholos der Akademie kannten, lebendig anzutreffen.
Eine neue Generation von Piloten und Offiziersanwärtern war in der Zwischenzeit herangewachsen, ausgebildet nach dem Sinesischen Krieg, aufgewachsen in einer Union, die mit der Galaxis identisch geworden war, und gewöhnt an den Umgang mit einer Technik, die uns Älteren wie Zauberei vorkommen musste. Wie jede Generation, die einen großen Krieg und eine Epochenschwelle mitgemacht hatte, waren wir viel älter als unsere Jahre, wir erschienen uns manchmal selbst als unsere Ururahnen, die sich unbegreiflicherweise bis in die Gegenwart erhalten hatten, als lebende Fossilien, die durch ihr bloßes Sein von vorsintflutlichen Äonen und unbegreiflich archaischen Landstrichen berichteten. Den Jungen war es eine Selbstverständlichkeit, dass wir mit den Schiffen der III. Generation jeden beliebigen Punkt des Universums erreichen konnten; dabei ahnten sie kaum mehr, dass der bekannte Raum sich noch zu unseren Lebzeiten vervielfacht hatte und dass das Universum unserer Jugend verglichen mit dem heutigen unfassbar eng gewesen war; es würde ihnen im Rückblick klaustrophobisch erscheinen. Heute war jede Welt dieser Abermilliarden Galaxien in den Speichern verzeichnet, und selbst die abgelegensten davon waren im oszillierenden Warp innerhalb weniger Tage zu erreichen. Und das in Schiffen wie den MARQUIS DE LAPLACEs II und III, die gegenüber dem ersten Raumer dieses Namens, dem langjährigen Flaggschiff der Union, um nahezu 60 Prozent ihrer Masse hatten verkleinert werden können. Der Jungfernflug jener MARQUIS DE LAPLACE I, den Dr. Rogers noch persönlich mitgemacht hatte, hatte zum Sirius geführt und war ein mehrjähriges Unternehmen gewesen. Das war den Absolventen eines heutigen Jahrgangs gar nicht mehr begreiflich zu machen.
»In Ordnung«, sagte Rogers barsch. »Kommen wir zur Sache!«
Er wedelte die Stabsangestellten aus dem Raum und wartete, bis die gravimetrische Tür hinter ihnen zurückgeglitten war. Dann hob er seinen Whiskey, und wir prosteten einander mit unseren drei Getränken, die unterschiedlicher nicht hätten sein können, über seinen Besprechungstisch hinweg zu.
»Wir haben einiges vor uns«, brummte er. »Und es wird kein Zuckerschlecken!«
Er kippte seinen Whiskey herunter, sog scharf die Luft ein, wartete bis das Brennen des Alkohols in seinem Rachen nachgelassen hatte, und fixierte uns dann forschend.
»Wie geht es euch?«, fragte er. »Dich, Jennifer, brauche ich nicht zu fragen. Aber du, mein lieber Frank, wirkst etwas – wie soll ich sagen? – derangiert.«
Er grunzte in sich hinein. Dieses Grunzen hatte ich auf dem Ausbildungsplatz zum ersten Mal gehört, vor … vor sehr vielen Jahren.
»Du sitzt ja da wie ein Greenhorn«, grinste er, »das zum ersten Mal im Orbit ist und nicht genau weiß, ob es lachen oder heulen soll!«
»Lass gut sein!«, lachte ich und boxte ihn über seinen Direktorentisch hinweg gegen die Schulter. »Das alles ist nur ganz einfach – unglaublich …«
»Das ist es in der Tat!«, donnerte er. »Aber wir haben keine Sekunde Zeit, uns darüber zu wundern, wie weit wir es gebracht haben.«
Ich rührte in meinem Kaffee. Jennifer legte mir die Hand auf den Unterarm und ließ einen warmen Blick über mich gleiten.
»Frank braucht immer etwas länger«, sagte sie, »bis er eine neue Realität akzeptiert. Und seit er unfreiwillig zum Oberkommandierenden in einem galaktischen Krieg wurde, hat sich sein kontemplativer Zug noch verstärkt.«
Ich feixte und hielt vorläufig die Klappe. Rogers dagegen nickte ernst.
»Es hätte mich nicht gewundert, wenn du dich zur Ruhe gesetzt hättest nach dem großen Tanz. Ein Häuschen in Pensacola, die vielen Sonderprämien verzehren und allmählich an die Memoiren denken. Verdient hättest du es dir. Ihr euch beide!«
Ich hob die Schultern. Die Frage hatte ich mir selber oft genug gestellt. Sie hatte mich manche Nacht gekostet. Wir hatten den schwersten Krieg gefochten und die gewaltigste Schlacht geschlagen, die in den Geschichtsbüchern der Menschheit verzeichnet war. Da durfte man wohl ein paar Tage Urlaub machen.
»Aber jetzt sind wir hier«, brachte ich den Gedanken laut zu Ende.
Rogers klatschte donnernd in die Hände.
»Und daran sehe ich, dass ihr die Alten seid. Selbst meine morschen Knochen hätte es nicht in einem Pflegeheim gelitten.« Wieder breitete er die Arme aus und beschrieb einen raumgreifenden Schwenk über die Panoramascheiben aus polarisierendem Elastalglas. »Das ist unsere Zeit!«
Er kam mir plötzlich wie ein russischer Erdölingenieur vor, irgendwo auf Spitzbergen oder Nowaja Semlja. Die Alkoholfahne, die aufgekrempelten Ärmel, das zerzauste, ungekämmte graue Haar, die aufgedunsenen roten Wangen mit den geplatzten Äderchen unter den wasserblauen Augen: Ich sah ihn vor mir, wie er auf einer Arktisstation vor seinem Blockhaus saß und nach der Polarnacht das erste Sonnenlicht begrüßte. Selbst das Licht hier draußen, das so seltsam hart und fahl war, glich einem Märzenmorgen in den hohen Breiten unseres geschundenen Heimatplaneten. Ach ja, das Licht!
»Was ist das eigentlich …«, fragte ich und verrenkte mir den Hals, um über die gläserne Dachkonstruktion nach jenem beeindruckenden Strahler Ausschau zu halten.
Rogers stand auf und ging zu einem Instrumentenschrank, an dem er eine Skala regulierte. Die Polarisation der Scheiben nahm stark ab. Das Licht, das von oben hereinstand, wurde schmerzhaft.
»Wir nennen es die Tloxi-Sonne«, sagte er leichthin. Er dimmte die Polarisation wieder ab und kehrte an seinen Platz zurück. »Ein selbstregulierender Plasmabrenner. Einige Milliarden Exowatt oder so. Irgendwas mit schrecklich vielen Nullen.«
Er grinste hilflos.
»Direktor Reynolds könnte euch das vermutlich besser erklären. Aber, um ehrlich zu sein: Wir verstehen es noch nicht ganz …«
Eine künstliche Sonne …, stammelte ich innerlich. Und ein Dr. Rogers, der mehrere Jahrzehnte lang die Planetarische Abteilung geleitet und im Zuge der interstellaren Exploration einige Dutzend Welten für die unierte Menschheit in Besitz genommen hatte, dieser Dr. Rogers hob die Achseln und räumte ein, es nicht zu verstehen.
Jennifer schien denselben Gedankengang absolviert zu haben.
»Eine synthetische Sonne?«, fragte sie. »Und die haben sie hier so einfach angeknipst?«
Rogers strahlte jetzt wie ein Vater, der zugeben muss, dass er von seinem Jüngsten im Schach geschlagen wurde.
»Hat sie keine drei Tage gekostet«, kicherte er. »Sie steht exakt über Lagrange 4 bezogen auf Triton und leuchtet uns die ganze Werft hier aus.«
Jennifer und ich wechselten einen Blick. Rogers musterte uns.
»Ich weiß, was ihr jetzt denkt«, sagte er. »Sie sind uns über. Und ich kann nur sagen: Ja, das sind sie in der Tat! Sie haben Jahrzehnte an Vorsprung, selbst wenn wir unsere eigene fulminante Entwicklung der jüngsten Zeit extrapolieren. Vielleicht sogar Jahrhunderte. Und dabei wissen wir noch nicht einmal, ob sie das von den Sinesern gelernt haben oder ob die Sineser sich umgekehrt ihres Ingeniums bedient haben.« Wieder zuckte er mit den Schultern. »Jetzt arbeiten sie jedenfalls für uns!«
Ein lautes Schlürfgeräusch verriet, dass Jennifer ihre Holunder-Hühner-Milch geleert hatte.
»Dann wollen wir hoffen«, sagte sie, »dass sie das auch weiterhin tun.«
»In Ordnung«, stöhnte Rogers mit wegwerfender Miene. »Kommen wir zur Sache?!«
*
»Was hältst du davon?«
Jennifer war aus der Nasszelle getreten. Obwohl der Flug keine dreißig Minuten und die Besprechung bei Rogers kaum eine Stunde gedauert hatte, hatte sie sich bei einer warmen Dusche entspannt. Jetzt trat sie neben mich, nach Rosmarin und Sandelholz duftend, und band sich das durchscheinende Negligé aus Tloxi-Seide vor der Brust zusammen.
Ich stand noch immer vor dem kleinen Bullauge unserer Kabine. Diese glich unserer winzigen spartanische Suite auf der ENTHYMESIS ganz ebenso wie diese unserer Unterkunft auf der MARQUIS DE LAPLACE, die sich wiederum nur unwesentlich von dem genormten Wohncontainer unterschieden hatte, in dem wir während der Akademiezeit gehaust hatten. All das waren Standardzimmer, wie sie auf unzähligen Schiffen und Stationen, Siedlungen und Modulen verwendet wurden. Wir bewohnten das Modell »verheiratetes Offizierspaar der Kommandeursebene, 45+«. Allerdings machte auch das gegenüber dem Silo, in dem wir unsere Ausbildung absolviert hatten, nur einen Raumgewinn von wenigen Quadratmetern aus. Die Einteilung war stets die gleiche. Die Nasszelle, die Instrumentenschränke, die Spinde für den persönlichen Besitz – den jedes Mitglied der fliegenden Crew in einem Handköfferchen transportieren können musste – und die beiden gravimetrischen Matratzen. Es waren Schlafboxen, in denen man kaum mehr Zeit verbrachte als die paar Stunden am Tag, die der Bewusstlosigkeit geschuldet waren. An Privatleben konnte man sich nicht mehr leisten, als man in diesen voll automatisierten Käfigen unterbringen konnte.
Und doch: Indem Jennifer neben mich trat, sich an mich schmiegte, mir die Hand auf die Schulter legte und schweigend mit mir in den Raum hinaussah, fiel mir ein, wie viele kostbare und köstliche Stunden wir in diesem Zimmerchen und seinen Kopien auf den verschiedensten Schiffen und Basen zugebracht hatten.
Wir sahen über die auskragenden Aufbauten des Moduls hinweg, auf dem Rogers seinen neuesten Gefechtsstand aufgeschlagen hatte. Fünfzig Stockwerke unter uns schoben sich die frei schwebenden Landeplattformen gegen die Leere vor. Auf einer davon stand die ENTHYMESIS. Im Cockpit glühte ein schwaches Licht. Einige Tloxi-Techniker machten sich an dem Schiff zu schaffen. Und direkt dahinter, durch einen optischen Sprung zum Spielzeugmäßigen verkleinert, erblickte man das Werden der MARQUIS DE LAPLACE II. Sie würde einmal Jennifers Schiff sein. Aber daran dachten wir in diesem Augenblick noch nicht. Uns beschäftigte etwas ganz anderes.
Unermüdlich waren die Arbeiter und Ingenieure dort zugange. Die Tloxi arbeiteten 20 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Ein kleines Serviceschiff, das in der Nähe der gewaltigen Baustelle schwebte, konnte von ihnen angesteuert werden, um Verschleißteile zu erneuern, Schäden zu reparieren, die bei kleineren Unfällen im freien Raum unvermeidlich waren, und ihre Akkus aufzuladen. Darüber hinaus kannten sie keinen Feierabend und kein Wochenende, keinen Krankenschein und keinen Burn-out.
Die menschlichen Arbeiter hatten einen Dreischichtrhythmus eingeführt, um ebenfalls rund um die Uhr auf der Baustelle präsent zu sein. Sie waren nicht so tolerant gegenüber der Erschöpfung und den Anforderungen dieses Arbeitsplatzes. Es hatte schon einige Todesfälle gegeben, meist nach Unfällen mit Schweißrobotern. Und nach der ersten hochgemuten Phase hatte man den Akkord zurücksetzen müssen, um sich einschleichende Fehler und Flüchtigkeiten zu reduzieren.
Jennifer stand neben mir und wartete noch immer auf eine Antwort.
»Sie sind uns über«, wiederholte ich, was Rogers dazu zu sagen gehabt hatte.
»Ihre Technologie ist der unseren weit voraus«, sagte Jennifer trocken, »und ihre Gesellschaftsstruktur für uns nach wie vor vollkommen opak. Sie lassen sich nicht in die Karten schauen.«
Ich starrte auf das, was in ein paar Monaten das Schwesterschiff der MARQUIS DE LAPLACE sein würde. Man konnte beinahe zusehen, wie die elegante Titanstahlkonstruktion an den selbsttragenden Gerüsten entlangwuchs. Aus dem Reich der reinen Konzeption schlug es sich in die Wirklichkeit nieder. Die Idee kondensierte in Milliarden Tonnen von Stahl und ausgefeiltester Technologie.
