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Der Chronist I
ОглавлениеDie Geschichte ist eine Geschichte von Ereignissen, die als Epochenbrüche wirkten, als einschneidende Zäsuren, nach denen – wie es dann in den Chroniken oft hieß – »nichts mehr sein würde wie zuvor.« Und immer wieder ereignete sich dabei das Phänomen, dass die Zeitgenossen, die Zeugen dieser Umstürze waren, sich post festum viel älter als ihre Jahre vorkamen. Die Geschehnisse beanspruchten in aller Regel nicht viel Zeit. Sie gingen in wenigen Jahren, manchmal an einem einzigen Tag über die Bühne. Die großen Entscheidungsschlachten, die Revolutionen und Tyrannenmorde, die Verträge und Inthronisationen: Manchmal genügten ein paar Stunden, um die Weltgeschichte in zwei Hälften zu zersprengen, in ein Vorher und Nachher. Und die Zeitgenossen, die am nächsten Morgen aus den Schützengräben krochen oder sich das Blut abwuschen, die vielleicht auch ahnungslos aufs Forum gingen oder die Zeitung aufschlugen, diese Zeitgenossen begriffen meist nur zögernd und mit innerem Widerstreben, dass sie über Nacht aus einer Ära in die nächste gerutscht, dass sie in einen neuen Äon katapultiert waren, dass im großen schwarzen Folianten der Geschichte wieder einmal ein neues Kapitel aufgeschlagen worden war. So ging es den Veteranen der Perser- und der Punischen Kriege, den Mördern Caesars und Ludwigs XVI., den Heimkehrern der beiden Weltkriege. Hier war etwas geschehen, das nicht mehr ungeschehen zu machen war, vor dem es kein Zurück gab. Ob man hier Zeuge oder Nachgeborener war, entschied darüber, welcher Generation man künftig angehörte. Eltern und ihre Kinder können sich nach einem solchen Umbruch oft über die alltäglichsten und banalsten Dinge kaum noch verständigen. Und selbst Geschwister, die nur für diese wenigen, aber entscheidenden Jahre voneinander getrennt sind, werden sich fremder, als es in ruhigen Zeitaltern die Enkel für die Ururahnen waren.
Die Nachgeborenen zeichnen sich oft durch eine zur Schau getragene Unbekümmertheit aus. Wenn schon in stabilen Phasen der Historie gilt, dass mit jeder neuen Generation die Weltgeschichte von vorne beginnt, so ist den Kindern der »Stunde Null« in ganz besonderem Maße das Bewusstsein zu eigen, dass sich das Zurückschauen nicht lohne, sondern dass nun und mit ihnen erst der eigentliche Anfang zu machen sei. Während die Alten vor der Zeit gealtert – Kriegs- und Ehejahre zählen bekanntlich doppelt – und von der Langeweile jedes Veteranentums umgeben sind, zelebrieren die Jungen ihre Jugend, ihre Unbekümmertheit, ihre ostentative Geschichtsvergessenheit. Die Charleston-Wut der »Goldenen Zwanziger« verhielt sich dabei zum Grauen der Materialschlachten wie der Rock ’n’ Roll der Fünfziger zu Bombenkrieg und Holocaust. Man wollte damit ein für alle Mal nichts mehr zu tun haben. Stattdessen stürzte man sich mit der charakteristischen Lautheit von Leuten, die nicht hören wollen, in die Gegenwart, die »Jetztzeit«, den neuen Aufbruch, von dem aus man die Zukunft für sich pachtete und reklamierte. Nach den Perserkriegen blühten die Künste in ungeahntem Maße auf. Es entstand das perikleische Athen, das für alle Zeiten das uneinholbare Muster zeitloser Klassizität geben sollte. Und auf Sizilien wuchsen die Triumpharchitekturen von Agrigent und Selinunt aus dem roten Boden. Aber in jedem Triumph ist etwas Hohles. Er verführt zur Selbstüberschätzung und zu jener Leichtfertigkeit und Überheblichkeit, für die der Name Alkibiades wie kaum ein zweiter steht. Die nächste Generation zahlt wiederum die Zeche. Das Gefühl der Unbesiegbarkeit, zu dem der eine epochale Sieg verleitete, rächt sich und trägt die Niederlage im kommenden Konflikt schon in sich. Denn es gibt, darauf hat schon