Читать книгу Emma Nielsen - Die mit dem Teufel tanzt - Teil 1 - Matthias Rathmer - Страница 8

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Als Ron am nächsten Morgen seinen Laden öffnete, wusste er genau, was ihn, vor allem aber Emma, erwartete. Die ganze Nacht hatte er damit zugebracht, nach einigermaßen schlüssigen Erklärungen zu suchen, wie er den bevorstehenden Attacken begegnen konnte. Die, die Besuche in der Hölle wie den von Emma unverzüglich und brutal abzustrafen gewohnt und entschlossen waren, ließen sicher nicht mehr lange auf sich warten. Er war gespannt, ob seine Argumente Gehör finden würden. Er hatte den Kodex gebrochen, doch Emma würde dafür büßen müssen.

Ron hatte sofort reagiert, als er sie auf den Gleisen gesehen hatte. Er hatte vernommen, dass sie ihm gefolgt war und befürchtet, dass Emma die Gefahr unterschätzte, in der sie sich befand. Eile war geboten, Emma war chancenlos gewesen. Dass sie ihn seit Wochen beobachtet hatte, war ihm gleich während ihrer ersten Annäherung aufgefallen. Über Stunden hatte sie damals in einem rehbraunen Porsche an der Straße gesessen, ihn und seine Besucher mit einem Fernglas beobachtet und sich stets abgeduckt, wenn er zurückgeschaut hatte.

Bisweilen hatte sie ihre Nachstellungen reichlich plump gestaltet, mitunter auch amüsant. In der zweiten Woche, nachdem er seinen Laden bezogen hatte, war Emma auf den gegenüberliegenden Baum geklettert und hatte, als Ron sie angesprochen hatte, vorgegeben, ihre Katze zu suchen. Heimlich hatte Ron die Leiter zu Boden gelegt. Ganze zwei Stunden hatte sie auf dem Ast gesessen, bevor sie auf sich aufmerksam gemacht hatte. Die Ladenrollos hatte Ron heruntergelassen und Emma immer lautstarker fluchen gehört. Ein anderes Mal hatte sie angeblich ihren Schlüsselbund verloren. Hilfsbereit wie Ron war, hatte er ihr einen gereicht, den ein Kunde in seinem Laden vergessen hatte. Emma hatte sich hochroten Kopfes artig bedankt und schnellstens die Kurve gekratzt.

Ron ahnte ebenfalls, dass auch Emma hinter diesen Anrufen steckte, die ihn seit geraumer Zeit ohne Rufnummerübermittlung erreichten, und in denen der Teilnehmer am anderen Ende stets nicht ein Wort sprach.

„Ja, ich liebe Dich doch auch. Wann kommst Du endlich vorbei?”

Als Ron diese Worte ausgesprochen hatte, war die Verbindung sofort unterbrochen, ebenso, als er ein anderes Mal das Telefon an den Fernsehlautsprecher gehalten hatte, aus dem die stöhnenden Töne eines Liebesaktes gedröhnt hatten. Irgendwie aber mochte er Emma. Ihre schrägen Annäherungsversuche hatten sein eher tristes Dasein auf Erden erheitert. Auch ihre Anmut und ihr Esprit gefielen ihm, doch wegen seiner Mission wollte jeder Umgang mit den Erdlingen sorgfältig überlegt sein.

Er selbst war in jungen Jahren gestorben. Das war der Grund, warum er Emma vor dem Tod bewahrt hatte. Jetzt hatten beide, vor allem aber Emma, ein echtes Problem. In der Hölle sah man es überhaupt nicht gerne, wenn Menschen dort auftauchten. Im Reich der Toten hatten irdische Lebewesen so gar nichts zu suchen. Abgesehen davon, dass man die wenigen, die einen vergleichbaren Aufenthalt wie Emma erlebt und darüber berichtet hatten, für geistesgestört hielt, waren sie kurze Zeit später allesamt auf wenig natürliche Art verstorben, obgleich es stets genau so ausgesehen hatte. Emma also stand jetzt ebenfalls auf Luzifers Todesliste. Seine Schergen wetzten bereits die Messer.


