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Kapitel 3. Am Strand von Marathon

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»Und, hast du was?« Sie konnte kaum noch stillsitzen.

»Leider nein.« Der alte Kybernetiker schüttelte den Kopf. Es war knapp ein Jahr, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, damals war sie stolz nach Mariafels aufgebrochen, als jüngster Zögling des Elitestifts seit dessen Bestehen. Jetzt war sie wieder hier. Es kam ihr gleichzeitig weniger und mehr vor als ein Jahr. Und ihr väterlicher Freund schien das zu bestätigen. Sein Haar und sein Bart waren bereits von grauen Strähnen durchzogen. Der leidende Zug in seinen hageren, asketischen Zügen war einer Gelassenheit gewichen, für die Weisheit vielleicht nicht einmal das falsche Wort war. Seine schmale, hoch aufragende Gestalt hatte etwas Entrücktes bekommen. Aus dem Programmierer war endgültig ein Philosoph geworden.

»Gar nichts?!« Jennifer wollte es nicht glauben.

Laertes sah sie schweigend an. Sie sah, dass er nachdachte. Nicht über die Sache, sondern über die Art, wie er sie ihr schmackhaft machen sollte.

»Dieser Jeremy«, begann er behutsam.

»Ja?«

»Es sieht aus, als habe er nie existiert.«

»Aber er hat existiert«, brauste sie auf. »Er existiert! Ich habe fast ein Jahr mit ihm zusammen gelebt und gearbeitet.« Sie sah den Freund an. »Ich habe mit ihm geschlafen.«

»Das will ich gerne glauben.« Laertes schmunzelte nachsichtig. »Ich will dich ja nicht der Lüge zeihen. Aber hier drin« – er deutete auf das Tablet, an dem er über eine Stunde lang gesessen hatte –»hier drin existiert er nicht.«

»Wenn ihn jemand findet, dann du!«

»Genau das meine ich. Er existiert in der realen Welt, zweifellos. Aber in dieser Welt, auf die ich Zugriff habe, existiert er nicht.«

»Wie kann das sein?!«

Laertes legte die langen, schmalgliedrigen Hände ineinander, mit denen er die holografischen Menüs seiner Suchalgorithmen bearbeitet hatte wie ein Klaviervirtuose sein Instrument.

»Ich will keine Verschwörungstheorien in die Welt setzen«, sagte er in seiner behutsamen Art, »aber ich kann es mir eigentlich nur so erklären, dass er bewusst und äußerst professionell aus allen Systemen entfernt wurde.«

»Sie haben ihn verschwinden lassen.« Jennifer sprang von dem weißen Naturledersofa, auf dem sie mit untergeschlagenen Beinen gesessen hatte, und ging nervös im großen Salon auf und ab. Sie trug nur eine Boxershorts und ein Bikini-Oberteil. Der Frühsommer war bereits sehr heiß. Ihr dunkelblondes, schulterlanges Haar wischte über ihre nackten, schweißglänzenden Schultern. Sie hatte immer wieder versucht, es zu einem Pferdeschwanz zusammenzufassen. Aber das hatte nie länger als ein paar Minuten gehalten. Sie konnte ja doch nicht stillsitzen. Ihre braunen Augen glitzerten angriffslustig.

»Du hast gemeint«, sagte Laertes, »seine Familie sei sehr – einflussreich.«

Jennifer hielt auf ihrer erregten Wanderung inne und starrte ihn an.

»Auf alle Fälle haben sie Geld.«

»Das meine ich.«

»Ich weiß nicht, was sie genau machen. Ehrlich gesagt, haben wir uns über alles mögliche unterhalten, aber nicht über unsere Familien. Immerhin besitzen sie dieses Chalet. Und auch sonst ...«

»Das genügt schon«, sagte Laertes, wobei er offen ließ, ob er Jennifer Auskunft oder die Erwähnung des Vermögens meinte. »Es ist eine andere Art von Einfluss, als ihn beispielsweise dein Vater hier in Pensacola und in der Union hat ...«

Jennifers Miene nahm einen lauernden Ausdruck an.

»Aber es ist auch ein Einfluss, vermutlich ein mächtigerer und weiterreichender.«

»Geld regiert die Welt«, sagte sie voller Verachtung.

»Geld ermöglicht es, die Welt zu verlassen, zumindest diese hier.« Er deutete wieder auf sein elektronisches Gerät.

»Auch die wirkliche?« Sie nahm im Vorübergehen die Kanne mit der selbstgemachten Limonade von der Anrichte und goss ihnen beiden nach. »Meinst du, sie haben ihn auf eine der Kolonien gebracht.«

Laertes seufzte schwer. Sie konnte spüren, wie etwas in ihm aufbrach. Er versuchte es für sich zu behalten. Aber sie kannte ihn und seine Geschichte gut genug, um zu wissen, dass das ganze ihn nicht kalt ließ.

»Das ist Spekulation, Jennifer«, sagte er mit einem Ausdruck von Qual in den ausgezehrten Zügen. »Und diese Spekulation wird dich auffressen, wenn du erst einmal anfängst dich ihr hinzugeben.«

»Ich soll ihn mir aus dem Kopf schlagen«, sagte sie düster und ohne den Satz in Frageform zu kleiden.