»Sie kennen keine Pläne oder sonstigen Aufzeichnungen«, führte Jennifer aus. »Keine Blaupausen, keine Konstruktionszeichnungen, keine Dokumentation. Alles ruht und fließt in ihrem Kontinuum.«
»Können wir nicht …«, ich überlegte, was das angemessene Wort sein mochte. »Können wir nicht mitschneiden, was sie da in ihrem Kollektiv beratschlagen.«
»Sie beratschlagen nicht«, sagte Jennifer. »Nach allem, was wir wissen. Und sie können sich zwar ihrerseits auf unsere Kommunikationsvorrichtungen aufschalten und sich prächtig mit unserer Schiffsautomatik austauschen. Aber dabei geben sie keinerlei eigene Informationen preis. Ihre kollektive Intelligenz, die wir das Tloxi-Kontinuum nennen, ist vollkommen abhörsicher.«
»Beeindruckend«, sagte ich leer. Unwillkürlich hatte ich aufgesehen und die Zimmerdecke abgesucht.
»Man fühlt sich beobachtet«, nickte Jennifer. »Belauscht. Ausgespäht.«
Ich zog die Mundwinkel nach oben.
»Ich habe nichts zu verbergen«, meinte ich. »Das ist es nicht, was mich beunruhigt.«
»Sondern?« Jennifers Frage war rhetorisch. Sie hatte sich abgewandt und die Polarisation der Scheibe verstärkt, sodass der beeindruckende Anblick unsichtbar wurde. Dann ließ sie das durchscheinende Nachtgewand von ihren Schultern gleiten und schlüpfte ins Bett.
»Wir dürfen technologisch nicht zu sehr von ihnen abhängig werden«, sagte ich und schob mich neben sie unter die selbstregulierende Decke. »Sonst werden wir erpressbar.«
»Der Kongress ist ja schon einberufen«, schnurrte sie noch, während ihre Hand an meiner Seite abwärts wanderte, »auf dem das geregelt werden soll. Aber jetzt entspann dich. Morgen ist dein großer Tag!«
*
Am Morgen machte ich mich zerstreut zurecht. In musealer Nacktheit standen wir nebeneinander. Ich rasierte mich, während Jennifer gurgelte. Dann zogen wir die Galauniformen an, die weißen zweiteiligen Anzüge, die nur bei großen Paraden, Empfängen oder Staatsakten getragen wurden. Ich löste die Achselstücke, die mich als Colonel der fliegenden Crew auswiesen, aus den Epauletten. Für einige Stunden würde ich nackt und ohne Rangabzeichen sein. Vielleicht war es das, was mich an diesem Morgen störte. Irgendetwas stimmte nicht. Einen Schritt neben mir machte Jennifer sich fertig. Auch sie im weißen Dress, auch sie mit leeren Schulterklappen, die auf die neue Dekoration berechnet waren. Das harte Weiß der Uniformen ließ sie blass erscheinen, als sie mir geistesabwesend im Spiegel zulächelte. Ihre Miene, ihre ganze Erscheinung – etwas war anders. Ich räusperte mich und strich verlegen an mir herum. Nun, die Ereignisse bei Sina waren an uns allen nicht spurlos vorbeigegangen. Dabei hatten wir eine Phase der Erholung hinter uns. Die Entdeckung jenes fernen Paradiesplaneten kam uns dabei zustatten. Es war uns gelungen, ihn aus den Karten der Union herauszuhalten. Wir waren die Einzigen, die von seiner Existenz wussten. Nur so war es möglich, ihn vor dem Boom des interstellaren Tourismus zu bewahren, der sich quer durch zahllose Galaxien auf die idyllischsten Strände und die majestätischsten Gletscher warf, auf die monströsesten Vulkane und die exotischsten Kulturen. Wann immer wir ein paar Tage freihatten, flogen wir in unserem sinesischen Shuttle zu jener Welt, die jenseits des Großen Korridors lag, und genossen dort die tropische Sonne, das seidige Wasser und die ungestörte Einsamkeit.
»Fertig?«
Jennifer holte mich in die Gegenwart zurück. Ich nickte ihrem Spiegelbild zu, das mich forschend musterte. Irgendetwas stimmte nicht. Sie wirkte hager. Hatte sie nicht gut geschlafen? Natürlich wurden wir alle nicht jünger. Aber ich konnte mich nicht erinnern, wann ihre Züge jemals so kantig – und plötzlich wusste ich!
»Was hast du mit deinem Haar gemacht?«
Sie rempelte mich mit der Schulter an, dass ihr Spiegelbild aus meinem Sichtfeld rutschte.
»Bravo«, tönte sie. »Hat der Herr es doch bemerkt. Ich wäre nicht aus der Kabine gegangen, ehe du nicht von selber draufgekommen wärst, und wenn ich den Rest des Tages hier hätte stehen müssen.«
Ich ließ den Spiegel Spiegel sein und wandte mich ihr in natura zu.
»Aber Jennifer, Liebes«, stammelte ich. »Warum nur …?«
Ihr Pony, den sie so energisch aus der Stirn zu streichen liebte, ihre ewig ungebändigten Strähnen, die sich um Wangen und Ohren ringelten, der Pferdeschwanz, dessen Wippen sensibler als jeder andere Gradmesser anzeigte, was in ihr vorging – alles war verschwunden! Sie hatte sich eine stoppelige Kurzhaarfrisur zurechtgemacht – Wann? Als ich neben ihr gestanden war? –, die eher an Jill Lamberts burschikoses Stachelhaar erinnerte als an das seidige Dunkelblond der Jennifer Ash, in die ich mich in unwiederbringlichen Akademietagen verliebt hatte.
»Sag ja nicht, dass es mir nicht steht!«, vorneverteidigte sie harsch.
Ich strich hilflos an ihren Schläfen herum, legte die Hand auf ihren ausrasierten Nacken. (Sie musste das gemacht haben, während ich unter der Dusche stand.)
»Es macht dich so …«
Alles, was ich sagen konnte, würde natürlich falsch sein.
»… so tough!« Es war ein dummes Wort, aber mir fiel gerade kein besseres ein. Mir fiel überhaupt kein anderes ein.
»Ein Pferdeschwanz passte wohl nicht mehr zu einer ENTHYMESIS-Kommandantin im Rang eines Commodore?«
»Blödmann.« Sie boxte mich vor die Brust. Ich schloss die Arme um sie und biss sie in den Nacken. Die viele nackte Haut an dieser Stelle war ein wenig ungewohnt. Aber vielleicht konnte man sich daran gewöhnen. Plötzlich bekam ich Lust, sie nackt zu sehen, a tergo, wie ihr schlanker, durchtrainierter Rücken in diesen schmalen mädchenhaften Nacken überging.
»Ich will gar nicht wissen, was du jetzt eben denkst!«
Sie machte sich von mir los und zog meine Uniform wieder straff, die unter der Rangelei ein wenig gelitten hatte.
»Pass auf deine Orden auf!«
Wir standen voreinander und zupften und rückten aneinander herum. Die Schlacht von Sina hatte uns beiden den Großen Stern der Union am Band eingebracht, und heute war ein Tag, ihn zu tragen. Daneben diverses anderes Lametta bis hinunter zu den Schützenschnüren und Offiziersnadeln unserer Akademiezeit. Albern, das alles. Aber warum sollte man es verstecken. Wir waren nicht irgendjemand!
»MARQUIS-DE-LAPLACE-Kommandantin im Wartestand«, fügte sie noch hinzu.
Das neue Schiff, das draußen im Entstehen begriffen war, würde das ihre sein, sowie wir von dieser Kongressmission zurück waren.
Ihre Finger waren an meinem Kragen, zogen die Spiegel straff, strichen wie unabsichtlich über mein Kinn. Mir schwante nichts Gutes.
»Deswegen habe ich auch noch ein Attentat auf dich vor.«
Ich seufzte.
»Eine Stunde«, sagte sie. »Länger dauert es nicht.«
Ich schielte nach der Uhr.
»Du müsstest nur auf das Frühstück verzichten.«
»An einem solchen Tag!«, entfuhr es mir. »Und wenn mir nachher auf der Tribüne komisch wird?«
Sie deutete mit den Fingerkuppen einen zärtlichen Klaps auf meine linke Wange an.
»Dir wird nicht komisch. Tu es für mich. Nur dieses eine Mal …«
Was redeten wir überhaupt? Es war ja längst entschieden! Und während wir auf den Gang hinaustraten und uns auf den Weg zur Schleusenkammer machten, setzte sie noch hinzu:
»Du bekommst auf der ENTHYMESIS auch eine Schokoladenmilch!«
Ich ließ mich in den Kommandantensessel fallen und aktivierte die gravimetrischen Gurte.
»Frei schweben!«, sagte ich lustlos. »Dann Kursbestimmung und Kleine Fahrt!«
Ich rührte in meinem Kaffee, der in einem Becher aus selbsterhitzendem Elastin schwappte. Den hatte ich mir auf dem Weg durch die Messe noch schnell aus dem Automaten lassen können. Jennifer hatte sich allen Ernstes für eine Schoko-Knoblauch-Milch entschieden.
Das Schiff begann zu booten. Draußen räumten die Tloxi-Techniker die Serviceschläuche weg. Der Tankstutzen fuhr zurück und versenkte sich in der Plasmakammer der Orbitalstation.
Vor mir schnalzte Jennifer agil auf ihrem Pilotensitz und ratterte mit der Rechten ihre Kennungen in die Konsole. Dann hackte sie die Kürzel der Vorstartroutinen in den Computer. In der Linken hielt sie dabei ihren ekelhaften Frühstücksdrink, aus dem sie hin und wieder laut schlürfende Schlucke sog.
»ENTHYMESIS klar zum Abheben«, sagte sie nach einer Weile.
Die Automatik löste die Gravikupplungen, die den Explorer an der Landeplattform von Rogers’ Modul festgehalten hatten. Durch das Nachgeben der Federungen, die in die sechs klobigen Füße unseres Gefährtes eingelassen waren, stieß es sich ab und schwebte langsam auf. Jennifer wartete, bis die Station einige Hundert Meter unter uns abgefallen war. Dann gab sie Kleine Fahrt auf das Haupttriebwerk und drehte nach Backbord ein.
Vor uns lag die gewaltige, von blaugrünen Wolkenstrudeln bedeckte Halbkugel des Neptun, zum kleineren Teil von der fernen Sonne angeleuchtet. Der größere Teil lag im Dunkel und hob sich schemenhaft vom Sternenhintergrund ab. Davor wanderte die kleine Sichel des Triton scheinbar noch immer in den Planetenschatten hinein. Da die kosmische Baustelle samt Rogers’ Station und der Tloxi-Sonne auf die Lagrangepunkte des Trabanten ausgerichtet waren, folgte ihm der gesamte Apparat auf seiner gemächlichen Wanderung um den Gasriesen herum.
Jennifer drückte die Schnauze der ENTHYMESIS nach unten und beschleunigte auf lächerliche 60 oder 70 Mach. Ich lehnte mich zurück und nuckelte an meinem Kaffee, der nach aufbereitetem Wasser und altem Elastin schmeckte.
»Manuelle Steuerung«, sagte sie. Aber das war lediglich fürs Protokoll. Da unser Ziel schwerlich einen Leitstrahl senden würde, blieb ihr nichts anderes übrig, als die ENTHYMESIS von Hand zu fliegen. Denn eine formelle Kursberechnung lohnte für die paar Kilometer nicht.
Ich sah zur großen Bugscheibe hinaus. Der Torso der MARQUIS DE LAPLACE II kam rasch näher. Die filigranen Stahlstrukturen glitzerten im Licht des künstlichen Sterns, der in unserem Rücken flammte. Dann hupte auch schon die Automatik.
»Einkommender Ruf, nur für den Kommandanten!«
»Freigeben«, sagte ich. »Hier spricht der Kommandant!«
Es knackste in der Leitung, als die Automatik die hereinkommende Anfrage durchschaltete. Dann war die unpersönliche Stimme des Tloxi-Kontinuums zu hören, bei der man unwillkürlich immer die harten grünen Augen und die maskenhaften Gesichter dieser Wichte vor sich sah.
»Hier spricht die Bauleitung! Identifizieren Sie sich! Sicherheitsabstand für Schiffe der Lambda-Klasse fünf nautische Kilometer!«
Jennifer konnte ein Prusten nicht unterdrücken. Ich rang mir ein Schmunzeln ab. Mit einem Tastendruck auf den kleinen Monitor in meiner Armlehne gab ich die verschlüsselte Kennung frei, die unsere IDs samt sämtlicher Daten der ENTHYMESIS überspielte.
»Commander Frank Norton«, sagte ich laut. »Erbitten Einflugerlaubnis in Servicekorridor!«
Es knisterte. Immer überlegte man sich ja, wer da jetzt mit wem beratschlagte und wer am Ende die Entscheidung traf. Es dauerte jedenfalls ziemlich lange, bis die kollektive Superintelligenz sich zu einer Antwort herabließ.
»Der Servicekorridor ist nur für Servicefahrzeuge geöffnet. Laut den offiziellen Frachtpapieren des Explorers ENTHYMESIS führen sie weder Personal noch Material an Bord, das in den Aufstellungen der Servicekräfte verzeichnet wäre. In diesem Fall benötigen Sie eine Sondergenehmigung …«
Jennifer schüttelte unwillig den Kopf. Ha! Das war die trotzige Bewegung, die ihr in Jahrzehnten zur Gewohnheit geworden war. Normalerweise hätte sie ihr den Pony aus der Stirn gewischt, und ihr Pferdeschwanz hätte ihre Schulterstücke gefegt. Davon konnte heute keine Rede sein. Nackt leuchtete ihr weiß rasierter Nacken vor dem polarisierten Sichtfeld, auf das die Automatik die Daten unserer Annäherung projizierte.
»Die wissen wohl nicht, wen sie vor sich haben!«, schimpfte sie.
Wir kamen jetzt schon ziemlich dicht heran. Cargodrohnen und die kleinen Scooter der Bauingenieure kurvten im Raum über der kilometerlangen Großbaustelle herum.
»Sondergenehmigung erteilt«, sagte ich müde, um dem Firlefanz ein Ende zu bereiten.
