Читать книгу Emma Nielsen - Die mit dem Teufel tanzt - Teil 1 - Matthias Rathmer - Страница 6
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ОглавлениеSolange sie nicht sicher war, absolut gewiss, überzeugter als es eindeutiger nicht mehr ging, dachte sie, könnte sie genauso gut eine Bank überfallen, sich dank der Künste des besten Gesichtschirurgen seiner Zunft eine neue Identität zulegen und irgendwo auf der Welt ein neues Leben beginnen. Das Absurde war unwiderruflich zur Wahrheit und damit noch unfassbarer geworden. Sie wusste immer noch nicht, ob sie bleiben oder augenblicklich fliehen sollte. Ihr Leben war in Gefahr. Doch statt nach allgemein gängiger menschlicher Vernunft geeignete Schutzmaßnahmen zu ergreifen, saß sie in einer Höllenbar im Jenseits, lauschte der wie frisch geölten Stimme von Elvis Presley und trank Cognac.
Der Schmusebarde, zu dessen Lebzeiten ihre Großmutter vermutlich schon in Ekstase gefallen war, hielt alle in seinen Bann. Er hatte eindeutig abgenommen, wie Emma befand. Von alten Fotos kannte sie den King of Rock’n Roll als reichlich abgehalfterte Existenz mit Drogen-, Fress- und Alkoholproblemen. Im Hier und Jetzt machte er einen sehr glücklichen und gesunden Eindruck. Michael Jackson indes hockte allein ein paar Meter vor ihr wie ein Häufchen Elend am Tisch und nippte übertrieben lange an einem Glas Diätcola. Sie überlegte, ihn aufzuheitern, so deprimiert, wie er da saß. Ob er wohl wusste, wie sehr die Menschen ihn auf der Erde immer noch schätzten, und wie viele Millionen Papa mit seinem Tod gescheffelt hatte?
Amy Winehouse, die mit ihrem bürgerlichen Namen gewiss weit weniger Aufmerksamkeit erreicht hätte, wie Emma vermutete, ohne dass sie über diesen Bescheid wusste aber doch annahm, dass kein Mädchen mit diesem Namen wirklich glücklich geworden wäre, schunkelte nur ein paar Meter von ihr entfernt vor der Bühne zur Musik des schmalzigen Schnullis aus den Fünfzigern. Dann und wann versuchte sie sich an einem seiner legendären Hüftschwünge. Dass sie dabei so wenig taktvoll den Inhalt ihres Whiskyglases auf die umsitzenden Gäste vergoss, quittierte sie permanent mit ihrem genauso typischen wie albernen britischen Popgehabe. Jedem Protest der anderen Gäste folgte das wilde Zungenspiel ihres beringten Mundlappens. Regelmäßig glitt sie mit dem gestreckten Zeigefinger ihrer Rechten ihren Schoss entlang. Sie sah abgehalftert aus. Sie war wieder einmal so voll wie die dauerhaft pubertierenden Jungs, die daheim regelmäßig das freie Wochenende begossen. Die arme Amy, dachte Emma. Sie gab sich so, wie sie die Sängerin aus dem Fernsehen kannte. Über jede Peinlichkeit war sie deshalb erhaben, weil der Ruhm ihr Talent gefressen und ihre Scham ertränkt hatte. Sie hatte sich zu Tode gelebt. Sie hatte sich, durfte sie der englischen Klatschpresse trauen, aus dem Leben geschluckt, gespritzt und geliebt. Und zwar geradewegs und unaufhaltsam hierher. In die Hölle. Wo sich augenscheinlich alle trafen, die sich auf der Erde einen einigermaßen tauglichen Starstatus erworben hatten. Wer immer diese Party organisiert hatte – er legte Wert auf eine exklusive Gesellschaft. Normalos mussten draußen bleiben.
Einen Tisch weiter saß Romy Schneider. Püppchengleich starrte sie mit blassem Puderteint wie paralysiert auf den italienischen Welttenor Luciano Pavarotti und die Zwillingsbrüder Robin und Maurice Gibb, die abseits vor der Bühne standen. Die so unterschiedlichen Stimmgewalten bereiteten sich offensichtlich auf den gemeinsamen Vortrag des Songs „Staying Alive“ vor, wenn sie die leisen Gesangsproben der drei richtig vernahm. Als der südländische Teddybär den Mastermind der Bee Gees und dessen kleinen Bruder ob ihrer unverwechselbaren Fähigkeiten der hohen Tonlagen temperamentvoll herzte, drohten beide an seiner breiten Brust zu ersticken. Wie zwei Jünglinge, die sich der Umarmung eines ungeliebten Onkels entziehen wollten, zappelten die schmächtigen Leiber in den Pranken und an den Flanken des wuchtigen Brummers.