»Ich denke, das ist es, worauf es hinausläuft.« Er sah sie offen an. Seine Augen schimmerten ein wenig. Sie wusste nicht, ob er in diesem Moment noch an sie und Jeremy dachte – oder an die Verlobte, die er vor über zwei Jahrhunderten irdischer Zeit zurückgelassen hatte.

»Okay ...« Sie legte die Hände aneinander und zupfte mit den Fingerspitzen an ihren Lippen. »Das klingt zunächst einmal sehr logisch und vernünftig ...«

»Du bist ein starkes Mädchen«, sagte Laertes. »Du wirst es schaffen. Im Augenblick denkst du natürlich nicht so, aber es gibt jede Menge attraktiver junger Männer da draußen, gerade hier in Pensacola.«

Sie erwiderte seinen Blick und nickte. Dann nahm sie ihre Wanderung wieder auf.

»Weißt du«, sagte sie nach einer Weile, »das Seltsame ist, dass ich, dass wir beide das die ganze Zeit geahnt haben. Dieses gemeinsame Jahr – diese acht Monate –, unsere gemeinsame Nacht, unsere Flucht ... – uns war immer klar, dass das keine Zukunft haben würde.«

Laertes ließ sie ausreden.

»Bereust du es«, fragte er dann.

»Keine Sekunde«, antwortete Jennifer, ohne zu zögern. »Natürlich wäre es schön, ihn jetzt hier zu haben, gemeinsam auf die Akademie zu gehen.« Sie unterdrückte ein Schluchzen und zog die Nase hoch. »Herrgott! Aber bereuen tue ich es nicht. Wir hatten unsere Zeit.« Sie sah den Philosophen verzweifelt an. »Es war Gegenwart, weißt du?! Es war Realität.«

Er hielt ihren Blick aus, obwohl seine Züge noch härter wurden.

»Und jetzt ist es Vergangenheit.«

Er nahm ihre Hände und hielt sie lange in den seinen. Dann küsste er sie auf den Handrücken.

»Du bist ein tapferes Mädchen, Jennifer. Dein Vater kann stolz auf dich sein.«

Sie nahm ihre Hände wieder an sich, als seien sie ein Geschenk, das er ihr überreicht hatte. Ein trotziges Lachen wand sich zwischen ihren Tränen durch.

»Was hat er gesagt?«, erkundigte sich Laertes vorsichtig.

»Er war großartig.« Jennifer trocknete sich die Augen ab. »Er hat mich am Flughafen abgeholt. Wir sind hier hergekommen, mein Zimmer war hergerichtet, wir haben eine Kleinigkeit gegessen.«

Gemeinsam sahen sie zur offenen Terrassentür hinaus. Jennifers Vater saß unten im Garten in einem Teakholzstuhl und las in einem Buch. Natürlich war es zu weit entfernt, um etwas erkennen zu können, aber wenn sie hätten raten müssen, hätten sie wohl beide darauf getippt, dass es sein geliebter Livius war.

»Dann sind wir ein Stück am Strand gegangen«, fuhr Jennifer fort. »Die Sonne ging draußen über dem Golf unter. Das Meer war wie Blut. So muss es am Strand von Marathon ausgesehen haben, nach der Schlacht. Er ritt sein Steckenpferd. Salamis, Gaugamela, Cannae.«

Beide lachten. Ashs Vorliebe für alte Geschichte hatte in letzter Zeit etwas Manisches angenommen.

»Dass der Sieg gegen die Sineser nur dem Ersten Punischen Krieg entspricht. Du kennst das ja.«

»Ja, ich kenne es.« Laertes schmunzelte. »Er hat mir seine Theorie ein oder zweimal auseinandergesetzt.«

»In Wirklichkeit war es vermutlich einige tausend Mal«, lachte Jennifer.

»Und jedes mal sage ich: Lass das den Rogers nicht hören! Wie stolz ist er auf seinen Triumph vor Persephone.«

Jennifers Miene, die sich gerade wieder aufgeheitert hatte, gefror.

»Entschuldige«, stammelte ihr väterlicher Freund. »Das war gedankenlos von mir.«

»Es ist schon gut.« Sie legte ihm begütigend die Hand auf die Schulter. »Wir müssen auch das irgendwie verwinden. Auch wenn es mit der Zeit sonderbarerweise eher schwerer wird als leichter.«

»Die Zeit heilt keine Wunden«, sagte er. »Sie reißt sie nur immer noch tiefer auf.«

»Warum ist das so?«

»Ich weiß es nicht. Die Dinge – die Verluste, die Fehlentscheidungen – sinken in uns ein. Sie vergiften uns, sie werden ein Teil von uns. Es ist sinnlos, sich dagegen wehren zu wollen.«

»Ja, das ist wohl so.«

»Andererseits ist es ja auch gut«, sagte der Philosoph. »Wäre es besser, wenn wir alles vergessen würden?«

»Ich weiß, was du meinst.« Jennifer hob den Blick zur Stirnseite des Salons, wo vier Portraits nebeneinander hingen. Ihr Bruder Alwyn in der Galauniform der Union. Eine schwarze Banderole lief über die Ecke des Bildes. Daneben ihre Mutter Beth, ebenfalls mit Trauerflor. Außerdem die Zwillinge Donnan und Garth. »Aber manchmal denke ich, das Vergessen wäre eine Gnade. Zumindest für ihn.« Sie nickte zum Garten hinaus.