»Sir?« Das Tloxi-Kontinuum schien verblüfft. Nun, auch das musste man erst einmal hinbekommen. »Sind Sie dazu autorisiert?«
»Hier spricht Frank Norton«, sagte ich. »Kommandant der MARQUIS DE LAPLACE im militärischen Rang eines Commodore, derzeit ranghöchster Offizier in diesem Gebiet …«
»Noch nicht«, kicherte Jennifer leise vor sich hin.
»… und ich erteile mir hiermit selbst die Sondergenehmigung, den Bauplatz zu besichtigen!«
Obwohl ich nicht daran glaubte, dass sich das telepathische Medium der Tloxi auf uns übertragen konnte, meinte ich in diesem Augenblick, so etwas wie ein tausendfaches Innehalten zu spüren. Tausende metallene Hände verhielten für einen Moment in ihrer rastlosen Tätigkeit. Tausende grün schimmernde Augenpaare richteten sich synchron nach jenem kleinen Lichtpunkt aus, der auf die gewaltigen Stahlskelette herabschwebte.
»Entschuldigen Sie, Sir«, surrte es unpersönlich aus der Automatik. »Wir wussten nicht, dass …«
»Ich war noch nicht fertig«, donnerte ich, jetzt im Kasernenhofton. »Pilotin dieses Fluges ist Jennifer Ash, Kommandantin im Rang eines Commodore, die die MARQUIS DE LAPLACE II nach ihrer Fertigstellung als Oberbefehlshaberin übernehmen wird!«
Ein Mensch hätte jetzt eine Niederlage herunterzuschlucken gehabt. Seine Antwort hätte einen Unterton gehabt, sei es einen beleidigten, sei es einen speichelleckerischen. Bei den Tloxi konnte davon nicht die Rede sein.
»Es ist uns eine Ehre«, fuhr das Kontinuum unbeeindruckt fort, »Sie auf der Baustelle begrüßen zu dürfen.«
Das Geschmeicheltsein klang ebenso wenig überzeugend wie zuvor die einschüchternd gedachte Strenge. Für einen Augenblick blitzte die Überlegung durch meinen Schädel, was geschehen wäre, wenn wir uns nicht ausgewiesen hätten. Hätten sie uns abgeschossen? Meines Wissens war das hier Hoheitsgebiet der Union, die als Bauherr beider Schiffe auftrat. Die Tloxi waren lediglich die ausführenden Techniker. Dennoch schienen sie sich als die legitimen Eigentümer anzusehen.
»Bitte gehen Sie längsseits und warten Sie, bis wir Ihnen einen Landeplatz zugewiesen haben. Welcher Bereich interessiert Sie besonders?«
Ich tauschte mit Jennifer, die ihren Sessel herumgeschwenkt hatte, einen fragenden Blick. Aber sie schüttelte nur den Kopf und hob dabei das linke Handgelenk, an dem ihre kleine Sternenuhr prangte.
»Vielen Dank«, sagte ich. »Wir wollen uns nur einen Überblick verschaffen. Geben Sie uns Koordinaten für einen Überflugkorridor.«
»Erfolgt«, schnarrte das Kontinuum im selben Sekundenbruchteil.
Jennifer drückte in gespielter Anerkennung die Unterlippe vor.
»Vielen Dank«, sagte ich noch einmal. Und dann rang ich mir noch folgenden Satz ab: »Sie leisten großartige Arbeit. Die Union ist sehr stolz auf Sie!«
Auch diesmal ließ die Antwort nicht lange auf sich warten.
»Wir sind sehr stolz, Sie beide in unserem Bereich empfangen zu dürfen. Genießen Sie Ihren Flug!«
Ein Summen der Automatik zeigte an, dass die Übertragung unterbrochen war.
Dieser Austausch von Höflichkeiten, dachte ich, hat etwas Asiatisches. Verlassen kann man sich auf derartige Sympathien nicht. Ich erinnerte mich daran, was mir gestern Abend durch den Kopf gegangen war, als wir uns über die Tloxi unterhalten hatten. Sie haben schon einmal gemeutert und mitten in der Schlacht die Fronten gewechselt. Wer sagte uns, dass die Loyalität uns gegenüber dauerhafter war?
Jennifer hatte die Steuerung an die Automatik übergeben, die den Koordinaten folgte, die vom Tloxi-Kontinuum bereitgestellt worden waren.
Die ENTHYMESIS schlug einen Haken und beschrieb eine weit ausholende Schleife. Dann bogen wir, vom Bug her kommend, in die Längsachse der MARQUIS DE LAPLACE II ein. Bei gedrosseltem Tempo – langsam genug, dass wir uns alles ansehen konnten, aber auch zügig genug, dass man uns bald wieder los sein würde – glitten wir über den Torso des neuen Schiffes dahin. Jennifer war aufgestanden und an die große Panoramafront herangetreten. Außerdem hatte sie alle verfügbaren Außenkameras und Scanner der ENTHYMESIS auf ihr neues Mutterschiff ausgerichtet. Ich sah vor mir, wie sie in den kommenden Wochen, wenn wir an diesem langweiligen Kongress herumhingen, die Aufzeichnungen studierte und die Tage zählte, bis sie das herrliche Schiff endlich würde übernehmen können.
Die Steuerungseinheiten in der elegant ausgezogenen Schnauze waren fertig, ebenso die großen Serviceeinrichtungen in den Segmenten II bis IV. Die Wohn- und Schlafmodule, die Gewächshäuser und Proteinfabriken. Die Werkstätten und die Recyclingstationen. Die Vergnügungsdecks und die verschiedenen Außenstellen der Planetarischen Abteilung, die über das ganze Schiff verteilt waren. Das Kleine Drohnendeck war noch halb offen. Man ahnte die kilometerlange Halle, in der einmal Shuttles, Drohnen und geflügelte Tloxi ein und aus gehen, gewartet und betankt werden und sich erneut durch die knisternden Kraftfelder, die die Atmosphäre im Inneren des Schiffes hielten, in den Raum hinauskatapultieren würden. Jenseits der großen Kupplung, die einmal zu Segment V führen würde, gähnte noch die Leere. Lediglich einige Gerüste zeichneten die einstigen Umrisse dessen, was hier entstehen würde, in den Raum. Und etliche Kilometer entfernt blitzten die Schweißarbeiten des Reaktorblocks, der weitgehend fertiggestellt zu sein schien. Von beiden Seiten arbeiteten die Montagetrupps sich aufeinander zu und schufen dabei den Rumpf eines gewaltigen Schiffes, das in nicht allzu ferner Zukunft Jennifers Kommando unterstehen würde.
Die drei gewaltigen Dorne des Haupttriebwerks glitten unter uns hindurch – jeder einzelne um ein Vielfaches größer als die ENTHYMESIS – und sanken nach achtern ab. Wir schwebten in den freien Raum hinaus. Ein Klicken der Automatik verkündete, dass die Tloxi-Steuerung offline gegangen war und dass der Explorer auf neue Kursvorgaben wartete. Es wurde ganz still auf der kleinen Brücke.
Jennifer stand noch immer an der Scheibe und starrte hinaus, obwohl dort außer einigen Servicedrohnen nichts mehr zu sehen war. Ich sah ihr Profil, das hager und asketisch wirkte. Ihr Hals und ihre Wangen hatten etwas Ausgemergeltes, von dem ich mir nicht einzureden vermochte, dass es ausschließlich an der neuen Frisur lag. Ihr Blick war düster und in sich gekehrt. Plagten sie irgendwelche Vorahnungen?
Ein Thema, das wir bei den Vorbesprechungen – im offiziellen wie auch im privaten Rahmen – stets umgangen hatten, war die Tatsache, dass wir langen Zeiten der Trennung entgegensahen, wenn jeder sein eigenes Kommando hatte. Den Oberbefehl über ein Schiff der III. Generation, über eine MARQUIS DE LAPLACE – die bislang immer nur im Singular und mit dem bestimmten Artikel existiert hatte –, ließ man sich nicht entgehen. Ein solches Angebot auszuschlagen, war etwas, was nicht zur Diskussion stand. Und nun waren wir in der komfortablen und ein wenig peinlichen Situation, dass wir beide vor der Erfüllung unserer Wünsche standen, beide den Traum eines jeden Mitgliedes der fliegenden Crew wahr machen konnten. Nur konnten wir es nicht gemeinsam. Dass einer von uns beiden zurückzog und sich als Subkommandeur dem anderen unterstellte, war undenkbar. Allein schon, weil der jeweils andere es ihm nicht gestattet hätte. Ein Leben lang hatten wir auf dieses Ziel hingearbeitet. Jahrzehnte der interstellaren Exploration hatten in letzter Konsequenz diesem Zweck gedient. Einen furchtbaren Krieg hatten wir dafür durchgefochten. Nun konnten wir uns nicht durchgehen lassen, vor dem letzten Schritt zurückzuschrecken. Dass wir beide in diesen höchsten Genuss kommen würden, der einem Offizier der Union vorstellbar war, hatten wir uns selbst noch vor wenigen Jahren nicht träumen lassen. Als die Pläne zum Bau der beiden Schwesterschiffe aufkamen, hatten wir uns kaum dafür interessiert. Unser Schiff war die MARQUIS DE LAPLACE, die MARQUIS DE LAPLACE. Und als die ersten Gerüchte über einen bevorstehenden Kommandeurswechsel die Runde machten, hatten wir uns angesprochen gefühlt, aber jeder hatte den anderen für den Favoriten gehalten.
Dass ich auf der Karriereleiter stets eine Sprosse über Jennifer gestanden hatte, war schlicht und ergreifend der Tatsache geschuldet, dass ich ein paar Jahre älter war als sie. Ich war schon auf der Akademie mit einem gewissen Vorsprung ins Rennen gegangen, und dabei war es während all der Jahre geblieben. Durchgefochten hatten wir immer alles gemeinsam. Und dass sie die beste Pilotin war, die die Union jemals in ihren Reihen gesehen hatte, wurde von niemandem bestritten. Wenn ein Platz zu vergeben gewesen wäre, hätte er ihr zugestanden. Aber nun waren es zwei. Sogar drei. Aber wer einmal den Oberbefehl über die MARQUIS DE LAPLACE III führen würde, stand noch in den Sternen.
Auch der Termin, zu dem wir unterwegs waren, war geheim. Die Vorgänge hier draußen hatten uns nicht interessiert. Erst als jene ominöse Nachricht Dr. Rogers’ eingetroffen war, hatte sich alles geändert.
»Erwarte euch im Neptunhimmel«, hatte er in altertümelndem Telegrammstil gefunkt. Und vage Andeutungen hatten sich angeschlossen, die unsere kühnsten Hoffnungen übertrafen. Jetzt waren wir hier. Ein Gutes hatte der bevorstehende Kongress. Wir würden für die Dauer der Verhandlungen noch zusammenbleiben können.
Jennifer kehrte an den Hauptbedienplatz zurück und nahm ihre Konsole wieder in Besitz.
»Kurs aufs Mutterschiff«, befahl sie der Automatik.
Dann schossen wir, während sich unter uns die blaugrünen Methanwolken der Neptunatmosphäre drehten, in den Raum hinaus. Wieder dauerte es nur ein paar Augenblicke, bis erneut die Bremsraketen ansprachen und unseren Flug verzögerten. Und in diesem Moment war es wie Heimkommen: Vor uns lag das größte Schiff der Menschheit, das Flaggschiff der Union, der gebeutelte Veteran der Schlachten von Persephone und Sina, vor uns lag die MARQUIS DE LAPLACE.
Wir gingen längsseits und reihten uns in den Parkraum ein, wo auch schon die drei anderen ENTHYMESIS-Explorer und einige andere große Shuttles und Lambdadrohnen schwebten. Man musste das Große Drohnendeck vollständig ausgeräumt und leer gefegt haben. Ich spürte, wie mir mulmig wurde. In diesem Augenblick hätte ich doch lieber ein richtiges Frühstück im Magen gehabt statt des fahlen Maschinenkaffees, der mir schon jetzt wässrig aufstieß.
Mit dem Shuttle überwanden wir den halben Kilometer. Dann schwebten wir aufs große Drohnendeck der MARQUIS DE LAPLACE ein. Meine schlimmsten Befürchtungen wurden übertroffen. An der Stirnseite der anderthalb Kilometer langen Halle hatte man eine wuchtige Tribüne aufgebaut, auf der die Honoratioren beider Stäbe und einige Abgesandte der irdischen Stellen Hof hielten. Das Parkett, auf dem für gewöhnlich Triebwerke getestet und Drohnen gewartet wurden, bevölkerten die zehntausend Mitarbeiter, die Kameraden von der fliegenden Crew und die Kollegen der planetarischen Abteilung, die Einwohner der kleinstadtstarken Gemeinde, die die MARQUIS DE LAPLACE war.
Eine Abordnung der Tloxi, nach unseren Begriffen ein halbes Bataillon, stand regungslos Spalier.
Und in einer kleinen Loge, am Rande des Geschehens, erkannte ich Commodore Wiszewsky, den früheren Kommandanten der MARQUIS DE LAPLACE, der mehrere Jahrzehnte der interstellaren Exploration von seinem spartanischen Appartement direkt über der Brücke aus geleitet und den kleinen Staat aus Piloten und Wissenschaftlern wie ein Duodezfürst regiert hatte. Nach der Schlacht von Sina war er demissioniert. Er hatte jedoch darum gebeten, weiterhin an Bord des Schiffes wohnen und es auf seinen zukünftigen Flügen begleiten zu dürfen. Dieser Bitte hatte man gerne entsprochen, zumal er auf der Erde keinerlei Angehörigen mehr hatte und seine ewige Mätresse, die Weißrussin Svetlana Komarowa, nichts dagegen einzuwenden gehabt hatte, auch weiterhin an seiner Seite zu bleiben.