der ältere Ash immer wieder hingewiesen, in Wahrheit keine »Stunde Null«. Geschichte ist ein strömendes Kontinuum. Es geht immer weiter. Das Pendel schlägt unerbittlich vor und zurück. Doch davon ahnen die noch nichts, die gerade dem letzten Pendelschlag entronnen sind, die in dem Bewusstsein groß werden, noch einmal davongekommen zu sein, vom Weltgeist begünstigt, der ihnen bei der Stunde ihrer Geburt eine besondere und ungerechtfertigte Gnade zuteil werden ließ. Nach Actium ruft man ein Imperium des Friedens aus, und Octavian läutert sich zu Augustus. Auf dem Wiener Kongress erlebte der Walzer seinen Durchbruch als führender Gesellschaftstanz des ganzen 19. Jahrhunderts. Man glaubte, sich das leisten zu können. Die Schlachten waren geschlagen. Selbst Waterloo wirkte nur noch als lästige und ferne Unterbrechung eines Konferenzwesens, das auf den Kabinettstischen wieder einmal den Kontinent zurechtschnitt. Nebenher wurde getanzt, gekuppelt und verheiratet. Ein Zeitalter der Restauration schien angebrochen, der Sicherheit, des Biedermeier und des Schubertliedes. Aber all diese Feiernden und Tanzenden, die sich auf Überstandenem ausruhen wollen, haben sich getäuscht. Der Weltgeist atmet ein und aus, er legt zuweilen eine Pause ein. Aber er schläft niemals. Und während die Ewigheutigen ihren Zerstreuungen nachgehen, bereitet sich in den Kavernen schon die nächste Revolution vor, der nächste Aufstand oder der nächste große Krieg.
*
Am Abend saßen wir mit Reynolds und Rogers in einer der kleinen Bars, die am Kreuzungspunkt des Verbindungsgangs der Wohnblasen mit dem Torus in die Arkaden eingelassen waren. Wir nannten diese T-förmige Öffnung »Die Plaza«. Wie in einer der Warteröhren eines Raumhafens verloren sich die lang gestreckten Kuppeln nach rechts und links. Genau gegenüber unserem Sitzplatz, einige Hundert Meter entfernt, huschten die gelben und blauen Leuchtstreifen des Beförderungssystems dahin. Hoch über unseren Köpfen schimmerte die Wölbung der Elastalglaskonstruktion.
»Schade, dass Jill und Taylor nicht hier sind«, sagte Jennifer.
Tatsächlich hatten die beiden nach der Schlacht von Sina ihren Abschied genommen. Einmal hatten wir sie noch besucht, als sie sich in einem amishen Kibbuz im Hinterland von Pensacola niedergelassen und sich dem Wiederaufbau dieses besonders schwer verwüsteten Landstriches gewidmet hatten. Später verloren sich ihre Spuren; der Kontakt war abgerissen. Wir wussten nur, dass die Amish, zu denen sie konvertiert waren, ein weitverzweigtes Netz von Kolonien unterhielten und sich bei der Inbesitznahme der neuen Welten als Pioniere hervortaten.
»Habt ihr je noch etwas von ihnen gehört?«, fragte ich.
Reynolds schüttelte den Kopf.
»Die Amish haben ihre eigenen Gesetze«, brummte Rogers. »Sie werden zwar auf dem Kongress vertreten sein, aber nach allem, was ich höre, ist der Beitritt zur Union bei ihnen stark umstritten.«
Diese Religionsgemeinschaft war in der ganzen Galaxie für ihren Rigorismus bekannt. Sie lehnte weltliche Vergnügungen aller Art ebenso ab wie die positive Wissenschaft, der sich die interstellare Exploration verschrieben hatte. Es hatte mich daher gewundert, dass ausgerechnet Jill und Taylor zu diesem Glauben konvertiert waren. Freilich hatten sie in den Monaten, die sie in den Katakomben von Sina City ausharren mussten, mehr durchgemacht als wir alle. Und sie hatten diese Zeit nur überleben können, weil sie aneinander festgehalten hatten. Als wir sie aus dem schwer umkämpften Sina City evakuierten, war Jill in Trance verfallen. Die Tloxi sprachen durch sie.
Hinterher hatten sie ihren Abschied eingereicht, hatten den amishen Glauben angenommen, hatten geheiratet und sich einem Kibbuz zuteilen lassen. Seither waren sie verschwunden.