Ron Gallagher war nicht sein richtiger Name. Geboren in London, am gleichen Tag des Jahres, in dem Benjamin Franklin in Amerika den Blitzableiter erfunden hatte, wuchs ein gewisser John T.C. Carlington bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr bei einem englischen Ehepaar in der Grafschaft Yorkshire auf, das den Knaben damals kurz nach seiner Geburt adoptiert hatte. Seine leibliche Mutter starb bei der Entbindung, der Vater erlag am darauf folgenden Tag den Verletzungen aus einem Duell. Er hatte dem Arzt hygienische Schlamperei bei der Geburt seines Sohnes vorgeworfen. Als John die Wahrheit über seine Herkunft erfahren hatte, knöpfte er sich den Arzt neuerlich vor. In einem Degenduell tötete John zwar den Quacksalber, wurde aber selbst so schwer zerstochen, dass auch er das Leben verloren hatte. Das war vor fast zweihundertfünfzig Jahren gewesen.

Im Sterbebett hatte es John T.C. damals mehrfach abgelehnt, Buße zu tun. Er wollte einfach nicht bereuen. Ohne zu wissen, welche Konsequenzen diese Ablehnung letztlich bedeutete, hatte er sich auf das Recht der Vergeltung und nicht auf die Bibel berufen. Außerdem hatte der Arzt die Aufforderung zum Duell angenommen und war wenigstens ehrenhaft gestorben. Siebenmal rief man den Priester zu Johns letzter Ölung. Der Pfarrer kapitulierte schließlich an dem Starrsinn dieser armen Seele.

Als John T.C. Carlington in der Stunde seines Todes die Augen geschlossen hatte, sah er sich wenig später einem Gremium gegenüber, das seine vermeintliche Sünde auf Erden in höchsten Tönen lobte. Er stand vor einem Tribunal des Teufels, das ihm ein überraschendes Angebot unterbreitete. John T.C. Carlington durfte, wenn er wollte, weiterleben, als Agent des Teufels. Seine Beharrlichkeit, den Verlockungen einer angeblichen Erlösung durch den Erzfeind Gott zu widerstehen, hatte großen Eindruck gemacht. Nach seiner Auserwählung erfolgte eine umfangreiche Ausbildung. Als Mitarbeiter der Hölle wurde er fortan mit verschiedenen Aufträgen auf die Erde geschickt, um die Menschen mit bösen Gedanken und Ideen so zu manipulieren, dass sie sich versündigten. Aus John T.C. Carlington wurde Ron Gallagher – ein Special Agent im ewigen Dienst seiner Majestät des Teufels, His Infernal Majesty.

Ron war einer von zahlreichen Agenten Luzifers auf Erden. Hielt das teuflische Tribunal einen Menschen, der in die Hölle gekommen war, für fähig genug, war der Status erreicht. Die Auserwählten blieben immer gleich alt und sahen stets so aus wie zu dem Zeitpunkt, als sie die Erde verlassen hatten. Ihre Körperfunktionen arbeiteten in einem anderen Modus. Sie waren unsterblich. Je nach Einsatzgebiet wechselten die Schulungen. Ron wurde wie die meisten allgemein ausgebildet. Sein Wissen in vielen Fachgebieten war enorm, jedenfalls nach irdischen Bewertungsmaßstäben. Für die höllischen Ansprüche besaß Ron indes eine eher durchschnittliche Bildung.

Im Laufe der Jahrhunderte hatte er sich durchaus einige Anerkennungen erworben. Seine Feuertaufe, den Marquis de Sade mit immer boshafteren Ideen anzutreiben, hatte er mit einer Drei bestanden. Dessen Quälereien hätten durchaus noch ein bisschen effektiver sein können, urteilte damals das Tribunal. Es folgten weitere Kurzeinsätze. Ron hatte sich bei Mozart erfolgreich bewährt, war in der Delegation auf dem Wiener Kongress, hatte Heinrich Hoffmann zum Struwwelpeter geleitet, den Spartakusaufstand mitinszeniert und war an dem Freitod Marilyn Monroes ebenso beteiligt wie an der Ermordung des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy. Freilich hatte er nie allein und verantwortlich agiert. Immer waren sie im Team unterwegs, und Ron hatte einen Teilauftrag der Missionen zu erledigen. Wurde ein gut aussehender, junger Bursche mit Charme gebraucht, kam Ron zum Einsatz.