»Die Erinnerung ist es, die uns zu Menschen macht«, erklärte Laertes steif. »Wir müssen die Toten in uns tragen.«

Jennifer sah lange vor sich hin, während sie mit den Zehen an den Fransen des tiefen Teppichs herumzupfte.

»Nachdem Mama gestorben war, ist für Papa eine Welt erloschen.« Ihr fielen wieder Tränen aus den Wimpern. »Was ist das auch für ein Wahnsinn! Er nahm sich eine so viel jüngere Frau und musste dann zusehen, wie sie vor ihm ging. Wir können zwischen den Sternen herumfliegen, aber gegen den Krebs können wir nichts machen. Sie ist innerhalb von ein paar Wochen weggestorben ...«

Laertes streichelte ihren Arm. Er ließ den Blick traurig durch den großen Salon schweifen, wo sie so viele wunderbare Abende verbracht hatte und einige sehr schlimme.

»Hast du noch Kontakt zu deinen Brüdern?«, fragte er.

Jennifer schüttelte den Kopf. »Nach Mamas Tod sind sie an die Westküste gezogen. Sie haben den Kontakt abgebrochen. Es war ihnen hier im Haus zu trostlos. Sie meinten, es sei besser so, auch für Papa und mich. Aber das war vermutlich nur Selbstschutz und Feigheit.«

»Man kann sie doch bestimmt ...«

»Wenn wir wollten, konnten wir sie sicher ausfindig machen.« Sie lachte. »Anders als Jeremy werden sie nicht völlig von der Bildfläche verschwunden sein. Aber wozu? Sie haben sich von uns losgesagt. Das müssen wir akzeptieren.«

»Jetzt hat er nur noch dich«, sagte Laertes mit einem Blick zu dem Lesenden unten im Garten.

»Ja, und ich enttäusche ihn maßlos.«

»Da darfst du so nicht sagen.«

»Er macht all seinen Einfluss geltend, um mich nach Mariafels zu bringen, obwohl er unter der Trennung und unter der Einsamkeit hier sehr gelitten hat. Und ich – schmeiße die ganze Sache nach acht Monaten!«

»Wenn er dir keine Vorwürfe macht, brauchst du es auch nicht tun.«

»Das ist lieb, Laertes, aber es hilft mir nicht weiter.«

»Ich kenne ihn, und zwar zweihundert Jahre länger als du. Ich denke, dass er trotzdem stolz auf dich ist. Ich glaube, er ist zufrieden damit, wie es gekommen ist.«

Jennifer sah ihn an.

»Du meinst, es war ein Test?«

»Vielleicht nicht in diesem – technischen Sinne, aber ...«

»Er hat es darauf angelegt, dass ich ausbüxe? Meinst du, er schätzt mich so ein?«

»Er ist dein Vater, er liebt dich über alles. Er wollte dir eine Möglichkeit geben, dich zu bewähren.«

»Aber ich habs versaut.«

»Vielleicht sieht er das gar nicht so.«

»Das ist mir zu abstrakt.«

»Vielleicht wollte er einfach sehen, wie du dich in dieser Situation verhältst. Du hast dich für dich entschieden, für die Freiheit, gegen die Bevormundung.« Laertes lächelte, als sein Ton ungewollt pathetisch wurde. »Für die Liebe, gegen die Erziehung. Für den Augenblick, gegen die Vernunft!«

»Und das ist – gut?«, fragte sie skeptisch.

»Beantworte es dir selbst.«

Er erhob sich, leerte im Stehen seine Limonade und brachte das Glas in die Küche. Er hatte viele Jahre im Haus gelebt und kannte sich aus.

»Wie geht es weiter?«, fragte er, als er zurückkam.

Jennifer schob den energischen Unterkiefer vor. »Den Sommer über bleibe ich hier und helfe Papa. Und im September, wenn das neue Trimester anfängt, gehe ich auf die Akademie.«

»Dann bist du nicht dauerhaft in Ungnade gefallen.«

»Papas Arm reicht immer noch sehr weit.«

»Du bist sein Mädchen!« Laertes küsste sie auf die Stirn. Dann ging er in den Garten hinunter, um sich von seinem alten Freund zu verabschieden.

Jennifer betrachtete eine Weile die Blumen, die Laertes ihr zu ihrem siebzehnten Geburtstag mitgebracht hatte. Sie richtete schweigend das Abendessen. Ihr Vater kam über die Terrasse ins Haus, roch an den Blumen und nickte zufrieden in Richtung des gedeckten Tisches. Er sah sie forschend an. Sie schüttelte den Kopf. Dann setzten sie sich zum Essen.

Lombok

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