»Die Amish«, fuhr General a. D. Rogers fort, »haben großen Wert auf ihre Neutralität und Unabhängigkeit gelegt. Sie verbaten sich jede Einmischung der Union, auch wenn sie dadurch auf ihre Schutzgarantien verzichten mussten. Sie beuten quer durch die Galaxis ihre Minen aus, was für sie mehr Religionsausübung als Broterwerb ist. Sie heiraten nur untereinander, versuchen, ohne jegliche Technik auszukommen, und stehen im Ruf, entbehrungsreiche Pioniere bei der Erschließung neuer Welten zu sein. Die Sineser haben sie in der Regel in Ruhe gelassen, hier und dort auch ihre Geschäfte mit ihnen gemacht.«
Ich zwinkerte der jungen blonden Hostess zu, die den Thekendienst der kleinen Bar versah, und bestellte mir einen weiteren Whiskey. Ihr Namensschild über der weißen Brusttasche des Hemdes, das einen schmalen, mädchenhaften Busen nachzeichnete, wies sie als »Layra« aus. Reynolds und Rogers folgten meinem Beispiel, während Jennifer sich eine neue Himbeer-Avocado-Milch mixen ließ. Als wir anstießen, ließ Jennifer amüsierte Blicke zwischen mir und der Offiziersanwärterin hin und her gleiten.
»Es heißt«, sagte Direktor Reynolds, »dass sie auch keinen Handel treiben.«
Rogers nickte und schwenkte seinen Tumbler.
»Nur über Mittelsmänner. Für sie selbst stellt die Arbeit in den Minen eine Art Gottesdienst dar.«
Ich zuckte die Achseln.
»Seltsam ist es trotzdem. Taylor war meine große Hoffnung. Er könnte längst ein eigenes Kommando haben. Spätestens wenn die neuen Schiffe in Dienst gestellt werden, könnte er seine steile Karriere fortsetzen.«
»Er hat es aber vorgezogen«, warf Jennifer leichthin ein, »die kleine Jill heimzuführen und den Dienst bei der Union zu quittieren.«
Sie hatte damals nie ein Hehl daraus gemacht, dass sie den Emporkömmling Taylor nicht leiden konnte. Die »kleine Jill«, die irgendwie immer am Rande des Nervenzusammenbruchs war, hatte sie dagegen wie eine jüngere Schwester geliebt und umsorgt.
»Sei es, wie es sei«, brummte Dr. Rogers. »Das alles liegt hinter uns. Wir müssen uns auf die kommenden Herausforderungen konzentrieren.«
Und wie um das zu demonstrieren, schwenkte er seinen gravimetrischen Barhocker um 180° herum, dass er die Achseln in die Theke einhängen und den Blick über die »Plaza« richten konnte. Wir folgten seinem Beispiel.
Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander und sahen über die riesige Fläche hinweg. Eine Delegation nach der anderen schwebte draußen in den Parkraum ein und bestieg das Shuttle, um sich zum Torus übersetzen zu lassen. Dementsprechend füllten sich die Hallen und Gänge. Als säßen wir in einem Straßencafé und schauten über eine italienische Piazzetta, beobachteten und kommentierten wir, was immer den diversen Schleusenkammern und Elevatoren entstieg und sich zu Fuß oder auf generatorgestützten Schwebern über die riesigen Flächen verteilte.
Wie wenn wir es herbeigeredet hätten, war eine der ersten Delegationen, die wir sahen, die offizielle Abordnung der Amish. Zwölf Männer mit prachtvollem Bart und hoher Stirn schritten würdevoll vorbei. Sie trugen die traditionellen weißen Gewänder ihrer Kultur, an denen es weder Knöpfe noch Schnallen, keine Reißverschlüsse und keine Taschen gab. Von den Kommunikationsvorrichtungen und Regulierungen unserer Anzüge aus intelligentem Elastil zu schweigen.
Der Anführer, der einen Schritt vor den anderen einherstolzierte, kam mir bekannt vor. Ein hochgewachsener schlanker Mann mit durchgedrücktem Kreuz und einem maskenhaften Gesichtsausdruck, der noch um eine Nuance arroganter als seine Begleiter wirkte. Er schien jugendlich, und ich vermutete, dass er jungenhaft gewirkt haben würde, wenn er sich den Philosophenbart abschnitt und die pikiert erhobenen Augenbrauen herunternahm. Ich kam nicht darauf, woher ich ihn hätte kennen können.