Doch Ron blieb, je mehr er angerichtet hatte, lieber in der Hölle. Das ständige Lernen, die immer neuen Umstände, die Entwicklungen der Menschen, die irdische Kälte und auch viele der Menschen selbst waren für ihn eher eine Last, der er, wann immer er konnte, zu entfliehen versuchte. Er mochte es, mit seinen Kumpels in der Hölle abzufeiern, zu musizieren und den lieben Gott einen lieben Gott sein zu lassen. Jetzt war er wieder auf der Erde, war er wieder in teuflischer Mission unterwegs, um die angeblich so gigantischen Möglichkeiten der Unterhaltungsmedien zu nutzen, Böses zu verbreiten.

Luzifer persönlich hatte die Idee, zwischen Bits und Bytes und zwischen Web und Video zunächst eine ganze Stadt, dann das ganze Land und schließlich den gesamten Erdball zu infiltrieren. Ron war die Vorhut. Er wurde auserwählt, um den Feldversuch Luzifers zu realisieren. Es war sein erster Einzeleinsatz. Dass den Mitarbeitern im Inferno, der teuflischen Kommandozentrale, bei seiner Auswahl dabei ein Fehler unterlaufen war, als sie für diese Aufgabe eigentlich einen Agenten aus dem Fünften Agententrakt auswählen sollten, ärgerte Ron zunächst. Aller Protest half nicht. Dann aber erfuhr er, dass ihn die folgende Mission, zu der ein Agent aus dem Sechsten Agententrakt bestimmt worden war, dieser Ruf also ihn ereilt hätte, nach Irak verschlagen hätte, um dort den Bürgerkrieg weiter anzuheizen. So gesehen war diese Mission ein Glücksfall, denn Ron verabscheute Kriege und Gewalt. Aber das durfte keiner wissen.

Ron lebte seit zwei Jahren im Sechsten Agententrakt der Unterwelt. Sein Status kam dem eines strafgefangenen Freigängers, der am Abend in seinem Gefängnis zurück sein musste, um es morgens für eine regelmäßige Arbeit wieder verlassen zu dürfen. Dieser Teil des Höllenreiches, der sein Quartier beherbergte, war dem eigentlichen Jenseits vorgelagert. In ihr lebten alle teuflischen Bediensteten, die bei den Menschen einer geregelten Arbeit nachgingen.

Um auf die Erde zu gelangen und wieder zurück, waren Agenten wie Ron mit der Fähigkeit ausgestattet worden, sich zu entmaterialisieren. Dadurch konnten sie in Millisekunden die Grenzen beider Welten überwinden. Einmal in der Woche mussten sie dazu ihre energetisch geladene Kleidung aus der Wäschekammer abholen. Eine Garnitur reichte in der Regel für den Hin- und Rückflug.

An Sonn- und Feiertagen genoss Ron das höllische Treiben in der Unterwelt. Dann ging er in seine Lieblingsbar, traf seine Kumpel und feierte ordentlich ab. Der illustre Kreis brachte eine Menge Spaß. Wollte er allein bleiben, las er Bücher. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis Ron durch einfaches Blättern die wesentlichen Aussagen verinnerlicht hatte. Doch zum Ärger seiner Vorgesetzten war Ron selten danach, allein zu sein. Seine erstaunliche Lesefähigkeit verkümmerte von Jahr zu Jahr. Dafür konnte Ron wie ein Teufel fechten. Gespannt hatte er darauf gehofft, einen Einsatz zur Zeit der Französischen Revolution zu erhalten. Mantel, Degen und Abenteuer – das wäre genau nach seinem Geschmack gewesen, wenn nötig auch in einer anderen Zeit. Dieser Wunsch aber wurde ihm stets verwehrt. Vielleicht lag es daran, dass Ron durch derlei Enttäuschungen immer weniger Lust verspürte, an den teuflischen Pflichtdiensten auf der Erde Gefallen zu finden. Was er konnte, wurde ihm verwehrt. Was er wollte, blieb ungehört. Was er musste, passte ihm nicht.