Als wir aus dem Shuttle stiegen, brandete Applaus auf. Eine Blaskapelle spielte die Hymne der Union. Ein paar Ordonnanzen nahmen uns in Empfang und geleiteten uns auf die Tribüne. Dort schüttelten wir eine Viertelstunde lang Hände. Schließlich konnten wir Platz nehmen. Der Festakt konnte beginnen. Abgesandte der Union und der irdischen Stellen hielten Grußworte.
Unter anderem sprach auch Gordon Kauffmann, der ehemalige Referent Seiner Eminenz des Kanzlers der Zivilregierung, der uns die persönlichen Grüße Cole Johnsons übermittelte. Er selbst, Kauffmann, wechselte als Attaché der Zivilregierung zur Union. Er würde uns also auf der MARQUIS DE LAPLACE erhalten bleiben und auch die Passage ins Horus-System mitmachen. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Johnson ihn mit dieser Aufgabe betraut hatte, um ihn los zu sein; er hatte ihn weggelobt. Allzu unverhohlen hatte Kauffmann sich während der sinesischen Krise seinen eigenen Ambitionen gewidmet und sich als potenzieller Nachfolger des Kanzlers ins Gespräch gebracht. Der hatte sich seiner jetzt auf ebenso probate wie elegante Weise entledigt.
Dann kletterte General Rogers ans Rednerpult. Er hielt eine lange pathetische Ansprache, die unseren gesamten Werdegang rekapitulierte und der ich kaum mit einem halben Ohr folgte. Die gemeinsame Zeit auf der Akademie, die Anfänge der interstellaren Exploration, die Konflikte mit den Sinesern, die Verlegung der MARQUIS DE LAPLACE in den extragalaktischen Raum der sternarmen Korridore, unsere Kolonisierung der Eschata-Region, unsere Entdeckung der Dunklen Materie und unsere Verschleppung durch das rätselhafte Museumsschiff direkt in die Höhle des Löwen, nach Sina City, unsere Flucht und unsere wundersame Rückkehr zur Erde, schließlich die Aufstellung der neuen Flotte und die Schlacht um Sina, die mit der totalen Auslöschung dieser aggressiven Zivilisation geendet hatte.
Die ganze Zeit sah ich diagonal über den riesigen Raum und die lauschende Menschenmenge hinweg zu einer zweiten, sehr viel kleineren Tribüne, die man vor einer der Seitenwände aufgeschlagen hatte. Dort wurde, als wäre es ein Ausstellungsstück auf einer Raumfahrtmesse, unser Shuttle präsentiert, das sinesische Shuttle, in dem wir aus Sina City geflohen waren und einmal die Reise um die Welt gemacht hatten. Wir hatten den Radianten des Universums darin ausgemessen. Und da stand es nun, in seiner geduckten, sonderbar gedrungenen Form, die an eine Insektenlarve erinnerte, die kurzen Stummelflügel eng an den stromlinienförmigen Rumpf gepresst, der hinten im charakteristischen stumpfen Dorn des Warptriebwerks auslief. Es war kaum größer als ein Mannschaftsbus. Seine Außenhaut aus KI-gesteuerten Polymeren schimmerte graugrün im Schein der Festbeleuchtung.
Jennifer war meinem Blick gefolgt. Dann war ihr Auge ebenfalls lange mit warmem Glanz auf dem Shuttle gelegen. Unter dem Tisch berührte sie meine Hand.
Dann sah ich wieder zu der kleinen Loge hinüber, auf der Wiszewsky in einem Thron aus rotem Samt saß und nach Art alter Leute mit dem Kopf nickte: Man wusste nicht, stimmte er dem Gesagten aus eigener leidvoller Lebenserfahrung zu – oder konnte er ganz einfach den greisen Schädel nicht mehr ruhig halten. Die Komarowa hockte auf einem Schemel neben ihm. Ab und zu wischte sie mit einem Lätzchen seine Mundwinkel. Der Alte schien ein wenig zu sabbern. Als sie bemerkte, dass wir zu ihr hinübersahen, winkte sie affektiert, wobei sie das Lätzchen als Fahne verwendete, die sie affig schwenkte. Jennifer, die sie seit Jahrzehnten hasste, wandte sich ab. Ich grüßte sie so distinguiert, wie es mir möglich war.
Es schallten Fanfaren, wir mussten nach vorne, zu Rogers’ Rednerpult. Er schüttelte uns unter dem brandenden Beifall der Zehntausend die Hände, schloss uns in die Arme, klopfte uns auf die Schultern, brüllte uns launige Bemerkungen ins Ohr, die wir bei dem Lärm sowieso nicht verstanden; vermutlich war es besser so. Dann brachte er unsere neuen Schulterstücke an, überreichte uns die Ernennungsurkunden und führte uns offiziell in unsere neuen Ämter ein. Mir wurde die MARQUIS DE LAPLACE unterstellt, Jennifer wurde Erste Offizierin und bekam den Oberbefehl über die ENTHYMESIS-Flotte. Sowie die MARQUIS DE LAPLACE II fertiggestellt sein würde, würde sie als Kommandantin auf die dortige Brücke wechseln. Wir wurden beide in den militärischen Rang von Commodores befördert.
Stundenlanges Händeschütteln schloss sich an. Und dann schob sich Laertes’ weißer Haarschopf durch die Menge. Der selbst ernannte Chefideologe zeigte sich heiter wie eh und je. An ihm schienen die Jahre und die dramatischen Ereignisse spurlos vorbeigegangen zu sein. Schon vor Jahrzehnten hatte er als graue Eminenz das riesige Schiff durchstreift, wo es sein konnte, dass er auf seinen philosophischen Spaziergängen für Tage oder Wochen verschwunden blieb. Dann kam er unvermittelt auf die Brücke und verwickelte einen in ein Fachgespräch über die Ontologie oder das Sphärenproblem, mit dem er sich während der letzten Zeit beschäftigt hatte. Besonders mit Jennifer unterhielt er sich gerne über die metaphysischen Aspekte der Prana-Bindu-Trance oder über scholastische Begriffsdefinitionen. Und so tauchte er auch jetzt ganz plötzlich auf und drückte uns die Hände, wobei sein würdevolles Haupt sich zu einem spitzbübischen Zwinkern neigte.
Endlich wurde das Festbankett eröffnet, auf dem ich meinen knurrenden Magen besänftigen konnte. Schließlich Tanz und Feier, die sich über den gesamten Riesenstahlleib der MARQUIS DE LAPLACE ausbreiteten und bis in die Morgenstunden dauerten. Wie es bei solchen Anlässen zu gehen pflegt, hätten wir uns am liebsten mit unseren alten Freunden von der fliegenden Crew unterhalten, wurden aber hauptsächlich bei den Honoratioren weitergereicht. Wir begrüßten den Hohen Rat Xanda Salana, einen schöngeistigen, aber harmlosen Berufspolitiker, der mit Rogers den Kongress zu leiten haben würde, der aber eher ein Weinkenner und Kunstliebhaber als ein ernst zu nehmender Verhandlungsführer war. Zu seiner Entourage gehörte Staatssekretär Dr. Moran Flitebuca, dessen Haarschopf wirr um seinen länglichen Schädel hing. Er galt als Drahtzieher auf dem jungen Feld der interstellaren Politik und stand im Ruf, ein ausgebuffter Profi zu sein. Außerdem der gelbhäutige Kommissar Jorn Rankveil, ein völlig undurchschaubares Individuum. Sie alle redeten endlos auf uns ein. Ich verstand kein einziges Wort. Ab und zu boxte Jennifer mich in die Seite. Dann hatte ich wohl wieder mit allzu offenbarem Desinteresse in die Luft geschaut.
Irgendwann fanden wir uns in unserer Kabine wieder, in der wir während der gemeinsamen Flüge manches Jahr verbracht hatten.
Wieder standen wir vor dem Fenster, dem kleinen Bullauge aus polarisierendem Elastalglas. Noch trugen wir die Uniformen, die durchgeschwitzt und ramponiert waren. Der Wäscheservice würde sich daran beweisen können. Wir hielten schlanke Kelche in der Hand, in denen echter Champagner perlte. Nachdem wir die dröhnenden Ohren und die schmerzenden Augen im Anblick des schweigenden Neptun gekühlt hatten, wandten wir uns einander zu und stießen klingend an.
»Gratuliere«, sagte Jennifer sanft. »Herr Commodore!«
»Gratuliere«, gab ich zurück. »Frau Commodore.«
Wir tranken einen Schluck.
»Wie soll ich dich nennen?«, fragte ich. »Commodora, Commodorin, Mrs. Commodore?«
Sie ließ ihren Kelch sich klirrend an dem meinen reiben, und ihr Mezzosopran vertiefte seine dunkle Färbung um einige Nuancen.
»Sag einfach Darling«, gurrte sie.
Sie leerte ihren Kelch und warf ihn in die offen stehende Lade unseres Serviceschranks. Dann begann sie, meine Uniformjacke aufzuknöpfen.
»Was hast du heute Morgen gedacht?«, fragte sie.
Ich wusste nicht, was sie meinte.
»Als du meine neue Haartracht zur Kenntnis nahmst. Da wurde dein Blick für einen Moment ganz leer, als maltest du dir etwas aus.«
Ich besann mich auf die appetitliche Vorstellung, die mich da überkommen hatte. Genüsslich trank ich mein Glas aus und folgte ihrem Beispiel. Dann machte ich mir an ihrer Uniform zu schaffen.
»Dieses verklärte Grinsen«, gluckste sie. »Genau wie jetzt!«
Ich sagte es ihr.
»Sooo«, säuselte sie lang gezogen.
Sie stieß mich zurück und hielt mich mit vorgestreckter Hand auf Distanz. Dann schlüpfte sie aus den Schuhen und legte Stück für Stück die Uniform ab. Als sie nackt war, kroch sie aufs Bett und rekelte sich dort auf allen vieren. Sie machte einen Buckel und fauchte wie ein böses Kätzchen. Dann drehte sie die Hüfte heraus, machte ein Hohlkreuz und zog den Kopf zwischen die Schultern. Ich ließ die flache Hand an ihrer Wirbelsäule nach oben wandern, bis ich sie um ihren glatt rasierten Nacken schließen konnten.
»Ich glaube«, sagte ich, »ich werde mich daran gewöhnen.«
Die nächsten Wochen vergingen mit der Inbetriebnahme der generalüberholten MARQUIS DE LAPLACE. Das Schiff war abgespeckt und verschlankt worden. Altertümliche Technologie, vor allem im Bereich des Reaktorblocks, war entrümpelt worden. Stattdessen hatten es die Tloxi an nichts fehlen lassen, um das gute alte Flaggschiff der Union mit allem auszurüsten, was bei ihnen State of the Art war. Steuerung und Kommunikationseinrichtung, Antrieb und wissenschaftliche Ausstattung – alles war umgekrempelt, ausgetauscht und aktualisiert worden. Im Grunde war es ein neues Schiff; es würde ein zweiter Jungfernflug sein, zu dem aufzubrechen wir kaum erwarten konnten. Umso bedauerlicher war es, dass der Marschbefehl nur einer politischen Mission galt, jenem obsoleten Kongress, den man im Horus-System einberufen hatte und zu dem wir unsere Delegation als imposanter Begleitschutz und repräsentative Eskorte zu chauffieren hatten.
Die Jahre der Diaspora, die Zerlegung im Zuge der Kolonisation, das Schlachtgeschehen und die Umrüstung waren nicht spurlos an dem Schiff vorbeigegangen. Der Raumer wirkte – trotz neuer Elastalstahlpolituren und KI-aktiver Tloxi-Abschirmungen –angestaubt und zusammengeflickt. Ab und zu, wenn unsere Dienstpläne es uns erlaubten, nutzten Jennifer und ich die Gelegenheit, in einem Shuttle zu den Baustellen der Schwesterschiffe hinüberzufliegen. Und ich konnte mich dann eines Anfalls von Neid kaum erwehren, wenn wir von der silberblitzenden und noch eleganteren MARQUIS DE LAPLACE II zu unserem alten Mutterschiff zurückkehrten, das grau und geschunden im trüben grünen Licht des Neptunraumes hing. Sicherlich trug auch das harte Licht der Tloxi-Sonne, das über dem Bauplatz strahlte und das den Parkraum der MARQUIS DE LAPLACE I nur abgeschwächt erreichte, zu diesem wenig vorteilhaften Eindruck bei. Vielleicht war es aber auch eine Alterserscheinung. Wir selber waren grau und krumm geworden. Wir mussten uns mit dem Gedanken anfreunden, dass wir Veteranen waren, keine Kadetten mehr. Immer wieder überraschte mich, wenn ich die vielen jungen Gesichter auf den Gängen der MARQUIS DE LAPLACE sah, die geschäftige und unbekümmerte Art, die sie ausstrahlten. Eine sonderbar abgebrühte, pragmatische und uniforme Generation war da herangewachsen, die sich auf die Stirn geschrieben zu haben schien, sich durch nichts und niemanden beeindrucken zu lassen. Natürlich waren auch wir als Ziehkinder des Chefausbilders Rogers jung und selbstbewusst gewesen. Aber wir hatten den Älteren immer den ihnen gebührenden Respekt gezeigt. Davon war bei diesen Offiziersanwärtern und Nachwuchspiloten nichts zu spüren. Mehr als einmal rempelte mich einer von ihnen in einer der Durchgangsschleusen an, die von einem Segment des Schiffes zum nächsten führten. Sie hasteten weiter, kaum dass sie sich eine genuschelte Entschuldigung abrangen.
»Du hättest wohl gerne, dass sie sich verneigen?«, spottete Jennifer, als sie meine Verstimmtheit über einen solchen Vorgang bemerkte.
Nun, wir hatten uns seinerzeit vor Commodore Wiszewsky verneigt, der umgekehrt die Huldigungen seiner »Untertanen« wie ein Barockfürst entgegenzunehmen pflegte – mit der standesgemäßen Mätresse an seiner Seite. Und wenn wir ihn in einem der Durchgänge – in denen er sich freilich kaum jemals sehen ließ – über den Haufen gerannt hätten, wären wir vor Scham in den Boden versunken.