Da sie über keine eigenen Schiffe verfügten, hatten sie den Shuttle- und Kurierdienst in Anspruch genommen, den die Union im Vorfeld des Kongresses eingerichtet hatte. Dass derlei unter ihrer Würde war, war auf ihren hoheitsvollen Mienen abzulesen. Ein paar Tloxi, die als Eskorte hinter ihnen hertrippelten, nahmen sie nicht zur Kenntnis, und auch uns würdigten sie, als sie unser Beobachtungsfeld durchquerten, keines Blickes.
Wir zogen in gespielter Ehrfurcht die Augenbrauen hoch und widmeten uns dann grinsend wieder unseren Drinks. Lediglich Dr. Rogers, der sich ihnen morgen am Verhandlungstisch gegenübersehen würde, starrte mürrisch vor sich hin.
»Stolze Leute«, sagte Jennifer leise und kräuselte die Lippen zu einem spöttischen Lächeln.
Ich sah den weiß Gewandeten hinterher, die uns jetzt die Rücken wiesen und langsam weiter den Torus hinunterschritten.
»In der Regel«, meinte ich, »sind die Menschen oder Völker immer besonders stolz, bei denen man nicht weiß, auf was eigentlich …«
Jennifer wiegte nachdenklich den Kopf.
»Lieber zu viel Ethos als gar keines.«
Sie erntete dafür einen zustimmenden Blick Direktor Reynolds’.
»Wer weiß«, sagte er, »wofür man das noch einmal wird brauchen können? Es heißt jedenfalls, dass sie hundertprozentig verlässlich sind und lieber sterben, als ein einmal gegebenes Wort zu brechen.«
Besser, dachte ich noch, man geriet gar nicht erst in die Lage, von solchen Leuten abhängig und auf ihr Versprechen angewiesen zu sein.
In der Folge füllten sich die Durchgänge immer mehr. Wir kamen kaum noch nach, die einzelnen Delegationen zu unterscheiden und gebührend durchzuhecheln. Jedenfalls waren wir, Dr. Rogers nicht ausgenommen, froh, vorerst von allen protokollarischen Verpflichtungen entbunden zu sein. Die Begrüßung besorgte der Hohe Rat Salana irgendwo draußen in der Schleusenkammer, assistiert von Rankveil und Flitebuca. Wenn die Delegationen den Torus betraten, wurden sie von Ordonnanzen der fliegenden Crew oder von Tloxi-Eskorten begleitet, die sie zu ihren Wohnmodulen führten.
Kurz danach sahen wir die Abordnung der Laya, auf deren idyllischer und krimineller Heimatwelt Sin Pur wir unsere Flitterwochen verbracht hatten; leider waren sie nicht ungestört geblieben. Ich musterte die Delegation feindselig, der selbst bei einer solchen staatstragenden Mission etwas Schmieriges anhaftete. Ich hoffte nur, dass ich im weiteren Verlauf dieses Kongresses nichts mit ihnen zu tun haben würde. Die Laya stanken. Und sie verströmten eine Aura von schimmeligen Spelunken und fettigen Garküchen. Auch sie hatten stets Wert darauf gelegt, neutral zu sein. Aber im Gegensatz zu den Amish, deren Neutralität immer zur Union tendiert hatte, hatten sie sich unverhohlen an Sina angelehnt. Jetzt existierte das Sinesische Imperium nicht mehr. Sie mussten sich neu orientieren. Aber jede ihrer Bewegungen drückte aus, dass sie der Einladung der Union nur höchst widerstrebend gefolgt waren.
Ich versuchte in Rogers’ immer bedenklicher werdender Miene zu lesen.
»Gibt es«, fragte ich ihn, »eigentlich ein Volk, das sich schon offen zur Union bekennt? Bis jetzt scheinen mir alle auf ihre Neutralität zu pochen …«
Er verzog das vom Whiskey gerötete Gesicht zu einer schmerzlichen Grimasse.