Gab es für Agenten wie Ron eine Mission auf Erden zu erfüllen, erfolgte zunächst eine umfassende, auf die Aufgabe abgestimmte, Vorbereitung. Schulungen beinhalteten die Fächer Zeitgeist, Menschenkenntnis, Menschenführung und aufgabenspezifische Qualifikationen. Ein Fitnessprogramm war genauso Pflicht wie die Lektüre des Satanischen Manifests, auf dem sich jedes teuflische Handeln begründete. Lüge, betrüge, führe in die Irre, sorge für Streit und Zwietracht, animiere zu jedem boshaften Gedanken, verleite zu Sünden – die Aufgabe der Agenten bestand darin, im Wettstreit mit dem himmlischen Lager Versuchungen zu schaffen, denen die Menschen erlagen.

Insgeheim hatte Ron gehofft, im Vorfeld seiner Mission auch an den Seminaren teilnehmen zu können, die ihn danach befähigten, sich ständig verflüchtigen zu können und Ereignisse innerhalb der nächsten Stunde vorherzusehen. Diese Kurse aber waren sehr beliebt, entsprechend lang war die Warteliste. An beiden Schulungen hätte er in zwei Wochen teilnehmen können, doch er war bereits seit fünf Wochen im Einsatz. Auch das hatte nicht gerade seine Laune erhöht, als er berufen worden war, den Vorposten für einen globalen Internetkrieg zu übernehmen.

Ron machte sich an die Arbeit. Aus allen Ländern der Erde kamen jeden Tag mehrere Kisten mit neuen Filmen mit immer neuen martialischen Inhalten. Die Handlung war gleichgültig. Hauptsache Blut, Folter, Mord und Totschlag. Auch die Durchführung war austauschbar. Hauptsache Qualen und Tote. Zum Schein führte Ron alle anderen gängigen Filme aktueller nationaler und internationaler Charts, wenngleich die Sparte der romantischen Liebesgeschichten oder die der Filme mit einem Happy End vollständiger hätten sein können. Ein ganzes Regal war mit teuflischen Geschichten gefüllt, mit Filmen, in denen Luzifer persönlich in der einen oder anderen Abwandlung mitwirkte. Rons Lieblingsfilme füllten nur eine kleine Ecke. Er war ein Freund von Westernfilmen, vor allem ein Liebhaber des Banditenduos Sundance Kid und Butch Cassidy. War ihm langweilig, legte er einen ihrer Streifen ein, spielte mit oder sprach die Sätze, bevor es die Akteure taten.

Im Keller seines Ladens fanden sechs Suiten Platz, in denen Kunden gegen eine Gebühr ins Internet gelangten. Bei der Einrichtung des Lokals hatte er geschäftstüchtig vorgeschlagen, vier Suiten mehr einzurichten, wenn man das Ausmaß der anderen nur ein wenig begrenzen würde. Das Tribunal aber lehnte seinen Vorschlag noch immer rigoros ab. Sechs war teuflischer als Zehn, wie es hieß, denn die erinnerte die Erdlinge zuallererst an die zehn Gebote, was so wenig höllisch war. Ron widerstrebte die Kleingeistigkeit seiner Vorgesetzten.

