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Kapitel 1. Mariafels

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Im Morgengrauen ließen die Schmerzen nach.

Die Qual verebbte, in die sie die ganze Nacht versponnen gewesen war wie in einen unkörperlichen Cocon. Dabei hätte sie nicht einmal zu sagen vermocht, ob die Schmerzen physischer oder seelischer Natur waren. Es war die Pein an sich, ein Leiden am Sein, eine reine Tortur, die die Existenz untergrub und das Universum vernichtete.

Das erste schüchterne Frühlicht sickerte durch die Jalousien, die allabendlich selbsttätig vor den Fenster herunterkrochen wie übellaunige Spinnen und die Räume hermetisch gegen alle Monde und Sterne abschlossen, die womöglich Trost verheißen konnten. Gegenstände schälten sich aus dem Nichts, Richtungen, Dimensionen, Welt.

Sie streckte sich und sank langsam in die Realität zurück, zu der sie während der Nacht keine verlässliche Fühlung gehabt hatte, obwohl sie weder geschlafen, noch geträumt hatte. Sie hatte sich nur ihren Schmerzen hingegeben.

Neben ihr lag der Freund. Auch er kehrte langsam ins Wirkliche wieder, wie sie an seinen wacher und selbstgewisser werdenden Atemzügen hörte. Er war nackt, wie sie. Er war schweißnass, wie sie. Er war geläutert und von allen Feuern der Selbstausbrennung gestählt, wie sie.

Sie begannen einander mit Erkundigungen zu betasten, mit Liebkosungen zu trösten, mit verspieltem Kichern zu beflüstern. Sie küssten sich lange. Dann schliefen sie miteinander. Anschließend lagen sie da und ließen den Morgen über sich ergehen.

»Das werden wir nie mehr vergessen«, sagte sie nach einer Weile, die auf keiner Uhr zu finden war.

»Was?«, fragte er, schläfrig von all dem Erwachen.

»Das!« Sie rieb das Bein an dem seinen. »Diese Nacht, diesen Morgen, dieses Gespräch. Dieses Jetzt!«

»Ja, du hast recht.«

»Daran werden wir uns immer erinnern. In unserer letzten Stunde noch. Wer weiß, auf einer anderen Welt. In einer anderen Galaxie!«

»Willst du nicht auf der Erde sterben?« Das Knödelige in seiner ungemachten Stimme verriet ihr, dass ihm das Thema nicht behagte. Aber sie war in einer so raumgreifenden Stimmung. Sie fühlte sich so offen, so lebendig, so frei! Der Atem hob ihre Brüste, dass das Laken dezent davon herunterglitt. Es war, als habe sie zum ersten Mal in diesem Dasein wirklich Luft geholt. Sie hätte schreien mögen, nackt ins Gebirge hinauslaufen, irgendetwas von sich schleudern, etwas zerstören. War das Glück? Es war viel mehr. Es war etwas viel kostbareres, selteneres, heiligeres. Es war Gegenwart!

»Wir sind Kadetten der Union«, sagte sie. »Wir werden Offiziere, Piloten, vielleicht Kommandanten. Das ganze verdammte Weltall steht uns offen.« Sie dämpfte die Stimme, die ihr selber plötzlich roh und ungeschlacht vorkam, zu einem ehrfürchtigen Raunen: »Der Kosmos!«

Der Freund an ihrer Seite brummte nur. Es war ein wohliges, zufriedenes Brummen. Sie hätte ewig so liegen können. Sie mochte es, wie ihre Füße sich kabbelten als wären sie selbständige Welpen. Sie mochte die Wärme, zu dem der Duft ihrer beiden Leiber sich vermischte. Sie mochte das gierige Ziehen in ihrem Solarplexus, das viel mehr war als nur der Heißhunger nach einer Nacht der Folter und der Erfüllung. Es war Appetit auf das Leben, das vor ihnen lag, eine unbändige Lust zu sein und eine unstillbare Ungeduld.

»Komm!« Sie sprang aus dem Bett. »Wir können schlafen, wenn wir tot sind!«

Das Zimmer registrierte, dass sie aufgestanden war. Die Jalousien glitten nach oben und gaben den Blick auf die sich räkelnde Hochgebirgslandschaft frei. Rosiges Licht lag sanft auf den Zacken und Eisfeldern. Sie befahl dem Zimmer, das Fenster zu öffnen, und badetet dann ihren von Schweiß verkrusteten, von der Liebe tropfenden und noch ein wenig blutenden Körper in der eisigen Luft, die neugierig hereinwehte.