Das alles war sehr fremd. Wir verloren zwangsläufig auch den Kontakt zu den Jüngeren, den neuen Kräften. Jennifer, die kommissarisch die Oberaufsicht über die ENTHYMESIS-Flotte führte, ging es dabei nicht ganz so wie mir. Ich spürte bei den alten Kameraden eine gewisse Reserve, während ich von den jüngeren kaum noch jemanden kannte. Jennifer wies die neuen Crews in ihre Aufgaben ein. Mir gelang es kaum noch, mir die Namen der jugendlichen Kommandanten einzuprägen, geschweige die der nachgeordneten Piloten oder Bordingenieure. Als wir selbst ENTHYMESIS-Kommandanten gewesen waren, hatte es uns verstimmt, wenn Commodore Wiszewsky uns einen wie den anderen behandelte und unsere Namen durcheinander brachte. Mehrere Jahrzehnte lang war es unser Ehrgeiz gewesen, aus dieser Anonymität auszubrechen und uns einen Namen zu machen, den niemand mehr vergessen würde – nicht einmal der zunehmend vertrottelnde Wiszewsky.
Jetzt standen wir auf der anderen Seite und sahen, wie schwierig es war. Die Besatzung der MARQUIS DE LAPLACE betrug zehntausend Männer und Frauen. Und allein die Führungsoffiziere beider Stäbe zählten nach Hunderten. Kein Mensch konnte sich das alles einprägen. So kam es, dass unser Umgang zunehmend unpersönlich und formal wurde. Der Dienstgrad ersetzte den Namen, der militärische Rang musste für die persönliche Referenz einstehen. Wir hatten die höchste Sprosse der Leiter erklommen. Jetzt begriffen wir, dass dies zugleich die letzte war.
Tatsächlich hatten wir kaum Zeit, solchen oder anderen Gedankengängen nachzuhängen. Die Vorbereitung der neuen Mission erforderte unsere ganze Konzentration. Ein de facto neues Schiff mit einer de facto neuen Mannschaft war in Dienst zu stellen. Hinzu kamen die politischen Erwägungen im Vorfeld des Kongresses. Rund um die Uhr saßen die Staatsrechtler und Verfassungslehrer, die Regierungsbeauftragten und Hohen Kommissare zusammen und beratschlagten, welche Anträge einzubringen und welche Reaktionen darauf zu gewärtigen sein würden. Ganze Sitzungen, nächtelange Marathonverhandlungen wurden durchgespielt, um alle Eventualitäten einkalkulieren zu können. Wie würde man beginnen? Was konnte die Gegenseite hierauf sagen? Wie würde sie sich dazu verhalten? Was, wenn sie zustimmte? Was, wenn sie ablehnte? Mit welchen Argumenten würde sie dies untermauern können? Was würden wir dem wiederum entgegenzusetzen haben? Und immer so fort. Kopfstarke Delegationen redeten sich bei diesen Planspielen die Köpfe heiß. Ich musste einige Mitarbeiter der Planetarischen Abteilung abstellen, die das Ganze mit selbstprogrammierenden Tools unterstützten. Naturwissenschaftliche KIs, die normalerweise dafür verwendet wurden, einen Warpflug vorauszuberechnen oder den Ablauf einer Expedition effektiv zu planen, mussten umlernen und ihre Speicher mit diplomatischen Floskeln und taktischen Finten füttern. Sie mussten die Macht antizipieren, die dem zur Verfügung stand, der über die Tagesordnung gebot, und sie wurden darauf abgerichtet, vor den Fallstricken zu warnen, die zwischen den Zeilen oder in den sogenannten Gummiparagrafen lauerten.
Ich beteiligte mich an all dem nur am Rande. Mein Verhältnis zu diesen Kommissaren und Attachés war das eines Chauffeurs zu einem Botschafter, den er zu einem wichtigen Termin zu bringen hat. Und doch konnte ich nicht vermeiden, dass ich von der eigentümlichen Anspannung und Nervosität im Vorfeld der Tagung ergriffen wurde. Dabei musste auch ich umdenken. Und wie so oft war es eine Kleinigkeit, ein an und für sich ganz unbedeutender Vorfall, der mein bisheriges Weltbild umstürzte und mir das radikal Neue unserer Situation vor Augen führte.
Bis jetzt war die Union für mich die Menschheit gewesen. Im täglichen Sprachgebrauch waren beide Begriffe synonym. Die Union repräsentierte die Menschheit; die Menschheit hatte sich die Organisationsform der Union gegeben. Ihre Sprache war das unierte Englisch, in dem auf der Akademie unterrichtet wurde und das auf allen Schiffen und Basen gesprochen wurde, auch wenn es auf der Erde noch immer Hunderte anderer Sprachen gab. Ihre Flagge war die Flagge der Union, die wir auf einigen Dutzend neuer Welten gehisst hatten. Ihre Hymne war die Hymne der Union, die auf den alten Astronautenmarsch zurückging, von dem einige spitzfindige Historiker herausgefunden zu haben behaupteten, er basiere auf Tschaikowskys Marche slave. Sei es, wie es sei, die Menschheit war die Union, die Union war die Menschheit. Streng genommen war es nicht ganz so: Auf der Erde gab es immer noch zahlreiche Völker und Nationen, die der Union nicht angehörten. Manche von ihnen hatten der interstellaren Option von vornherein abgeschworen. Andere unterhielten auf eigene Faust ein paar Basen im Asteroidengürtel. Weiter gehende Ambitionen verfolgten sie nicht. Wir sahen auf sie herab wie Universitätsdozenten auf die Studienräte eines Gymnasiums.
Jetzt mussten wir dagegen nach einer ganz anderen Richtung hin umlernen. Hatte es bis jetzt lediglich Menschen gegeben, die nicht der Union angehörten, aber nicht umgekehrt, so hatten uns die Vorgänge bei Sina in die Lage versetzt, dass es Völkerschaften gab, die Mitglieder der Union waren– die aber keine Menschen waren!
Die Tloxi waren die Ersten gewesen, die die Aufnahme in die Union gefordert hatten. Sie war ihnen– wenige Tage nach der restlosen Zerschlagung des Sinesischen Imperiums – ohne Weiteres erteilt worden. Ihrer alten Herren ledig, von denen sie jahrhundertelang ausgebeutet und erniedrigt worden waren, hatten sie es eilig, unter das Dach einer neuen Großorganisation zu kommen. Dass wir ihnen weitgehende Rechte bei innerer Autonomie und Selbstverwaltung einräumten, war selbstverständlich; es wäre mit der Satzung der Union nicht anders zu vereinbaren gewesen. Dennoch wunderte es uns ein wenig. Sie hätten auch in Frieden ziehen und auf eigene Faust die Galaxie besiedeln, die befreiten Kolonien übernehmen und die Trümmer des zerschmetterten Imperiums wiederaufbauen können. Daran schienen sie keinen Gedanken verschwendet zu haben. Uns war es recht. Denn es versetzte uns in die Lage, uns ihres Know-hows und ihrer Expertise bedienen zu können. Sie waren die Bewahrer der sinesischen Technologie, die der unseren um Jahrzehnte voraus und in einem Maße überlegen gewesen war, die sich beinahe als tödlich erwiesen hätte. Jetzt war sie – geborgen im unbegreiflichen telepathischen Kontinuum der Tloxi – auf uns gekommen. Sie waren uns nach wie vor überlegen. Aber vorderhand schien kein Grund erkennbar, weshalb sie diese Überlegenheit gegen uns wenden sollten. Wir bedienten uns ihrer als eines fleißigen und arbeitsamen Volkes. Aber da sie keine Organismen, keine lebenden Wesen waren, sondern nur ein Heer uniformer Androiden, nahmen wir sie in gewisser Weise nicht als ebenbürtige Partner wahr. Bei aller Ehrfurcht vor ihrem technischen Ingenium –politisch betrachtet waren sie niemand, mit dem wir auf gleicher Augenhöhe verhandelt hätten. Das waren nur die Sineser gewesen. Und die hatten wir vernichtet.
Diese Situation änderte sich jetzt. Das Eigentliche bei einem Kongress geschieht hinter verschlossenen Türen: in den Vieraugengesprächen, auf den Korridoren, am Buffet oder im Bett. Das, was auf den offiziellen Verhandlungen und Konferenzen geschieht und was der sogenannten Öffentlichkeit in Ton und Bild präsentiert wird, verhält sich dazu wie die Oberfläche eines Ozeans zu seinen Abgründen.
Eine neue Erfahrung war mir, dass das Wesentliche schon im Vorfeld stattzufinden schien. Die Teilnehmer schickten Vorauskommandos. Inoffizielle Delegationen schwebten ein, zu »informellen Gesprächen«, wie das im Jargon genannt wurde. Es wurde sondiert oder miteinander bekannt gemacht. Man stellte sich vor und tastete einander ab, ehe man im Ring aufeinandertreffen würde. Das meiste davon fand, obwohl an Bord der MARQUIS DE LAPLACE, hinter verschlossenen Türen statt. Ich bekam davon nicht mehr zu sehen als die Einträge im Stabslog, die ich in mein Kommandanten-Logbuch überschreiben und absegnen musste. Hier war eine Delegation vom Sternbild Rigel zu Gast gewesen – fünf Mitglieder, drei Übernachtungen, Einzelkabinen –, dort hatte eine Gesandtschaft von einer mir unbekannten Welt im Quadranten Gamma-zwei vorgesprochen – zwei Personen, eine Übernachtung in gemeinsamer Suite. Und während ich mir wie ein Hoteldirektor vorzukommen begann, stolperte ich eines Tages über den nächsten Gast.
Ein Shuttle war angekündigt. Gelangweilt sah ich von der Brücke aus zu, wie es den Warprüssel vorwölbte und sich im hohen Neptunorbit materialisierte. All die Schiffe und Shuttles, mit denen die Abordnungen eintrafen, waren sinesischer Bauart, faktisch also von Tloxi konstruiert, denn alle diese Völkerschaften waren ja Vasallen Sinas, ohne eigene Raumfahrt, gewesen. Meine Neugier hielt sich also in Grenzen, als jetzt wieder eines dieser Shuttles – demjenigen nicht unähnlich, in dem Jennifer und ich seinerzeit geflüchtet waren – auf die MARQUIS DE LAPLACE zuhielt und ins Große Drohnendeck einflog. Stutzig wurde ich, als ich mein Logbuch aktivierte und vier sinesische Schriftzeichen auf meiner Konsole aufflammen sah. Die Kultur, die hier ihre Aufwartung machte und ihren Antrittsbesuch antrat, schien über keine eigene Schrift zu verfügen. Die Übersetzungs-KI des Stabslogs übertrug die vier sinesischen Ideogramme, offensichtlich etwas hilflos, in die lateinischen Lettern G.R.O.M. Auch das brachte mich nicht weiter. Ich beschloss, mir die Sache anzusehen.
Als ich den entsprechenden Korridor betrat, hatten sich die Honoratioren schon erwartungsvoll aufgebaut. Salana und Rogers standen nebeneinander, um den Neuankömmling zu begrüßen. Es schien ihnen nicht recht zu sein, dass ich auftauchte. Aber wegschicken konnten sie mich schlecht, ich war schließlich der Hausherr. Ich erkannte auch Rankveil und Kauffmann sowie einige nachgeordnete Referenten und Sekretäre, die ich vom Sehen kannte. Ordonnanzen und Hostessen hatten sich aufgebaut. Und selbst eine Kompanie Tloxi stand steif Spalier. Ein ziemlich großer Bahnhof für ein informelles Treffen. Umso verstimmter war ich, dass man vorgehabt hatte, das Ganze hinter meinem Rücken über die Bühne gehen zu lassen. Ich baute mich mitten im Korridor auf, der sich trapezförmig zum Vorraum eines der großen Konferenzsäle verbreiterte. Salana beschrieb wedelnde Handbewegungen. Rogers verzog das rote Gesicht zu seinem breitesten texanischen Grinsen. Dann öffnete sich die Schleusenkammer zum Großen Drohnendeck.
Eine Abordnung kam auf mich zu. Ich trat ihr einige Schritte entgegen, wobei ich zur Begrüßung die Hand hob und mein gewinnendstes Lächeln aufsetzte. Doch als ich realisierte, was da auf mich zukam, gefror meine Miene und die Hand sank mir kraftlos herunter. Ich taumelte zurück. Was war denn das?
Auf den ersten Blick sah es aus wie drei Gärtner, von denen der mittlere eine Schubkarre vor sich herschob. Bei genauerem Hinsehen entpuppten sich die Gärtner als Tloxi, die mit fremdartigen Hoheitszeichen dekoriert waren. Und die Schubkarre war eher ein Aquarium, ein kistenförmiges Gefäß aus durchscheinendem Elastalglas, das auf einem Generatorfeld schwebte. In dem Glaskasten schwappten ein paar Hundert Liter Wasser. Und in diesem Wasser lag ein Stück abgebrochener Baumrinde. Das war alles.
»Ich begrüße Sie an Bord der MARQUIS DE LAPLACE«, brachte ich heraus, »des Flaggschiffs der Union …«
Weiter kam ich nicht.
Die drei Tloxi, die offenbar nur eine Eskorte waren, blieben stehen. Der Wasserbehälter glitt noch zwei Schritte weiter auf mich zu und hielt dann ebenfalls an. Ein elektronisches Knistern verkündete, dass sich eine Übersetzungs-KI aufgebaut und auf unsere Automatik geschaltet hatte. Erst später bekam ich heraus, dass das telepathische Kontinuum der drei begleitenden Tloxi in diesem Falle als Relais gedient hatte.