Schnell und oberflächlich, wie die Welt und die Erdlinge nun mal waren, hatte er bemerkt, dass die meisten seiner Kunden bei ihm nur ins Netz gingen, um mal eben schnell ihre Emails zu checken. Das brachte ihn auf die Idee, von einem Server in Polen die vom Tribunal vorgegebenen Webseiten, mit teuflischen Inhalten versteht sich, direkt mit den größten und gängigsten Free-Mail-Anbietern zu verlinken. Wollte jemand also seine Emails lesen, und rief dieser jemand deswegen seinen Account auf, tauchten zunächst immer die gewünschten Webseiten auf. Erotikportale priesen Fremdgehen an, Tauschbörsen animierten zu Datendiebstählen, Zockerbörsen verleiteten zum Glücksspiel, Fightclubs schulten Gewalt. Wer den zusätzlichen Verlinkungen folgte, war unzähligen weiteren Verführungen jeder Art ausgesetzt. Die Mitglieder des Tribunals waren begeistert. Die Kunden indes quittierten das lästige Erscheinen und ständige Entfernen dieser Seiten mit durch und durch irdischer Verbraucherintelligenz und blieben seinem Laden fern. Ron kümmerte das wenig. Je weniger Erdlinge ihn aufsuchten, desto mehr Ruhe hatte er vor ihnen.

Ron hatte alle Rechner gestartet und sortierte gerade eine Kiste Horrorfilme ein, als Tarzans Urwaldgeschrei ertönte. Er hielt es für angemessen, diesen Sound für den heutigen Tag als Begrüßungssignal beim Betreten des Ladens zu wählen. Ein Mann stand in der Tür. Lässig trug er einen Ledermantel, der ihm bis zu den Fersen hing. Seine Haare waren pomadig nach hinten frisiert, tiefe Narben verliefen über sein Gesicht, und auf der Nase trug er eine Sonnenbrille mit dunklen Gläsern, die seine noch düsteren Augen verbargen. Sein Gast erinnerte ihn von weitem an eine Erscheinung, die entweder dem Spielermilieu oder anderen amüsant-amourösen Nebenbeschäftigungen zwielichtiger Typen zuzuschreiben war. Ron wusste sofort. Das war sein Besuch. Beide blicken sich sogleich duellmäßig an.

„Er weiß, warum ich gekommen bin.” Schwellenwächter Crassus nahm die Brille ab. Seine Pupillen schimmerten dunkel wie die Nacht. In der Höllenhierarchie war Crassus zum General aufgestiegen, wie Ron über eine befreundete Agentin erfahren hatte. Luzifer persönlich hatte ihn dazu in diesem Monat erst als Grenzhüter auch für Rons Distrikt bestimmt.

Ron befürchtete, dass Ehrgeiz und Gehorsam dieses Soldaten keinen Kompromiss kannte. Er versuchte, so beiläufig wie möglich zu wirken und stimmte ihm einsichtig zu.

„Also! Warum?” wollte Crassus wissen. „Warum hast Du gegen unsere Ordnung verstoßen?”

Ron gab sich weiterhin nachdenklich und wartete einige Zeit, ehe er antwortete. „Sie war mir gefolgt. Na ja! Ein Todesfall in dem Bahntunnel hätte bestimmt zu weiteren Untersuchungen geführt. Der Zugang hätte entdeckt werden können, ein neuer gesucht und errichtet werden müssen. Mehr Komplikationen, Aufschub, Ärger und natürlich jede Menge Kosten. All das wollte ich unbedingt vermeiden.”

Er hatte seine Erklärung so selbstverständlich vorgetragen, dass sein Gegenüber einige Zeit brauchte, um zu verstehen und zu urteilen. „Er weiß, was zu tun ist.”

Wieder bestätigte Ron wortlos mit kurzer Geste.

„Gut!” Crassus legte einen Autoschlüssel auf den Tresen und ging zur Tür. „Ein Leihwagen. Er steht an der Straßenecke. Ein Porsche. Automatik. Ich verlasse mich auf ihn.”

Ron blickte ihm nach. Er rang damit, in seinem Ton so dienerisch wie eben möglich zu klingen. „Ich möchte noch anmerken, dass ich nicht fahren kann.”

Crassus verharrte. Seinen Hinweis schien er so gar nicht erwartet zu haben. Blitzschnell drehte er sich zu ihm herum. „Was soll das heißen? Er kann nicht fahren.”

„Ich habe es nie gelernt. Nie gebraucht. Kein Führerschein. Kein Auto.” Ron gestikulierte seine Unschuld und zog die Schultern hoch.