»Offiziell nur die Tloxi«, knurrte er. »Aber natürlich lässt sich am Anfang niemand in die Karten schauen.«
Jennifer fuhr die Ellbogen nach hinten aus und schob ihre Schultern zwischen mich und die kleine Hostess, deren Blick ich zu erhaschen versucht hatte. Um eine neue Bestellung aufzugeben!
»Sie werden«, sagte sie, »alle versuchen, den Preis für ihren Beitritt so hoch wie möglich zu treiben.«
Ich bog mich um sie herum und machte der Bedienung ein Zeichen, unsere Gläser wieder zu füllen.
»Sie sollten doch froh sein, aufgenommen zu werden!«, sagte ich.
Rogers feixte wissend.
»Genau«, brummte er. »Aber sie wissen, dass wir das so sehen. Und deshalb zieren sie sich wie die Jungfrau vor der ersten Nacht.«
Ich seufzte. Also Politik. Derartige Spielchen hatten mich noch nie interessiert. Ich wurde den Verdacht nicht los, dass es, je größer die Verantwortung und je höher die beteiligten Ränge waren, umso kindischer und alberner wurde.
Jennifer hatte meine Gedanken mitgelesen. Nach mehreren Jahrzehnten war da nichts mehr zu machen. Außerdem war sie beleidigt wegen des kleinen Flirts, den ich hinter ihrem Rücken durchgezogen hatte.
»Es hilft nichts«, sagte sie scharf. »Wir müssen uns mit unserer Lage abfinden. Wir müssen die Leerstelle besetzen, die durch die Ausschaltung Sinas entstanden ist, und auf alle Fälle verhindern, dass ein Machtvakuum entsteht.«
Reynolds nickte.
»Vielleicht wird es alles nicht so schlimm. Realistisch betrachtet, haben sie alle ein vitales Interesse daran, der Union anzugehören. Wir haben viel zu bieten. Vor allem Verlässlichkeit und Stabilität.«
Nun, er war Mathematiker. Je mehr Variablen im Spiel waren, umso mehr Spaß machte die Sache ihm. Vielleicht hätte man ihn zum Verhandlungsführer ernennen sollen. Ich erinnerte mich, dass die Planspiele bei der Vorbereitung des Kongresses auf KI-Tools abgelaufen waren, die er in seiner Zeit als ENTHYMESIS-WO programmiert hatte.
Jetzt nahm Dr. Rogers das Wort im Tonfall eines abschließenden Statements.
»Ich hoffe auf einen Rutschbahn-Effekt«, sagte er leise. »Wenn es uns erst einmal gelingt, ein oder zwei Delegationen zum Beitritt zu bewegen, werden die anderen es mit der Angst kriegen, dass sie außen vor bleiben. Dann rechne ich damit, dass es am Ende ganz schnell geht und wir uns vor Aufnahmegesuchen nicht mehr retten können.«
Er hob sein Glas.
»In der Regel will keiner der Erste sein, aber ganz sicher will keiner der Letzte sein …«
Ich lehnte die Schulter an Jennifers rückwärts ausgeklappten Oberarm und spielte mit dem kurzen Stoppelhaar über ihren Schläfen.
Eigentlich beschäftigte mich etwas ganz anderes.
»Das ist sehr menschlich gedacht«, gab ich zu bedenken. »Ein Anthropozentrismus. Wir wissen ja noch gar nicht, was diese – Leute für Begriffe von Taktik oder Realpolitik, von Macht oder Interessensabwägung haben.«
Rogers war von dem Einwand nichts weniger als getroffen.
»Selbstverständlich«, sagte er lapidar. »Dem dienten zum einen die bilateralen Vorgespräche. Zum anderen werden wir auch hier noch einmal viel Zeit dafür ansetzen, die kulturellen Eigenheiten abzuklopfen. Wir müssen erst einmal eine gemeinsame Sprache finden.«
Gerade, wie er das sagte, zog eine weitere sonderbare Abordnung vorbei. Sie bestand aus zwei fremdartigen Wesen, die in schlangenhaften Bewegungen mehr zu tanzen als zu gehen schienen. Dabei waren sie mit ihren schmalen, jadegrün schimmernden Gliedern am ehesten zwei anmutigen Pflanzen vergleichbar, Orchideen etwa, Orchideen von annähernd menschlicher Größe, deren feine grüne Stängel in kopfgroße blau-rote Knospen mündeten.
Rogers nickte mir vielsagend zu. Ich versuchte, ein pfiffiges Gesicht zu machen.