»Ich bin G.R.O.M., Hoher Repräsentant und Abgesandter des Planeten G.R.O.M., Hohepriester Seiner Heiligen Orden und debattierendes Mitglied Seines Mystischen Rates …«
Bei jedem zweiten Wort vergingen ganze Sekunden, bis die Übersetzungselektronik sich für den Begriff entschieden hatte, der dem Original am ehesten entsprechen konnte. Es war zu spüren, dass das, was hier »gesprochen« wurde – zu hören war nur die Übersetzung, der Gast selbst schien sich in einem anderen Medium zu äußern –, nur höchst unvollkommen in unser Vokabular und unsere Grammatik zu übertragen war.
»Exekutivmann des Großen Thrones und Bevollmächtigter der Theologischen Audienz. Ich vertrete die zweiunddreißig Schulen des Neuen Amtes und bin erlaucht, im Namen der einhundertundacht Metaphysischen Kammern aufzutreten.«
Mein Gott, dachte ich, dieses Stück Borke? Dieser drei viertel Meter, den man von einer alten Eiche abgeschlagen und in Brackwasser getaucht hatte?
Nachdem er noch eine Handvoll weiterer Titel heruntergerattert hatte, bedankte der Fremde sich in orientalischem Bombast für die Gastfreundschaft und wünschte uns allen viel Glück beim Aufbau einer friedlichen und – wenn ich es recht verstand – »kontemplativen Sonnengemeinschaft.«
Rogers und die anderen erwiderten in wohlgesetzten und weihevollen Worten die Begrüßungsfloskeln. Dann beeilten sie sich, den Gesandten in seinem Glaskasten in den Tagungsraum zu komplimentieren, dessen Tür sie mir vor der Nase zuschmissen. Ich blieb auf dem Korridor zurück. Während die Hostessen und das Tloxi-Kommando sich zerstreuten und die Gänge sich leerten, bemerkte ich Jennifer, die den Auftritt mit angesehen haben musste, in der dritten oder vierten Reihe hinter den vielen Würdenträgern. Jetzt löste sie sich von der Wand, an die gelehnt sie dagestanden war, und kam auf mich zu.
»Gratuliere!«, sagte sie.
Ihre Stimme war frei von Sarkasmus. Dennoch klang das Wort ganz anders als vor ein paar Tagen, als sie es mir zu vorgerückter Stunde über einen Champagnerkelch hinweg zugehaucht hatte.
Ich schüttelte den Kopf.
»Was war das denn?«
Sie trug ein Masterboard bei sich, das sie hinter verschränkten Armen flach vor die Brust gepresst hatte. Jetzt drückte sie das Kinn gegen die Leiste des Boards und sah mich mit einem Schulmädchenblick an.
»Das war G.R.O.M.« Und nach einer kleinen Pause setzte sie hinzu. »Ein G.R.O.M., der G.R.O.M. Du wirst feststellen, dass derartige Unterscheidungen bei ihnen keinen Sinn ergeben.«
Und in diesem Augenblick begriff ich also, was das hieß, dass wir dabei waren, der Union eine galaktische Bedeutung zu geben. Wir waren nicht mehr allein. Und das, was uns bevorstand, ging über unsere Begriffe.
Jennifer nahm ihr Board in die rechte Hand und versetzte mir damit einen liebevollen Klaps vor den Bauch.
»Gut jedenfalls«, strahlte sie, »dass wir bei den informellen Vorgesprächen sind. Auf dem Kongress hättest du nicht so hereinplatzen können.«
»Entschuldige mal«, rief ich. »Ich bin der Kommandant dieses Schiffes! Warum haben sie mich nicht vorgewarnt?!«
»Du gehörst nicht zur offiziellen Delegation.« Sie zuckte die Achseln.
»Du auch nicht«, gab ich zurück.
»Nein«, sagte sie lapidar.
»Und doch weißt du schon wieder viel besser Bescheid …«
»Ich lese die Bulletins«, versetzte sie. »Jeden Morgen um sechs stellt Rogers sie ins Stabslog der Führungskräfte.«
Ich schnitt eine Grimasse. »Da rasiere ich mich noch. Und dieses Diplomatengeschwafel interessiert wirklich keine Sau!«
»Dann beschwer dich nicht.« Und damit ließ sie mich stehen.
Ich begab mich zurück auf die Brücke und starrte missmutig in den Raum hinaus. Meine Adjutanten lenkten mich irgendwann ab. In einer Plasmakammer war die Druckanzeige ausgefallen. Ein Vorkammertest des Haupttriebwerks war deshalb nicht aussagekräftig und musste wiederholt werden. Zwei EVAs waren abgebrochen worden, weil sie in die Turbulenzen des Warptunnels geraten waren. Einer der Piloten hatte sich leicht verletzt. Und andere Dinge mehr.
Am Nachmittag bekam ich eine Meldung auf den Schirm, der zufolge das fremde Shuttle abgelegt hatte. Ich stand auf und ging an die große Bugscheibe, die die Brücke überwölbte. Man sah das Shuttle sich mit konventionellem Antrieb entfernen und dann den Warpkern aktivieren, der den Korridor öffnete und es einige Parsec weit weg katapultierte. Es hatte nicht einen Meter mehr zurückgelegt, als die Bestimmungen über den Mindestabstand verlangten. Daran erkannte ich, dass auch der Pilot ein Tloxi sein musste.
Und dann war es endlich so weit. Ich war pünktlich aufgestanden, hatte mich rasiert und gut gefrühstückt. Am liebsten hätte ich wieder die Galauniform angezogen, denn dieser Tage bedeutete mir mehr als die formelle Amtseinführung vor einigen Wochen. Aber Jennifer hatte es mir ausgeredet. Wir traten in der gewöhnlichen Kluft der fliegenden Crew auf die Brücke. Nur, den großen Stern anzulegen – das hatten wir uns nicht verkneifen können.
Eine Stunde vor der Zeit begannen wir damit, die Instrumente zu prüfen und das Schiff für seine Rückkehr ins Leben vorzubereiten. Stabsbeamte, Offiziere und Adjutanten nahmen unsere Befehle entgegen und trugen sie bis in den letzten Winkel des kilometerlangen Titanstahlleibs der MARQUIS DE LAPLACE. Und das Schiff selbst reagierte auf jede unserer Eingaben, folgte jeder unserer Intentionen; es war wie ein zweiter, ungleich größerer Organismus, der sich um uns entfaltete und den unser gemeinsamer Wille beherrschte.
Die Reaktoren waren bis zum Anschlag hochgefahren. Die Triebwerke hatten die Vorbrennphase durchlaufen und waren mit Plasma geflutet, das in der Temperatur der heißesten Sterne köchelte und nur darauf wartete, seine ungeheuren Energien freizusetzen. Alle Schotte waren geschlossen. Alle Mannschaften auf Station. Alle sekundären Fahrzeuge, von den Drohnen und Planetenfähren über die Shuttles bis zu den vier gewaltigen ENTHYMESIS-Explorern im Großen Drohnendeck, waren gravimetrisch vertäut; ihre Feldgeneratoren waren online auf die Automatik des Mutterschiffes geschaltet. Alle Kursberechnungen waren abgeschlossen und ruhten mit Millionen Back-ups in den Quantenspeichern der holografischen Zentralcomputer, die wie das Nervensystem eines lebenden Wesens über die gesamte Erstreckung des Schiffes verteilt waren. Ein Wort von mir, und die unfassbare Masse von Milliarden Bruttoregistertonnen hochreinen Titanstahls würde sich in Bewegung setzen und die Wissenschaftsstadt von zehntausend Einwohnern, die ihre Spanten beherbergten, über Tausende von Lichtjahren in einen anderen Quadranten der Galaxis tragen.
»Vorstartroutine abgeschlossen«, meldete Jennifer von der Konsole des Ersten Offiziers.
»Flexibler Start gemäß vorgelegtem Kursprotokoll«, sagte ich langsam.
Wir sahen uns in die Augen. Wie lange hatten wir auf diesen Moment gewartet?
Dann drückte ich das Kreuz durch, sah über die lang ausgezogene Schnauze der MARQUIS DE LAPLACE hinweg zum Sternenfeld, das jenseits der Neptunbahn lag, ohne zu flimmern, und sagte nur noch ein einziges Wort:
»Jetzt!«
Jennifer schob den Regler nach vorne und berührte drei oder vier Felder auf dem Hauptbedienplatz. Das war alles. Das Schiff setzte sich in Bewegung. Anfangs noch bei konventionellem Antrieb. Ich hatte es mir nicht nehmen lassen, eine kleine Schleife einzuprogrammieren und über den Bauplatz hinwegzuschweben. Wir grüßten die Schwesterschiffe, die Tag für Tag ihrer Fertigstellung entgegeneilten. Dann passierten wir Rogers’ Orbitalstation, die jetzt wieder als reine Bauhütte fungierte und lediglich ein paar Ingenieure beheimatete. Die Tloxi-Sonne fiel nach achtern ab. Schweigend zogen wir an ihr vorbei, wobei ich mit Genugtuung zur Kenntnis nahm, dass die Beschleunigung jetzt bereits spürbar war und dass die künstliche Sonne schnell zu einem unbedeutenden Lichtpunkt einschrumpfte.
Und dann lag nur noch das Sternenfeld vor uns. Die neuartige Technologie, die die Tloxi der MARQUIS DE LAPLACE verpasst hatten, machte es möglich, stufenlos von Kleiner Fahrt bei konventionellem Antrieb zu beschleunigen, bei Großer Fahrt auf den oszillierenden Warpbetrieb zu wechseln und dessen Frequenz seinerseits zu steigern, bis er einen über Tausende von Lichtjahren pro Sekunde hinwegtragen würde. Dann würde man in den Korridoren zwischen den Galaxien dahingleiten können wie auf einer Segelyacht zwischen den Inseln eines Archipels.
So weit ging unser Ehrgeiz heute nicht. Wir beschränkten uns auf unsere Milchstraße, von der wir kaum den halben Radius durchmaßen. Dennoch war es erhebend: Anders als beim klassischen Warp, bei dem man die gesamte Entfernung in einem einzigen Sprung überbrückte oder besser gesagt: durchtunnelte, eilte man beim oszillierenden Warp in einer raschen Abfolge kleiner Sprünge dahin wie ein Stein, den man flach übers Wasser schlenzt. Absolute Geschwindigkeit und Reichweite waren höher, der Energieverbrauch dagegen geringer. Und anders als beim herkömmlichen Warp, bei dem das Panorama verschwand und man für einige Augenblicke in schwindelndes Nichts hinausstarrte, blieb die Aussicht erhalten. Die Sterne, die noch unseren Eltern als fix gegolten hatten, rückten langsam von ihren Plätzen, setzten sich gemächlich in Bewegung, bis wir sie schließlich in rasendem Flug vorübereilen sahen.
Es war, wie wenn man aus dem Zimmer tritt, den Hausflur durchmisst, die Tür öffnet und auf die Straße geht – und dann plötzlich mit Düsenantrieb die Stadt hinter sich lässt und bei mehrfachem Überschall den ganzen Kontinent überquert.
Jennifer hatte keinen besonders hohen Oszillationstakt programmiert. Auch sie wollte den Trip genießen. Ohnehin dauerte es nur ein paar Augenblicke. Wir erreichten, was von der Erde aus das Sternbild Horus bildete, was im Raum selbst aber ein in der dritten Dimension weit auseinandergezerrtes Triangulum war. Ein Stern kristallisierte sich heraus. Indem er näher rückte und sonnenförmig wurde, unterschritt die Triebwerkstätigkeit schon wieder die Warpschwelle. Bei konventionellem Antrieb bogen wir in ein Doppelsystem ein. Die Feldgeneratoren verlangsamten uns weiter. Eine Struktur tauchte vor uns auf, die schon als Artefakt zu erkennen war, kaum dass sie mehr war als ein Punkt, der die Auflösung des menschlichen Auges übertraf. Schwer zu sagen, woran das lag. Natürlich wussten wir es. Aber irgendetwas sagte einem selbst auf Distanzen hin, die mit unbewehrten Sinnen kaum zu überwinden waren, dass das, was da vor uns im Raum hing, weder Stern noch Planet, weder Asteroid noch Komet, sondern ein künstlich geschaffenes Objekt war. Und als wir nahe genug heran waren, dass man Einzelheiten unterscheiden und die Dimensionen des Ganzen abschätzen konnte, blieb mir doch die Luft weg. Mein Gott!
»Leitstrahl anfordern und Parkraum anfliegen«, sagte ich.
»Automatik übernimmt«, erwiderte Jennifer. »Tloxi-Kontinuum geschaltet.«
Wir standen auf und sahen schweigend nach vorne, während die Computer und das telepathische Tloxi-Kollektiv den Rest erledigten. Wir waren da.
Kapitel 2 – Im Torus
In den wenigen Minuten, die vergingen, bis wir in den Parkraum eingeschwenkt waren, erinnerte ich mich an jene Holobilder, die ich während der Vorbereitung auf diese Mission immer und immer wieder durchgespielt hatte. Doch etwas hatte keine noch so hochauflösende Holodatei im Livestream wiederzugeben vermocht: die ungeheuren Ausmaße dieser Konstruktion, die wir im internen Sprachgebrauch schlicht den Torus nannten.
Als ENTHYMESIS-Kommandant hatte ich im Laufe mehrerer Jahrzehnte der interstellaren Exploration einige Dutzend Welten für die Union in Besitz genommen. Aber bei keiner der damit verbundenen Rendezvous oder Landungen – sei es auf Monden, Asteroiden, Kometenkernen oder Planeten – hatte ich solch einen überwältigenden Eindruck erfahren.
Das Ding war riesig!