Was und wen sie sah, hatte jedes menschliche Maß an Verwunderung und der schleichenden Ohnmacht darüber längst schon überstiegen. Emma war es noch immer nicht möglich, eine Bezeichnung für ihre Verfassung zu finden. In der Hölle war die Seele verloren. Wenigstens darauf konnte sie sich mit ihrem Gemüt verständigen. Mehr und mehr wurde ihr klar, dass es etwas gab, das sich die meisten Menschen zwar erhofften, doch darauf zu setzen nach irdischer Intelligenz reichlich dumm und lächerlich war. Es gab ein Leben nach dem Tod. Ein Teil der ehemals so weltlichen Stars und Sternchen tummelte sich putzmunter und unbesorgt an diesem Ort. Wo wohl all die anderen waren, die sie dazu gemacht hatten, fragte sie sich und wünschte sogleich aus tiefsten Herzen allen Promis der vierten und fünften Kategorie, die seit geraumer Zeit mit ihrem Stumpfsinn nicht unwesentlich für die allgemeine Volksverdummung weiter Teile der Republik verantwortlich zeichneten, ein schönes und vor allem langes Leben. Das fehlte noch, wenn jetzt der Schweiger und die Katzenberger in ihrem Rücken um die Wette quakten.
Sie war tatsächlich in der Hölle. Sie war ohne jeden Zweifel in einem Teil der jenseitigen Welt, die es nach artgerechter Vernunft nicht geben durfte. Ein Agent des Teufels saß an ihrer Seite. Er hatte sie an diesen so außergewöhnlichen Ort geführt. Sie stand auf der Todesliste Luzifers, seines obersten Herrn. Nur, wenn sie durch das ewige Licht flog, in das die Himmlischen einen schickten, wenn man die Abschlussprüfung im Garten Eden bestanden hatte, war sie gerettet. Emmas Sinne und ihre Auffassungsgabe schrien seit zwei Tagen dauergereizt nach einer Ordnung. Ruhe bewahren. Nachdenken. Sehen, sorgfältig darüber urteilen und dann erst handeln. Die eindringlichen Appelle an ihr Bewusstsein bedurften übermenschliche Kräfte.
Jeder, der einigermaßen bei Verstand war, würde in dieser höchst bedrohlichen Situation die Beine in die Hand nehmen und, so schnell er noch konnte, zur nächsten Polizeistation laufen. Die Beamten aber würden sie unverzüglich aus jedem Revier jagen. Um bestenfalls annähernd auch nur den Hauch einer Chance zu bekommen, sich einigermaßen glaubhaft erklären zu können, müsste sie einem der Ordnungshüter ins Gesicht springen, ihn überwältigen, seine Waffe entsichern, wild herumballern und ihn als Geisel halten. Eine Eliteeinheit würde gerufen, ein Mitarbeiter des polizeipsychologischen Dienstes angefordert. Der wäre in der Pflicht, ihr zuzuhören. Danach würde sie sich ergeben, mit dem Ergebnis, für Jahre im Gefängnis oder gleich in einer geschlossenen Anstalt zu landen. Ihre Lage war hoffnungslos, ausweglos wie ein Missstand aussichtloser nicht sein konnte. Abgesehen davon kannte sie nicht einmal den Weg zurück auf die Erde.
Es gab Stunden, die zu erleben so schräg war, dass die, die von ihr darüber hörten, nur müde lächelten und sie für hoffnungslos durchgeknallt hielten. Es gab Momente, die zu erleben so verrückt war, dass einem keiner auch nur ein Wort glaubte, obgleich sie wahr gewesen waren. Und es gab Augenblicke, die zu erleben so unvorstellbar war, dass sie darüber eisern schwieg. Alle diese Erlebnisse kannte sie. Was jedoch gerade geschah, machte es ihr unmöglich, eine Bezeichnung dafür zu finden geschweige denn eine Erklärung. Trotzdem. Sie musste glauben, was ihre Augen sahen.
John Wayne hatte Adolf Hitler soeben ein weiteres Mal ein Bein gestellt. Der Schlächter von einst war zur Sicherheit an einen Windhund angeleint. Das Tier zog ihn quer durch den Saal. Mehrere Gäste beschwerten sich über den Störfall. Zwei Kellner eilten herbei und sperrten den Barbaren vorsorglich zur allgemeinen Sicherheit in den Vorratsraum der Bar, worauf unverzüglich zackige und wütende Proteste aus der Butze dröhnten.