Ihr fiel ein Vers von Nietzsche ein, den sie im Stillen bei sich rezitierte: War’s nicht für euch, dass sich des Gletschers Grau heut’ schmückt mit Rosen?

Sie hörte, wie der Freund sich im Bett aufsetzte. Sie konnte spüren, wie er sich an ihrem Anblick weidete. Sie konnte seinen Stolz und seine Liebe riechen. Um ihm einen Gefallen zu tun, dehnte und streckte sie sich noch ein wenig ausdauernder als sonst.

Sie war sechzehn. Die jüngste Kadettin, die je das Elitestift Mariafels bezogen hatte. Er war neunzehn. Sie waren das erste Paar in den Annalen des Instituts, dem es gestattet worden war, eine Nacht gemeinsam zu verbringen.

Nach der Frühgymnastik, die sie mit einigen Atem- und Konzentrationsübungen aus dem Fundus der Prana Bindu abschloss, wies sie das Zimmer an, das Fenster wieder zu verriegeln. Sie gingen ins Bad und duschten zusammen. Dabei musste sie aufpassen, nicht wieder in Versuchung zu geraten. Draußen warteten sie bestimmt schon auf sie. Sie trockneten sich ab und zogen sich an. Dann nahmen sie einander noch einmal in die Arme.

»Heute Abend«, sagte sie leise.

»Ich werde da sein«, gab er zurück.

Dann rissen sie sich von der unvergesslichen Stunde los, die in diesem Augenblick Vergangenheit war und es für den Rest ihres Lebens bleiben würde, und gingen hinaus.

Die Freunde waren bereits in der Küche, wie sie vermutet hatten. Sie hatten sich zu einem Empfangskomitee versammelt, und als sie wie Gladiatoren in den Aufenthaltsbereich ihrer Gruppe kamen, begrüßten sie sie angemessen, als seien sie Preisträger oder Olympiasieger oder Kriegshelden.

Bethine verkniff sich das anzügliche Grinsen nicht, als sie intonierte: »Ich habe keine guten Nächte!«

»Sehe ich so Scheiße aus?« Erschrocken fasste Jennifer sich an die Wangen und tastete ihre Augenwinkel ab.

»Du siehst großartig aus«, sagte Herb, den sie im Verdacht hatte, in sie verliebt zu sein. Jedenfalls troff ihm der Neid auf Jeremy aus allen Poren.

Der drückte sich an Bethine vorbei, die ihre Sojamilch wie eine Insignie vor sich hielt, und ließ sich einen Kaffee aus dem Synthetisator.

Mathis sagte wie immer nichts. Er begrüßte sie mit einem scheuen Lächeln und widmete sich dann wieder seiner aktuellen Beschäftigung. Er baute eine Pyramide aus den Kunststoffdeckeln der Kanister der Synthetisatorflüssigkeit. Der Junge war ein Phänomen. Er war siebzehn, nur ein paar Monate älter als Jennifer und damit auf dem undankbaren zweiten Platz des jüngsten Kadetten aller Zeiten gelandet. Hochbegabt, wie alle hier, schweigsam und ein wenig – sonderbar. Wenn sie am Fluss waren, stapelte er mannshohe Skulpturen aus Steinen und Kieseln auf. Während der Seminare errichtete er Türme aus Speicherchips oder aus Selbstwärmbechern oder aus den Einmalpackungen der trockenen Kekse, die er ständig kaute. Selbst während der Mahlzeiten formte und bastelte er immer irgend etwas. Er schichtete komplizierte Strukturen aus banalen Materialien auf und schuf vergängliche Architektur aus Alltagsgegenständen. Er war ein Genie. Jennifer hatte während der Einweisung über eine Woche gebraucht, um herauszufinden, dass er nicht taubstumm war, sondern nur in sich gekehrt.

Sie wies den Synthetisator an, ihr einen Ingwer-Zitronendrink zu machen. Als er fertig war, kam schon Wolters, der sie zu Eile mahnte. Sie waren spät dran. Jennifer stürzte das Getränk hinunter, ohne es genießen zu können. Das war irgendwie typisch für das ganze Institut, dachte sie. Immerhin war sie dann richtig wach. Die Säure prickelte auf ihrer Zunge, die Kälte flutete ihren Magen. Sie folgte Wolters und den anderen hinüber in den Lehrtrakt.