Mit weit ausholenden, schlingernden Schritten glitten sie an uns vorüber. Ihre Gliedmaßen wirkten ebenso filigran wie zerbrechlich. Ich fragte mich, ob sie nackt waren oder ob die smaragdgrün irisierende Haut ein hauchdünner selbstregulierender Ganzkörperanzug war, ein KI-gestütztes Polymer, wie wir sie für die Außenbeschichtungen unserer Raumschiffe verwendeten.
»kuLau«, flüsterte Rogers.
Ich sah den beiden Wesen nach, wobei mir schien, dass ihre schlangenhaft fließenden Bewegungen synchronisiert und vollkommen aufeinander abgestimmt waren. Ein Ballett weit mehr als profane Fortbewegung.
»Eine kleine Delegation«, war alles, was mir zu bemerken einfiel.
»Sie treten stets zu zweit auf«, zischte Rogers.
Der Anblick hatte mich in eine ästhetische Stimmung versetzt, dass ich das »Auftreten« unwillkürlich auf eine theatralische Vorstellung bezog.
»Ihre – Köpfe«, sagte ich leise, »sie sehen wie Knospen aus …«
Wieder dieses wissende Grinsen.
»Warte nur, bis sie erblühen!« Und damit ließ er es bewenden.
Wenig später traf der Nuntius des Prana-Bindu-Ordens mit seiner Entourage ein. Die Delegation war direkt von ihrem Sitz auf dem Gebirgsplaneten Musan hierher gekommen. Jennifer sprang auf und eilte auf die ehrwürdigen Äbte und Mönche zu, deren Gewand sie küsste und deren Stirn sie mit der ihren berührte. Der Nuntius war niemand anderes als Lama Töndup persönlich, der Großmeister des Prana-Bindu-Ordens, Nachfolger Seiner Heiligkeit Tsen Resiqs und amtierender Abt der Großen Gompa von Loma Ntang. Er segnete Jennifer, indem er ihr beide Daumen an die Nasenwurzel legte und eine Beschwörungsformel murmelte.
Der Orden, erläuterte Rogers unterdessen, hatte die offizielle Neutralität der anderen Nationen noch dahingehend unterboten, dass man erklärt hatte, nur in beobachtender Mission an dem Kongress teilzunehmen. Das konnten ja schöne Verhandlungen werden, bei dem alle vorgaben, von interesseloser Unabhängigkeit zu sein, während die Raffinierteren ein bloßes Monitoring betrieben. Diplomatisches Mikado: Wer sich zuerst bewegte, hatte verloren.
Was die Abgesandten des Prana-Bindu-Ordens betraf, so konnte an ihrer politischen Integrität kein Zweifel sein. Sie waren der Union seit Langem eng verbunden, was sich schon darin niederschlug, dass die Anfangsgründe der Prana-Bindu-Meditation seit Jahrzehnten auf der Akademie gelehrt wurden und zum Curriculum angehender Offiziere gehörten. Vielleicht war es nicht von Schaden, dass es eine moralische Instanz gab, die außerhalb des protokollarischen Kleinkriegs stand.
Doch dann zog eine Delegation unsere Blicke auf sich, die uns den Atem nahm. Zwölf Wesen stapften vorbei, deren Anblick uns das Blut gefrieren ließ. Ihre Stiefel mussten mit Stahl beschlagen sein, denn ihre Schritte hallten in der weiten Kuppelwölbung wider und schmerzten in den Ohren. Und das Fauchen und Knurren, das sie dabei ausstießen und das wohl ihre Sprache war, hätte hingereicht, einen alten Veteranen erbleichen zu lassen. Wenn wir über die Sineser immer gespottet hatten, sie sähen aus wie Nilpferde, die man in Uniformen gesteckt hatte, so waren das hier Säbelzahntiger, die sich unbeholfen am aufrechten Gang versuchten. Ihren Kampfanzügen entquollen die roten Zotteln eines Raubtierfells. Ihre Katzenaugen loderten gefährlich. Und ihre handlangen Hauer wetzten, während sie einander anbrüllten, die mächtigen Unterkiefer.
Ihre Uniformen prangten voll schwarzer und roter Orden. Offenbar waren sie alle militärisch hochdekoriert. Soweit es in der Kürze möglich war, glaubte ich fein ausdifferenzierte Rangabzeichen zu erkennen. Geschlechtsmerkmale sah ich dagegen keine.