Am Nebentisch hatte Lady Di Platz genommen. Auch sie war real. Leibhaftig saß sie keine drei Meter von ihr entfernt. Auch daran gab es nichts zu zweifeln. Ihre feine Würde in ihrem Gesicht versprühte einen besonderen Glanz. Ihre Schönheit strahlte einem jeden, der an ihr vorbeikam und sie freundlich grüßte, entgegen. Ein englischer Offizier in Paradeuniform begleitete sie. Während die Prinzessin der Herzen einen Manhattan trank, spielte er, smart lächelnd, mit einem Whiskyglas in seinen Händen. Seine Schleimspur war gelegt, dachte Emma und fragte sich, wie sich eine Frau dieses Formats nur von einem solch stocksteifen Feuerkopf ausführen lassen konnte.
Mutter Theresa hatte es sich direkt hinter Diana am Tresen der Bar bequem gemacht. Die Wohltäterin aus Kalkutta hatte lange gebraucht, bevor sie ihre alten Glieder auf einen der Barhocker geschoben hatte. Sie bestellte einen Kamillentee und nahm ihre Hände zu einer Gebetshaltung zusammen, die ihrer Erscheinung etwas Erhabenes verlieh. Patrick Swayze schritt vergnügt an Emmas Tisch vorbei und zwinkerte ihr wie selbstverständlich ein Auge zu, als waren sie gute Bekannte. Ihm folgten eine Hand voll amerikanischer Präsidenten, die sich sogleich beim Oberkellner lautstark darüber beklagten, dass für sie kein Tisch mehr frei war, während Elvis auf der Bühne stand und einen Auftritt hinlegte, für den ihm die halbe Welt zu Füßen liegen würde.
Wohin Emma auch schaute, überall sah sie auf unzählige große und kleine Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die allesamt irgendwann einmal das Zeitliche gesegnet hatten und nun in einem Lokal in der Hölle ihrem Vergnügen nachgingen. Lady Di erhob sich plötzlich ungeduldig. Das Servicepersonal kam wegen der zahlreichen Gäste mit den Bestellungen einfach nicht nach. Entnervt trat die ehemalige Prinzessin an die Theke und orderte zwei neue Drinks. Das war sie, dachte Emma. Das war die Gelegenheit, auf die sie so geduldig gewartet hatte. Sie nahm all ihren Mut zusammen und gesellte sich zu ihr.
„Kein schöner Abend, was? Wissen Sie! Bei Elvis werde ich immer so melancholisch.” Mit Blick auf den Offizier schob sie leiser nach. „Er langweilt Sie, nicht wahr? Es macht jedenfalls den Eindruck.”
„What?” patzte Lady Di sogleich reichlich unzart zurück.
„Ich habe nur gesagt, dass Ihr Begleiter Sie bestimmt langweilt. Es geht mich nichts an, ich weiß. Aber Sie sehen so aus, als wurden Sie zu diesem Date verpflichtet.” Emma hatte sich ihr bestes Schulenglisch aus den Lippen gequetscht.
„I did’nt ask you anything! Let me live my life!” gab sie ihr noch schroffer zurück und gestikulierte ein weiteres Mal ungehalten nach dem Barkeeper.
Ihre flegelhafte Art überraschte Emma. Was für ein eingebildetes Luxusweibchen, dachte sie. Nur, weil nicht sofort alle nach ihrer Nase tanzten, musste sie hier die Oberzicke geben. Die amerikanischen Präsidenten kehrten im Gänsemarsch empört von ihrer gescheiterten Platzsuche im hinteren Teil des Lokals zurück. Van Gogh lief wie angestochen vorbei und fragte jeden nach seinem Ohr, während Rex Gildo freudetrunken in die Arme Max Schmelings fiel.
Im üblichen Gedränge riss Emma plötzlich affektähnlich die Prinzessin mit sich. Noch während beide zu Boden stürzten, hatte sie Lady Di in die linke Brust gekniffen. Auf ihr liegend griff Emma in die hochgesteckten Haare der einst so unbeschwerten Queen in spe und zog kräftig an ihrer frisch gemachten Frisurenpracht. Sie drückte sich mit beiden Händen auf dem königlichen Hintern ab, erhob sich wieder, half auch der Lady auf und bat um Entschuldigung. Im Gegensatz zu vielen anderen wusste Emma um die grundsätzliche Qualität ihrer Reue. Man konnte allenfalls um Entschuldigung bitten. Ob sie erhört wurde, war eine ganz andere Frage. Ron, ihr Begleiter, war aufgesprungen, um zu helfen. Der Offizier eilte zu Diana, die hysterisch herumzukeifen begonnen hatte. Noch einmal entschuldigte sich Emma mit tiefer Verbeugung, bevor der kleine Tumult beendet war.
„Was war das denn?” wollte Ron wissen, der den giftigen Blick des Offiziers nur schwerlich besänftigen konnte.
„Was soll schon gewesen sein? Nichts war. Bin nur gestolpert. Hab mich auch brav entschuldigt, aber Prinzesschen macht gleich ein Attentatsversuch daraus.”