Jennifer steuerte die MARQUIS DE LAPLACE in den angewiesenen Parkraum, einige Kilometer über der Ebene des Torus und um dreißig Grad gegen seine Zentralachse versetzt. Wir fuhren die Reaktoren herunter und deaktivierten die besonderen Bestimmungen und Schutzvorkehrungen des Warpstatus. Das Schiff ging auf Normalbetrieb. Seine zehntausendköpfige Besatzung nahm ihre Routinetätigkeit wieder auf. Lediglich die Delegation, die wir eskortierten, machte sich für die Passage fertig.
Während ich den unaufgeregten Gang dieser Manöver an den diversen Schirmen und Konsolen überwachte, sah ich immer wieder aus der großen Panoramascheibe der Brücke und ließ die Blicke über die stählerne Welt des Torus schweifen. Aus dieser Perspektive konnte ich kaum ein Viertel seiner Ausmaße überschauen. Ich musste mir daher immer wieder die Holobilder vergegenwärtigen und sie vor dem inneren Auge über den tatsächlichen Anblick projizieren, um mir seine Gewalt in allen Dimensionen klarzumachen.
Vor uns schwebte eine gigantische reifenförmige Konstruktion von über einhundert Kilometern Durchmesser. Die MARQUIS DE LAPLACE würde durch ihren Mittelpunkt fliegen können wie ein Hering durch die Nabe eines mächtigen Rades. Unser gutes altes Flaggschiff, auf das wir so stolz waren, verhielt sich zu dieser Super-Raumstation wie ein junges Kätzchen zu einem brennenden Reifen, durch den man für gewöhnlich ausgewachsene Tiger springen ließ. Das mit weitem Abstand gewaltigste Artefakt der Menschheit lag neben dieser Basis wie ein Scheitholz neben einem futuristischen Gebäude.
Ich konnte mich nicht erinnern, jemals ein solches Gefühl der Ehrfurcht empfunden zu haben. Natürlich hatten wir Welten angeflogen, die sehr viel größer waren. Aber es waren kosmische Körper gewesen, physische Entitäten, natürliche Phänomene. Hier handelt es sich um ein DING.
Der weite Ring, dessen lichter Durchmesser das Zehnfache der Längserstreckung der MARQUIS DE LAPLACE betrug, war an seiner Außenseite mit zwanzig Verdickungen besetzt, Knospen oder Ganglien vergleichbar, an denen sich die schlanke reifenförmige Trägerkonstruktion auf ein Vielfaches verbreiterte. Noppen und Knorpel setzten dort an. Kleine Blasen, Stiele, Dornen und andere Aufbauten entwuchsen der silberglänzenden Felge. In Relation zum Ganzen waren sie winzig. Mit bloßem Auge konnte man sie eben als reflektierende Pünktchen wahrnehmen. Aber auch sie mussten riesig sein. Größer als unsere größten Basen oder Orbitalstationen.
Die ganze Konstruktion drehte sich langsam. Da der Parkraum der MARQUIS DE LAPLACE mit dieser Bewegung koordiniert war, nahmen wir sie nur indirekt war: am Wandern des Sternenhintergrundes und an der sukzessiven Verschiebung des Doppelsystems, das aus den beiden Sonnen β Horus und γ Horus gebildet wurde. Das alles ging nun, von der Brücke aus gesehen, draußen auf und unter. Wir waren Teil des künstlichen Systems geworden und vollzogen seine stabilisierende Gyroskopbewegung nach.
Allerdings blieb das Zentrum des Torus, die gedachte Nabe, leer. Das Rad hatte weder Speichen noch Achse. Lediglich ein voltaischer Trichter von einigen Quadratkilometern Fläche schwebte in der Mitte der Konstruktion; seine Achse war auf die Doppelsonne ausgerichtet. Er erzeugte die Energie, die per Engstrahl im Pikometerband zu den zwanzig Wohn- und Arbeitsbereichen übertragen wurde. So kam die Station ohne Plasmakammern und Generatoren aus. Ihre Energieversorgung war autark, solange nur die beiden Sterne – der blaue und der rote – brannten, womit noch mehrere Milliarden Standardjahre lang zu rechnen war.
Es war klar, dass nur eine Macht eine solche Stahl gewordene Demonstration von politischer Präsenz und technologischer Überlegenheit ersonnen und ins Werk gesetzt haben konnte. Und während ich darüber nachdachte, was ich im Vorfeld über die Geschichte dieses Dings im HoloStream des Stabslogs gelesen hatte, fiel mir doch noch eine Begegnung ein, die eine ähnliche Beklommenheit in uns allen ausgelöst hatte. Auch wenn der Torus, gebührendem Abstand betrachtet, ungleich eleganter und filigraner wirkte, erinnerte er in seiner starren Symmetrie und der erdrückenden Gewalt seiner Masse an die Ikosaeder-Kampfstationen, die über Sina geschwebt waren und deren unerschöpfliche Feuerkraft uns an den Rand der Niederlage gebracht hatte. Was bei den Kampfstationen kugelförmig eingefaltet gewesen war, war hier zum Ring entfaltet. Aber zugrunde lag dieselbe zwanzigstrahlige Radialsymmetrie, dasselbe architektonische Selbstbewusstsein, der gleiche titanische Protz.
Tatsächlich ging der Torus auf das Sinesische Imperium zurück. Sein Baubeginn lag einige Jahre vor der großen Schlacht. Auf halber Strecke zwischen Sina und unserem Sonnensystem gelegen, dokumentierte er die Ausdehnungsbestrebungen des Imperiums in die westlichen Quadranten unserer Galaxis. Der Eroberungs- und Annexionszug der Sineser hatte zu einer Überdehnung ihres Reiches auf der uns zugewandten Flanke geführt. Offenbar hatte man in Sina City das Bedürfnis empfunden, eine zweite große Basis außerhalb der Heimatwelt zu errichten, um die Feldzüge und die ihnen folgenden Eingliederungen besser koordinieren zu können. Es war ein vorgeschobenes Glacis, ein Advanced Base Camp,. Ein fester Platz im Kampf um die Herrschaft über die Galaxie. Wir konnten von Glück sagen, dass wir den Kampf gesucht und für uns entschieden hatten, ehe diese Station vollendet worden war. Würde dieses interstellare Fort bewaffnet, ausgerüstet und bemannt gewesen sein, hätte es als unüberwindlicher Sperrriegel zwischen unserer Flotte und Sina gelegen. Unser wagemutiger Plan mit seiner weiträumigen strategischen Zangenbewegung, die der historischen Schlacht von Gaugamela nachempfunden war, wäre unmöglich zu realisieren gewesen. Wir wären geschlagen worden, versklavt, womöglich ausgerottet.
Damals wussten wir aber noch nicht, was hier im Entstehen begriffen war. Unsere Routinescans hatten den Bauplatz zwar erfasst. In den zuständigen Büros auf Luna II rätselte man noch darüber, ob es sich um ein natürliches Objekt oder um ein Artefakt handele. Und falls Letzteres: ob es eine gewöhnliche Raumstation oder eine Werft werden würde. Natürlich ahnte man, dass die Sineser dahinter steckten. Aber man verspürte wenig Lust, sich näher damit abzugeben.
Das Objekt ruhte unter dem Kürzel 31/439 in den Archiven. Die Mondbasen existierten nicht mehr. Ebenso wenig das Sinesische Imperium.
Aber es existierten die Baupläne des Torus. Wie bei allen anderen Großvorhaben der Sineser zeichneten auch hier die Tloxi als Techniker und Ingenieure verantwortlich. Und die Konstruktionszeichnungen schlummerten in ihrem telepathischen Kontinuum. Es lag nahe, das Vorhaben wieder aufzunehmen und zum Abschluss zu bringen. Die Tloxi, für die die »Funktion« eines Bauwerks nicht existierte, machten sich wieder an die Arbeit, und mittlerweile war die gewaltige Station so gut wie vollendet. Wenn man genau hinsah, bemerkte man, dass einige Verbindungsglieder fehlten. Kraftfelder überbrückten dort den mechanischen Zusammenhang. Und die Segmente XVII bis XX waren bisher lediglich im Rohbau ausgeführt. Die knollenförmigen Verdickungen beherbergten dort zum gegenwärtigen Zeitpunkt lediglich riesige leere Hohlräume. Aber zu vier Fünfteln war der Torus fertig. Hatte er einst die Westexpansion des Sinesischen Imperiums demonstrieren und unterstützen sollen, stand er nun für die Ostausdehnung der Union. Aber es gab einige gravierende Unterschiede. Das Sinesische Imperium war ein militaristisches und aggressives, nach innen wie außen extrem brutal auftretendes Großreich gewesen, das Dutzende Völker versklavt und ausgebeutet hatte und das die selbst ernannte Herrenrasse der Sineser zu despotischen Fürsten der Galaxis hatte machen sollen. Die Union dagegen war ein freier Zusammenschluss gleichberechtigter Nationen, die gemeinsamen den friedlichen Aufbau einer galaktischen Zivilisation in Angriff nehmen wollten.
Das schlug sich auch im rechtlichen Status nieder. Der Torus stand unter kommissarischer Verwaltung eines Konsortiums, dem Vertreter aller Völker und Kulturen angehörten, die wir aus der Knechtschaft Sinas befreit hatten. Er sollte – das Kleingedruckte zu regeln, war eine der Aufgaben des Kongresses – als freier Platz ausgewiesen werden, in dem die Union nur als einer von zahlreichen Partnern auftrat und in dem jede Delegation diplomatische Immunität genoss.
Ähnlich den Baustellen der MARQUIS DE LAPLACEs II und III wurde auch der halbfertige Torus von ganzen Flotten von Serviceschiffen und KI-Droiden, Shuttles und Scootern, Cargodrohnen und fliegenden Tloxi umschwärmt. Sein riesiges Rad glich einer goldglänzenden Felge, die in das flache Wasser eines tropischen Ozeans gesunken war und von dem aufgewirbelten Sand umglitzert wurde. Allerdings waren die Baumaßnahmen für die Dauer des Kongresses eingestellt wurden. In dem Maße, in dem die Flugaktivität im Vorfeld der galaktischen Zusammenkunft zunahm, fuhr man die Konstruktionstätigkeit und die Anlieferung von Material zurück. Die Shuttledienste zwischen den Schiffen der Delegationen und dem Torus benötigten den ganzen Raum. Ihn gleichzeitig mit der Bautätigkeit zu überwachen, überforderte anscheinend selbst die Metaintelligenz des Tloxi-Kontinuums. Das war tröstlichAllmächtige Götter waren sie nicht.
Eine Stunde später hatten wir uns so akklimatisiert. Die Bordautomatik der MARQUIS DE LAPLACE war online auf das Tloxi-Kontinuum geschaltet, das den Torus steuerte. In einer ständigen Nachführbewegung wurde das Schiff auf seiner festen Position, relativ zu der großen Ringkonstruktion gehalten. Die Stationen waren zu ihrem Routinebetrieb zurückgekehrt, der zu 99 % der nämliche blieb, ob wir nun im Neptunorbit lagen, im Großen Korridor, im Eschata-Nebel oder hier. Die Politiker hatten ein letztes Mal die Köpfe zusammengesteckt und ihre Taktiken abgesprochen. Es konnte losgehen.
Ursprünglich war geplant gewesen, dass Jennifer die Delegation begleiten werde. In ihrer Funktion als Kommandantin der ENTHYMESIS-Flotte schien sie sich für eskortierende Aufgaben in besonderer Weise zuständig zu fühlen. Mir als Kommandanten wäre es angestanden, auf der Brücke der MARQUIS DE LAPLACE zu bleiben. Aber ich war noch immer verstimmt über die Heimlichtuerei, mit der man in den zurückliegenden Wochen eine Delegation nach der anderen hinter meinem Rücken empfangen hatte, dass ich beschloss, mich nicht noch einmal derart ausbooten zu lassen. Es waren Friedenszeiten. Wir befanden uns in unserem eigenen Hoheitsgebiet. Und selbst wenn etwas vorfallen sollte, konnte ich in wenigen Augenblicken vom Torus zum Mutterschiff zurückkehren. Ich entschied, dass ich die Delegation begleiten würde. Das Kommando übergab ich an die nachgeordneten Stabsoffiziere. Dann fand ich mich in der Schleusenkammer ein, wo Jennifer, Rogers und die anderen sich für den Shuttleflug fertig machten.
Commodora Jennifer Ash steuerte das kleine Shuttle selbst. Aus diesem winzigen Gefährt heraus wirkte die Konstruktion des Torus noch viel gewaltiger. Schließlich entzog sie sich unseren Blicken. Der Leitstrahl des Tloxi-Kontinuums brachte uns zu einer Andockstation in Segment XII des Torus, den man auch mit einem Zifferblatt hätte vergleichen können, dem Zifferblatt einer 20-Stunden-Uhr allerdings.
Als wir aus dem Schleusenbereich kamen, trat uns ein hagerer Mann mit asketischen Gesichtszügen entgegen. Sein Haar und sein kurz geschorener Bart waren angegraut. Aber seine Augen funkelten unternehmungslustig wie eh und je.
Jennifer warf sich ihm entgegen und schloss ihn lange in die Arme. Er ließ es eine Weile geschehen. Dann trat er einen Schritt zurück und betrachtete sie skeptisch.
»Warum hast du dein Haar abgeschnitten?«
Sie warf mir einen triumphierenden Seitenblick zu.
»Frank hat eine halbe Stunde gebraucht, bis er es gemerkt hat.«
Ich hob die Schultern. Dann begrüßte er auch mich mit einem harten Händedruck.
»Es steht dir gut«, sagte er noch zu Jennifer.
Wie lange hatten wir uns nicht gesehen! Direktor Reynolds, wie er als Aufseher der Kolonien im Eschata-Raum offiziell zu titulieren war, strahlte wie ein kleiner Junge, auch wenn das spitze Kinn und die kantigen Wangenknochen signalisierten, dass auch an ihm die Ereignisse der jüngsten Zeit nicht spurlos vorbeigegangen waren.