„Wie darf ich das verstehen? Das ist absurd. Die Erdlinge lieben ihre Automobile mehr als alles andere,” fauchte der Schwellenwächter.

„Ich hatte es bei der Auswahl zu dieser Mission ausdrücklich bemerkt, dass ich keine gültige Fahrerlaubnis besitze und über keinerlei Fahrpraxis verfüge.”

Crassus horchte irritiert auf.

Es war wirklich so. Ron hatte noch nie ein Auto gefahren, und es auch nie gelernt. Er spekulierte ganz einfach darauf, dass sich mit diesem Defizit an Fähigkeiten die unliebsamen Einsätze auf Erden um ein beträchtliches Maß reduzieren ließen. „Deswegen doch auch der Fahrdienst jeden Tag,” ergänzte er erklärend.

Crassus war nachdenklicher geworden und schritt in mehreren Bahnen auf und ab.

Ron atmete erleichtert tief durch. Er hatte Zeit gewonnen, so viel wusste er. Mehr jedoch nicht. Er beobachtete den hochrangigen Grenzschützer, der stehen geblieben war und immer noch keine Lösung für den Planungsfehler bei der Agentenbesetzung anbieten konnte, für den er nicht verantwortlich, aber dennoch seinen Kopf hinhalten musste.

Plötzlich platzte Emma in den Laden und plapperte unvermittelt laut los. „Also schon, Ron Gallagher! Du erzählst mir jetzt sofort, was Du da gestern für eine Nummer abgezogen hast, oder...” Emma registrierte den vermeintlichen Kunden und unterbrach ihre Attacke.

Crassus schnupperte augenblicklich Luft. Ein besonderer Duft erheiterte sein Gemüt. Er lächelte auf, wandte sich mit einer zackigen Drehung herum und stand, wie von Geisterhand geführt, vor Emma. „Oder was?”

Emma war genauso verblüfft wie verschreckt. Wie war das möglich, dass sich jemand derart schnell bewegen konnte? Sie blickte auf das von Narben zerfurchte Gesicht und dann in jenes düstere dunkle Augenpaar, das sie stechend musterte.

Crassus verdrehte seinen Kopf mehrfach hin und her und beäugte sie immer interessierter aus verschiedenen Winkeln. Schließlich schob er seinen Zeigefinger unter ihr Kinn und grinste sie diabolisch an.

Emma geriet starr vor Verwirrung.

„Sie ist süß. Ein wirklich süßes Menschenkind. So jung. So frisch. Und so voller Leben. Ist sie es? Ist sie es?” Der Schwellenwächter rückte noch dichter an sie heran und roch an Emmas Hals. „Sie ist es! Sie ist es!”

Emma versuchte, sich wieder zu sammeln, denn dass ein Mann an ihrem Geruch interessiert war und sich ständig wiederholte, konnte nur bedeuten, einen Geistesgestörten vor sich zu haben. Sie trat einen Schritt zurück. „Und wer sind Sie bitte schön?”

„Mister Smith! Ich bin Mister Smith!”

Emma wandte sich gelöst ab. „Alles klar! Die Nummer kenne ich.” Sie ging auf Ron zu. „Er hat einen Clown zum Frühstück gehabt. Aber komisch ist das deswegen noch lange nicht.”

Ron verdrehte genervt die Augen und drückte seinen Zeigefinger auf den Mund.

Unvermittelt, wie von außerirdischen Zauberkräften geführt, stand Schwellenwächter Crassus erneut vor Emma, ohne auch nur einen Schritt getan zu haben.

Emma erschien er größer und breiter als zuvor.

„Schweige sie! Sofort!” Momente später, wieder wie von Geisterhand gelenkt, hatte er sich vor Ron aufgebaut. „Er hört von mir!” Mit schwungvoller Drehung wandte sich der Schwellenwächter ein letztes Mal herum und befand sich bereits an der Tür. „Der Satan kennt keine Gnade!” Dann verschwand er endgültig.