„Lass sie einfach! Sie strahlt zwar unentwegt in die Unterwelt, aber es heißt, dass sie immer noch unter ihrer Depression leidet, ob es je ein Mann ernst mit ihr gemeint hat. Aber pst!” flüsterte Ron ihr zu und führte Emma zurück an ihren Platz.
„Und ich hab nie verstanden, warum sie ihren Charles an diese Camilla verloren hat.” Prüfenden Blickes legte sie nach. „Was die wohl besser konnte, hä?”
„Das willst Du nicht wirklich wissen, glaube ich.”
„Oh doch, Ron Gallagher! Das will ich sehr wohl. Die Zeit ist reif. Für alle Wahrheiten, meine ich. Für restlos alle, um genau zu sein.”
„Böse Zungen,” hauchte er ihr ins Ohr. „Böse Zungen behaupten, dass er... Na ja! Was meinst Du? Woher hat er wohl so große Ohren bekommen?” Ron riss die Augen auf, um seinen Ulk betonen zu wollen.
Emma entließ ihn mit abfälligem Blick. Sie würde lange brauchen, um aus ihm einen einigermaßen tauglichen Lebenspartner zu machen. Sehr lange, und das sollte er auch wissen. Als sie sich wieder gesetzt hatten, schob sie ihren Kopf dicht an sein Ohr. „Versuch es doch mal mit Liebe! Mit tiefer und aufrichtiger Liebe. Das hat sie von ihm gekriegt. Das braucht es, wenn Frauen glänzen können.” Es war weder die Zeit noch die Stätte, wie Emma befand, ihrem Auserwählten ein paar weitere tiefere Einsichten in Sachen wahrhaftiger Emotionen für die dauerhafte Zukunft einer gelungenen Zweisamkeit zukommen zu lassen. Also schwieg sie fortan.
Alle Gemüter hatten sich auch dank Elvis wieder beruhigt. Emma saß auf ihrem Stuhl und blickte eine Nuance gelassener durch den Saal. Wenigstens eine Zufriedenheit hatte sich in ihr eingestellt, resümierte sie ihre kleine Attacke auf die Echtheit all der Existenzen um sie herum. Der Beweisdrang in ihr hatte über jede Lähmung gesiegt. Es wäre völlig gleichgültig gewesen, wen es aus dieser so einmaligen Prominentendichte an diesem Ort erwischt hätte. Sie hätte jeden zu Boden gerissen. Sie hatte wissen wollen, ob sie nicht doch träumte. Sie hatte wissen wollen, ob all die Persönlichkeiten, ob nun wirklich wichtig oder nicht, tatsächlich echt waren. Sie waren es. Sie waren weder aus Wachs, noch irgendwelche Doppelgänger, noch sonst wie geklont. Lady Di hatte sich angefühlt, wie sich menschliche Wesen mit Haut und Haaren nun mal anfühlten. Und wie zur letzten Beweisinstanz gerufen stieß Mutter Theresa sie an die Schulter und reichte ihr ein weiteres Glas Cognac, auf das sie Emma einlud. Auch die berühmte Nonne aus den indischen Elendsvierteln war unbestreitbar wahrhaftig, sah Emma von dem nicht unwesentlichen Umstand ab, dass die tattrige Ordensschwester, wie alle Anwesenden hier, ein munteres Leben nach dem Tod führte.
Emma musterte Ron eindringlich. Er hatte tatsächlich die Wahrheit gesagt. Nichts mehr als die reine Wahrheit. Ihr Leben stand auf dem Spiel. Sie würde tun müssen, was er vorgeschlagen hatte. Sie musste einmal durchs Jenseits laufen, die Hölle hinab, am Inferno vorbei, dem Amtssitz Luzifers, den Berg des Fegefeuers hinauflaufen, bis sie das ewige Licht erreicht hatte. Dann erst war sie den Höllenfürst samt seiner Bande von Riesenschnauzern los. Emma erinnerte sich. Sie war ihm gefolgt. Eine Untergrundbahn hätte sie zermalmt, wenn er nicht gewesen wäre. Mit diesem Tag hatte alles angefangen. In diesen Stunden hatte sie eine Entscheidung getroffen, über deren Konsequenzen sie nicht die geringste Ahnung besessen hatte. Ihre Reise durchs Jenseits, das es entgegen vieler Bekundungen und Lehren also doch gab, sollte eine dramatische Enthüllung werden, die nie zuvor ein Mensch gemacht hatte. Und hätte Emma zu diesem Zeitpunkt bereits gewusst, wer im Hintergrund tatsächlich an den Fäden ihres Schicksals zog, hätte sie sich freiwillig für den Rest ihres Lebens in eine kleine, gemütliche Irrenanstalt eingewiesen.