Mein früherer WO auf der ENTHYMESIS war in den schweren Jahren der Diaspora auf jenen abgelegenen Welten des Eschata-Nebels zurückgeblieben, um sich der Entwicklung neuartiger Warpspulen zu widmen. Seine Entschlüsselung des Geheimnisses der Dunklen Materie hatte wesentlich zu unserem Triumph über Sina beigetragen. Jetzt stieß er wieder zu uns, um die Leitung der Planetarischen Abteilung auf der MARQUIS DE LAPLACE zu übernehmen. Er würde damit in die Fußstapfen Dr. Rogers’ treten, der als Hoher Rat in das neu zu schaffende höchste Gremium der Union wechselte.
Reynolds boxte mir vor die Brust.
»Gratuliere! Euch beiden! Ihr habt es tatsächlich geschafft!«
Wir bedankten uns artig.
»Ich wollte zu eurer Amtseinführung kommen«, fuhr er fort. »Aber ich hatte hier noch einiges zu tun.«
Er musterte uns abwartend. Wie auch Dr. Rogers bediente er sich des Du, wenn er uns im Plural ansprach, und des Sie, wenn er sich an einen Einzelnen von uns wandte.
»Diese Tloxi sind wirklich erstaunlich. Später zeige ich euch einiges an neuem Spielzeug, dessen Blaupausen ich in den Tiefen ihres Kontinuums gefunden habe.«
Wir zeigten uns beeindruckt.
»Du kannst mit ihnen kommunizieren?«, fragte Jennifer.
»Das können wir alle«, sagte ich. »Die Frage ist nur …«
»Wie viel man aus ihnen herausbringt«, führte Reynolds meinen Satz zu Ende. So leise und näselnd er sprach, liebte er es doch, anderen Leuten ins Wort zu fallen. Er zwinkerte mir entwaffnend zu, weil er wusste, dass mich das immer ganz besonders in Rage brachte. Ich ließ es ihm für heute durchgehen.
»Ich habe …«, erläuterte er. »Ich glaube, ich kann sagen, dass ich ihr Vertrauen erworben habe. Was immer das bei ihnen im Einzelnen bedeuten mag. Sie teilen sich mir offener mit als den meisten anderen – Menschen und Unionsvertretern.«
Er grinste, als er mit sichtlichem Vorgenuss den nächsten Trumpf auspackte.
»Ich kann mich in ihr telepathisches Kontinuum einloggen. Natürlich nur in dem Maße, das sie mir gestatten. Aber ich habe ein paar Algorithmen programmiert, die es mir ermöglichen, die Konstruktionspläne dieses Torus sichtbar zu machen.«
Nun, sie kommunizierten auch mit unseren Schiffscomputern. Was er herausstrich und was im Einzelnen sicher eine technische Meisterleistung war, erfüllte mich mit Unbehagen.
»Sie werden nur freigeben«, sagte ich, »was ohnehin offen zutage liegt. Etwa die holografischen Risszeichnungen einer Raumstation, die längst in der Realität existiert.«
Reynolds nickte und schwieg abwartend.
»Interessant wird es«, fuhr ich fort, »wenn wir herausbekommen oder herauszubekommen versuchen, was sie nicht herausgeben wollen.«
Jennifer schüttelte den Kopf.
»Wenn wir das mit Gewalt und gegen ihren Willen versuchen würden, würden sie es zu Recht als Zeichen des Misstrauens interpretieren.«
»Wäre das so unangebracht?«, fragte ich.
Sie zog die Mundwinkel zu einem unhörbaren Schmatzen hoch, das ihre Unzufriedenheit mit dem Gedankengang ausdrückte.
»Du legst ja auch einen menschlichen Geschäftspartner nicht unter den Quantentomografen und liest seine geheimsten Gedanken aus.«
Ich zuckte mit den Achseln.
»Manchmal hätte ich mir gewünscht, so etwas wäre möglich gewesen. Es hätte uns im einen oder anderen Fall vieles erspart.«
Reynolds hob die Hände.
»Was ich eigentlich sagen wollte«, sagte er schleppend, »es haben sich dabei einige, nun: Abfallprodukte ergeben. Wir verstehen noch immer nicht restlos das Funktionieren ihrer Technologie. Aber indem wir uns anschauen, was immer sie uns anschauen lassen, können wir es auf eigene Faust kombinieren und fortentwickeln …«
»Und sie überflügeln?«, fragte ich rasch. »Kann der Kopist besser sein als der Meister?!«
Reynolds schob gleichgültig die Unterlippe vor.
»Mit ihnen gleichziehen, vielleicht. Uns austauschen und ergänzen. Ich würde gar nicht in solchen Kategorien der Konkurrenz denken, die der anderen Seite immer schon Böswilligkeit unterstellt.«
»Wir reden später weiter«, entschied ich, denn mir war aufgefallen, dass die politische Delegation ungeduldig geworden war.
Rogers hatte als Einziger aufmerksam zugehört, während die anderen nur darauf warteten, dass es weiterginge. Reynolds schaltete für seine Verhältnisse ausgesprochen rasch.
»Entschuldigen Sie«, brummte er, »dieses kleine Privatissimum.«
Dann stellte er sich den Herren vor und brachte sie zu ihren Wohnmodulen, wo sie sich häuslich einrichten konnten. Auch wir bezogen wieder einmal ein Zimmerchen, das uns erstaunlich bekannt vorkam.
Die Union hatte sich, als sie den Weiterbau des Torus beschloss, nicht nehmen lassen, beim Innenausbau einige Änderungsvorschläge einzubringen. Die geplante Ausstattung war auf die physiologischen Bedürfnisse der Sineser berechnet gewesen. Das hatte revidiert werden müssen. Was schon fertiggestellt worden war, hatten die Tloxi, die es gebaut hatten, mit derselben Emotionslosigkeit wieder hinausgeschmissen. Was stattdessen einzurichten war, war entsprechend den standardisierten Katalogen der Union erfolgt. Das Innere des Torus glich so auf ernüchternde Weise den Gängen und Schleusen, den Kabinen und Besprechungszimmern der MARQUIS DE LAPLACE und aller anderen großen Schiffe und Basen. Aber es gab auch einige Besonderheiten, sodass die Konstruktion ihre verwickelte Entstehungsgeschichte nicht verleugnen konnte.
Eines dieser Beispiele zeigte Reynolds uns, sowie wir die Delegation losgeworden waren. Wir hatten nur einen kurzen Blick auf unsere Kabine geworfen und uns dann im Vorraum wieder getroffen. Über einen langen Gang, der sich allmählich verbreiterte, führte Reynolds uns zu einer großen Halle, die sich T-förmig nach beiden Seiten öffnete. Wir begriffen, dass wir bisher in einer der winzigen Blasen gewesen waren, die an der Außenhaut des Reifens saßen. Jetzt traten wir in eine gewaltige lang gezogene Glaskuppel hinaus, die dem Hangar eines Raumhafens glich. Ihre lichte Höhe betrug mehrere hundert Meter, und sie verlor sich nach beiden Seiten im Unendlichen. Das war der eigentliche Torus. Die Eigenkrümmung war nicht erkennbar.
»Der Umfang des Torus«, erläuterte Reynolds, »beträgt über 400 Kilometer.«
Wir nickten. Die technischen Daten hatten wir uns angeeignet. Dennoch war es etwas anderes, wenn man davor stand. Oder genauer gesagt: darin.
»Ein strammer Fußmarsch«, fiel mir noch ein.
»Keine Angst«, sagte Reynolds. »Ihr müsst hier nicht weiter zu Fuß gehen, als ihr unbedingt wollt. Von den Entfernungen im Inneren der Wohn- und Arbeitsblasen einmal abgesehen.«
Wir durchquerten den riesigen Kuppelschlauch des Torus. Dabei sah ich nach oben, wo die mächtige Dachkonstruktion aus selbsttätig polarisierendem Elastalglas den Blick in den Raum freigab. Gegenüber, von uns aus gesehen genau im Zenit, verlief der fadendünne Strang der anderen Seite. Die Krümmung des Ganzen war nicht zu erkennen. Es wirkte, als verliefen zwei lineare Konstruktionen parallel im Raum.
Dann erreichten wir den gegenüberliegenden Fußpunkt des Daches. Halbrunde Arkaden öffneten sich unter den meterdicken Elastalstahlträgern, die das Ganze stützten. Unter den Arkadenbögen flimmerten gelbe und blaue Lichtfelder. Als wir näher traten, erkannten wir, dass sich zwischen den Bögen vergleichsweise kleine Tunnel und Schächte öffneten, die parallel zur großen Haupthalle dahinzogen. Sie waren von gelblich zitternden Lichtsträngen erfüllt. Ab und zu näherten sich blaue Lichtbänder, in denen Menschen saßen – oder auch Tloxi oder andere Wesen –, die ausstiegen. Andere stiegen zu, die Kraftfelder wanderten weiter. Es gab keinerlei feste Gefährte, Sitzgelegenheiten, Armaturen, sondern nur die von Feldgeneratoren erzeugten gravimetrischen Mulden, in die man sich hineingleiten ließ wie in bequeme Liegestühle und die sich dann wieder in Bewegung setzten.
»Eine Fahrt, einmal um den Torus herum, wird mehrere Stunden dauern«, sagte Reynolds. »Bis jetzt klafft in den oberen Segmenten aber noch eine Lücke von etwa dreißig Kilometern.«
Jennifer und ich hatten die Vorrichtung angestarrt. Langsam lösten wir die Blicke davon. Dann sahen wir uns an.
»Stimmt etwas nicht?« Reynolds hatte bemerkt, dass die Sache uns frappierte.
»Das haben wir doch schon einmal gesehen«, entfuhr es mir.
»Allerdings«, sagte Jennifer grimmig.
Reynolds wirkte enttäuscht.
»Schade«, meinte er. »Ich muss zugeben, ich war ziemlich beeindruckt. Vor allem als ich erfuhr, wie man es steuert.«
Ich war perplex. Und auch Jennifer kratzte sich an ihrer Schläfe, um die sich keine Locke mehr ringelte, und versank in tiefes Nachdenken. Dabei spitzte sie die Lippen wie zu einem Kuss. Aber ihr Blick war ins Leere gerichtet.
»Wie kann das sein?«, fragte ich nach einer Weile.
Reynolds’ Augen wanderten von einem zum anderen.
»Vielleicht«, sagte er langsam, »wenn ihr mir verratet …«
Ich versuchte, die Beklemmung abzuschütteln. Wenn man in fremder oder neuartiger Umgebung ein Déjà-vu hat, ist es besonders beunruhigend. Aber allmählich präzisierte sich die Erinnerung.
»In jenem Schiff«, berichtete Jennifer, »das eines Tages im Kleinen Korridor auftauchte, das tot und ausgestorben wirkte, das aber plötzlich zum Leben erwachte, als wir es erkundeten, und das uns direkt nach Sina City entführte – in diesem Schiff gab es ein solches Transportsystem.«
Wir schwiegen und starrten in die vorbeisausenden gelben und blauen Lichtströme.
Reynolds brauchte eine Weile, bis er die Ungeheuerlichkeit rekonstruiert hatte, die für uns in diesem Anblick liegen musste.
»Es glich diesem hier aufs Haar«, fuhr Jennifer fort. »Die gleichen Bögen, die gleichen leeren, weißen Schächte, exakt die gleichen Farben, die die Richtungen der Felder anzeigten.«
Ein Grauen schüttelte mich, als ich mir jene verzweifelten Stunden in Erinnerung rief. Wir hatten das finstere Schiff erkundet. In seinem Inneren war es dunkel gewesen. Mit Leuchtgranaten und mit der Rückstoßfunktion unserer Offizierspistolen hatten wir uns einen Weg durch die kilometerweiten lichten Hallen gebahnt. Seltsame Wesen hatten diese schwebende Ruine erfüllt. Und plötzlich war das Ganze von Licht durchflutet gewesen. Die Farbbögen hatten ihre Arbeit aufgenommen. Das Schiff hatte sich im oszillierenden Warp, den wir dabei zum ersten Mal am eigenen Leib erlebten, in Bewegung gesetzt und uns direkt nach Sina City gebracht, in die Höhle des Löwen.
Reynolds war damals nicht dabei gewesen, denn wir hatten ihn schon vorher im Eschata-Nebel zurückgelassen.
»Es war ein sinesisches Schiff «, wandte Reynolds ein, als Jennifer ihre Erzählung beendet hatte. »Und als Ingenieure der Sineser fungierten die Tloxi. Jetzt arbeiten sie für uns. Aber warum sollten sie nicht dieselben …«
»Eben nicht«, fiel ich ihm ins Wort. »Es war ein fremdes Schiff. Es gehörte einer dritten Zivilisation, war weder menschlich noch sinesisch.«
»Vielleicht war es eine Falle.«
»Es war ganz sicher eine Falle«, meinte Jennifer. »So weit draußen im Kleinen Korridor. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie uns durch Zufall aufgefischt haben, ist praktisch gleich null.«
Ich war da nicht so sicher.
»Sie haben, als das Schiff gelandet war, nicht nach uns gesucht. Es wurde einfach auf diesem gigantischen Ehrenhof abgesetzt, wo sie die Monumente der unterworfenen Kulturen ausstellten. Wenn die ganze Aktion auf uns berechnet gewesen wäre, hätten sie sich anders verhalten …«
Jennifer strich sich durch das kurze Haar.
»Das alles ist Spekulation«, sagte sie. »Und Sina ist nicht mehr.«
»Trotzdem bleibt es merkwürdig«, wandte ich ein. Und an Reynolds gerichtet setzte ich noch hinzu: »Sie können ja Ihre Freunde bei Gelegenheit mal fragen, wo sie das herhaben.«
Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Nuschelnd ratterte er noch ein paar technische Details über die Funktionsweise des Beförderungssystems herunter. Sie konnten uns nichts Neues bieten. Wir kehrten zu unserer Wohnblase zurück.