Die Einweisung: Der Turbinenzug, den die Union für die Jahrgangsbesten gechartert hatte, brachte sie in den letzten Ort, der noch an das Röhrennetz angeschlossen war. Von hier ging es zu Fuß weiter. Sie standen auf dem Bahnsteig des Dörfchens, blinzelten zu den sommerlichen Berggipfeln hinauf und warteten. Auf was auch immer. Dann stellte sich heraus, wo es klemmte. Ein Kadett fehlte. Er hätte privat anreisen sollen. Seine Familie war reich. Sie hatte ein Chalet in einem der Nachbartäler. Aber er war nicht da. Sie suchten das Dorf ab. Sie versuchten eine Verbindung aufzubauen. Nichts. Schließlich drohte es dunkel zu werden. Und sie mussten hinauf nach Mariafels, das hinten in einem einsamen, unzugänglichen Tal stand. Sie machten sich auf den Weg, kamen mit dem letzten Tageslicht beim Stift an – und wer lungerte da nicht in der Vorhalle herum?

Von da an hatte sie ein Auge auf ihn. Er gefiel ihr. Er hatte es nicht direkt darauf angelegt, für Aufsehen zu sorgen, aber es machte ihm auch nichts aus. Den Verweis, den er sich damit gleich am ersten Tag einhandelte, nahm er hin wie ein Boxer einen Treffer, der ihn nicht zum Wanken brachte. Im Lauf des langen Winters kamen sie einander näher. Der Wunsch entstand in ihnen, sich den Schrecken der Nächte gemeinsam zu stellen. Sie erwirkten eine Ausnahmegenehmigung. Sie suchten den Horror und die Verheißungen der Schmerzen zusammen auf.

Auf dem Gang, der von den Unterkünften zu den Seminarräumen führte, fing Serner sie ab, der sich selbst ein wenig hochtrabend ›Archivrat‹ nannte. Sie ließen den Rest der Gruppe vorgehen und blieben zu dritt in dem schwach erleuchteten Korridor zurück.

»Euch ist klar, dass das eine einmalige Eskapade war«, sagte Serner streng. »Nicht dass ihr euch einbildet, ihr könntet eine Gewohnheit daraus werden lassen.«

»Das war uns vorher klar, Herr Archivrat«, sagte Jeremy, für Jennifer eine Spur zu unterwürfig. Das war nicht der Junge, den sie sich am ersten Tag auserkoren hatte.

»Es gibt nur ein erstes Mal«, sagte sie kokett.

Serner musterte sie. Ein Zucken um seine humorlosen Lippen verriet, dass ihm etwas auf der Zunge lag. Aber er behielt es für sich. Er wusste, wer ihr Vater war.

»Wir werden uns an die Abmachung halten«, sagte Jeremy noch.

Sie nahm sich vor, ihm bei Gelegenheit den Kopf zu waschen. Offenbar hatte das gemeinsame Erlebnis auf ihn eine genau gegenteilige Wirkung wie auf sie. Er wurde schläfrig, nachgiebig, satt, während sie angriffslustig, aggressiv und serotoningeil wurde.

»Eine Ausnahme ist eine Ausnahme«, erklärte Serner volltönend. »Ich wünsche, dass das so aufgefasst wird.«

»Wir werden Sie nicht enttäuschen«, sagte Jennifer. Aber sie war sich sicher, dass sie etwas völlig anderes dabei dachte als er.

Der Institutsleiter trat beiseite und gab ihnen den Weg frei. Sie beeilten sich, zu den anderen aufzuschließen, die sie an der Tür des Seminarraums einholten. Dann begann der Unterricht. Er dauerte den ganzen Tag. Am Abend ging jeder wieder auf sein eigenes Zimmer. In der Nacht hauten sie ab.

Sie hatten schon vor ein paar Tagen damit begonnen, immer mal wieder Lebensmittel auf Vorrat von den Sythetisatoren herstellen zu lassen und die Sachen in ihren Zimmern zu verstecken. Ebenso hatten sie am Ende des Winters warme Kleider auf die Seite gebracht. Der Plan war lange in ihnen gereift. Sie hatten über ein halbes Jahr auf diese Stunde hingearbeitet. Auch Ausrüstung war da. Sie hatten Karten ausgedruckt und sich mit Bargeld versorgt.

Nach Einbruch der Dunkelheit gingen sie los. Der Zeitpunkt war eines der heikelsten Probleme bei dem ganzen. Es musste Bettruhe verordnet sein, damit sie niemand mehr über den Weg liefen. Es musste dunkel sein, was im Sommer eine Weile dauern konnte. Aber sie mussten verschwinden, bevor die Induktion begann. Wenn sie erst einmal im Griff der Schmerzen waren, war an ein Entkommen nicht zu denken. Das System hätte sofort Alarm gegeben. Es würde auch jetzt eine Meldung absetzen, aber bis dahin waren sie schon in der Nacht verschwunden. Vor dem Morgengrauen würde man keine Suchaktion durchführen können, dazu war das Gebirge zu wenig erschlossen.