Ein kleiner Trupp von Tloxi, der ihnen entgegenkam, wurde mit lautem Heulen, das ein Löwenrudel in die Flucht geschlagen hätte, auf die andere Seite des breiten Hauptganges getrieben. Dann verschwanden sie in einem der Durchgänge, die zu den Wohnmodulen führten.
»Was war das denn?«, entfuhr es mir.
Rogers nickte mir grimmig zu.
»Zthronmic.«
Ich blies die Backen auf. »Hoffe, sie sind auch – neutral …«
Rogers setzte sein Ausbildergesicht auf. So hatte er uns auf der Akademie einige unerträgliche Grausamkeiten der Sineser geschildert, um dann die Bemerkung anzuschließen: Und nach diesen Vorgeplänkeln begann die eigentliche Schlacht!
»Sie unterhielten traditionell gute Beziehungen zu Sina«, führte er aus. »Sina bediente sich ihrer als Bluthunde, die man dorthin schickt, wo es am heißesten hergeht.«
Ich schluckte.
»Das Stabslog«, warf Jennifer ein, »führt sie offiziell unter den Neutralen.«
Meine Streberin! Aber auch sie war blass geworden, als das Kommando vorübergestampft war.
»Wenn das die Neutralen sind«, versuchte Reynolds zu witzeln, »möchte ich nicht wissen, wie unsere Gegner aussehen.«
Rogers ging nicht darauf ein. »Sie kämpften für die Sineser, stets in vorderster Front, was mit ihrem militärischen Ethos und ihrem Ehrenkodex zusammenhängt. Periodisch gingen sie auch wieder auf Distanz zu Sina. Ob das taktische Gründe hatte, weil sie den Preis für ihre Einsätze hochtreiben wollten, oder politische, haben wir nie herausbekommen. Zur Zeit unserer Auseinandersetzung mit dem Sinesischen Imperium machten sie eine ihrer neutralen Phasen durch.«
»Zum Glück«, stöhnte ich. Die Sache war hart genug gewesen. Die bloße Vorstellung, auch noch auf solche Monstra zu stoßen, krampfte mir im Nachhinein den Magen zusammen.
»Aber vor Persephone«, fuhr Rogers unbeeindruckt fort, »hatten wir mit ihnen zu tun. Ich kann euch das bei Gelegenheit ja mal erzählen.« Er grinste. Ich malte mir eine seiner gefürchteten Vorlesungen aus, bei denen er – die Hände hinter dem Rücken verschränkt – im Hörsaal hin und her zu gehen und stundenlang den Ablauf einer Schlacht in Echtzeit zu referieren pflegte. Ich erinnerte mich, dass der Namen der Zthronmic das eine oder andere Mal gefallen war. Aber wir waren ihnen niemals in natura begegnet. Im Nachhinein beglückwünschte ich mich abermals dazu.
»Ich habe keine Geschlechtsmerkmale feststellen können«, sagte Jennifer.
Warum mussten Frauen immer auf dieser Gender-Masche herumreiten.
»Bei den Amish hast du das auch nicht herausgestrichen«, sagte ich.
Sie schüttelte wieder den Kopf, als könne sie nicht fassen, wie sie ihr halbes Leben mit so einer Niete wie mir habe verbringen können.
»Die Amish sind Menschen«, säuselte sie. »Aber das hier …«
»Vielleicht haben sie ihre Weibchen daheim gelassen«, versuchte Reynolds, der wie immer auf Ausgleich bedacht war.
»So intelligent haben sie gar nicht gewirkt«, warf ich ein, was mir einen scharfen Boxhieb von Jennifer eintrug.
»Sind sie eingeschlechtlich?«, fragte sie in Richtung Rogers.
Der alte Haudegen und Veteran der Schlacht von Persephone sah sich unser pubertäres Getue mit erstaunlicher Geduld an. Schließlich nickte er seiner Lieblingsschülerin anerkennend zu.
»Das sind sie in der Tat. Sie pflanzen sich fort, indem sie …« Er stockte. Ein Anflug von Ekel schien über sein Gesicht zu ziehen. Dann setzte er sein Chefausbilder-Grinsen auf. »Das werdet ihr früh genug erfahren.«