Sie trafen sich an der Treppe, die in den Keller führte. Durch die Vorratskammer und andere Lagerräume gingen sie nach hinten, bis sie zu der Tür kamen, die an der Südostecke des Gebäudes in den Garten mit den Alpenblumen führte. Sie hatten sie durch Zufall entdeckt, als Wolter sie einmal gebeten hatte, ihm zu helfen, ein paar Säcke Blumenerde aus dem Keller zu holen. Damals war ihnen sofort klar gewesen, dass dies die Tür zur Freiheit war. Wolters hatte ihnen in seiner gutherzigen, naiven und vollkommen harmlosen Art noch weitschweifig auseinandergesetzt, warum die Tür zwar abgeschlossen war, der Schlüssel aber immer von innen steckte. Es hatte mit Brandschutz und der Fluchtwegeordnung zu tun. Sie hatten verständig genickt und waren dabei fast geplatzt.

Jetzt schlossen sie auf und traten in den Garten hinaus, dessen Edelweiß, Enzian und Alpenrosen friedlich im Licht des kalten Mondes zitterten. Den Weg durch den Garten und hinunter zum Fluss kannten sie auswendig. Sie gingen, ohne die Lampen anzumachen. Dann erst ließen sie die kleinen Lichter aufflammen, die standardmäßig zur Exkursionsausrüstung der Union gehörten. Sie waren Kadetten! Einst würden sie auf den Explorern der Enthymesis-Klasse fliegen und die Galaxis für die Menschheit in Besitz nehmen! Seit der Schlacht von Persephone und dem Vertragsfrieden von Lombok war es ruhig zwischen den Sternen. Die Union nahm Monat für Monat neue Welten in Besitz und breitete sich über unvorstellbare Räume aus. Sonnensysteme wurden erschlossen. Asteroidengürtel, Gaswolken, protostellare Nebel wurden zur Ausbeutung freigegeben. Kolonialvölker wie die Amish errichteten ihre Minenstädte auf weit entfernten Planeten, die bis vor ein paar Jahren kaum eine Kennung, geschweige denn einen Namen gehabt hatten. Das war die Welt, in der sie lebten. Das war die Zukunft, in die sie hineinwuchsen. Mit den intelligenten Strahlern, der sensoriellen Wäsche und den selbstwärmenden Anoraks, in den Rucksäcken Pioniernahrung mit dem Logo der Union, an den Füßen echte Raumstiefel, fühlten sie sich schon wie parsekweit gereiste Prospektoren, die von Ionenstürmen und Partikelfronten gestählt waren. Dabei waren sie nur zwei Internatsausbrecher.

Sie gingen die ganze Nacht. Alle zwei Stunden rasteten sie. Sie aßen und tranken etwas und orientierten sich anhand der Sterne und ihrer auf Papier gedruckten Karte. Dann gingen sie weiter. Bei Morgengrauen kamen sie an den Gletscher. Sie hatten keine Eisausrüstung. Aber sie hielten sich ganz am Rand und waren vorsichtig. Einige Male brachen sie in Spalten ein. Aber es gelang ihnen immer, sich gegenseitig wieder herauszuziehen. Ihnen war bewusst, dass sie ein hohes Risiko eingingen. Dieser Teil der Passage war lebensgefährlich. Aber sie genossen jeden Schritt davon. Und als sie die Séraczone hinter sich hatten und auf den flachen Firnhang hinauskamen, waren sie beinahe enttäuscht.

Um die Mittagszeit erreichten sie den Pass. Sie stiegen zur anderen Seite ab, liefen den Gletscher hinunter, folgten der Moräne und erreichten den Bach. Auf sonnigen Wiesen wanderten sie das Tal weiter auswärts. Am späten Nachmittag kamen sie in dem Dorf an, das sie sich als Ziel dieser Etappe gesetzt hatten. Sie fanden einen Gasthof, wo sie etwas essen konnten. Dann mieteten sie ein Zimmer. Es war winzig, befand sich direkt unter dem Dach und roch nach Sommer.

Sie zogen sich aus, legten sich aufs Bett und liebten sich langsam, bei Licht und während sie einander in die Augen sahen. Hinterher schliefen sie ein. Der rote Widerschein der Felswände, die in der Abendsonne standen wie Monolithe aus Blut, war ihnen gleichgültig.

Eine Stunde später klopfte es an der Tür.

Lombok

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