Emma schluckte tief. Ihre Verblüffung über diesen rätselhaften Auftritt löste sich. Langsam schritt sie auf Ron zu, stemmte ihre Hände in die Hüften und versah ihn mit dem kritischsten ihrer prüfenden Blicke. „Ok, Ron Gallagher! Wer zum Teufel war das?”

Ron schwieg. Er setzte sich auf den Hocker, atmete mehrfach tief durch und rieb sich angestrengt sein Gesicht.

„Hallo? Ich rede mit Dir.”

„Halt endlich mal Deine Klappe! Du hast ein echt großes Problem. Ein ganz großes Problem sogar.” Er ging in sich gekehrt auf und ab, und so wie er das tat, hätte es selbst für Emma etwas Besorgnis erregendes haben müssen. Stattdessen jedoch schüttelte sie voller Unverständnis ihren Kopf und war gewillt, ihre auffordernde Pose solange aufrechtzuerhalten, bis er eine Antwort von sich gegeben hatte, die Sinn machte.

Ron blieb stehen und schaute sie lange an. „Kannst Du eigentlich schwimmen?”

Emma geriet fassungsloser. „Puh! Wir kennen uns kaum, und Du willst mich im Bikini sehen?”

„Sag schon!”

„Sollte ich schwimmen können, wüsste ich nicht, was Dich das angeht. Und nur so ganz nebenbei wüsste ich gerne, was das mit dem zu tun hat, was hier gerade passiert ist.”

„Emma Nielsen! Glaub mir! Du hast ein Problem,” entgegnete er ihr leise.

Dumme Geschlechterkonflikte, dachte sie. Gerade die wollte sie unbedingt vermeiden. Emma unternahm einen neuerlichen, diesmal gemäßigten Anlauf nach einer Erklärung zu fragen. „Ok! Erzähl mir mein Problem! Ich meine, wenn ich eins habe, das ich nicht kenne, habe ich doch wohl ein Recht darauf zu wissen, was mein Problem ist.”

Sie hatte vor ihrem Besuch in Rons Laden die ganze Nacht über nicht einschlafen können. Erst gegen fünf Uhr morgens fielen ihr die Augen zu. Weil sie nach Erklärungen der Ereignisse des vergangenen Tages drängte, Ron wieder sehen wollte, die Schule aber rief, hatte sie vorgegeben, krank zu sein. Die Mutter hatte zu Beginn des allmorgendlichen Streits, den sie zeremonienartig ausgetragen hatten, kein Wort ihrer vermeintlichen Schulunfähigkeit geglaubt. Doch als sie ins Bad getreten war, und die Christiane ihre Tochter gesehen hatte, schickte sie Emma sofort zur Hausärztin. Emma hatte wie eine Karre Mist ausgesehen: übermüdet, mit rotem Rachen und schweißig glänzender Stirn. Die rote Zunge war das Resultat geriebener Paprika, und der Schweiß auf der Stirn war Babyöl gewesen.

Der Besuch bei der Hausärztin fiel entsprechend kurz aus. Emma hatte sich lediglich ein neues Rezept für zwei Medikamente ausstellen lassen, die eine Reizung der Nasennebenhöhlen linderten. Den alten Zettel dieser ärztlichen Verordnung hatte sie sorgfältig für genau die Fälle aufgehoben, versäumte Schulstunden entschuldigen zu können.

Eine halbe Stunde später war Emma wieder in der Wohnung gewesen, hatte ihre Lieblingsjeans und jenes Shirt mit der Aufschrift „Denken Hilft!” angezogen. Sie hatte ihre morgendlichen Täuschungsmanöver korrigiert, zehn Minuten später in Rons Laden gestanden und diesen neuerlich rätselhaften Auftritt des Narbengesichts erlebt.

Danach hatte Ron sich alle Mühe gegeben, Emmas Problem zu erläutern, was zur Folge hatte, dass sie nun, konsterniert wie nie zuvor, auf dem Hocker saß und schwieg. Zum ersten Mal in ihrem Leben, solange sie zurückdenken konnte, musste sie beide Arme und Hände heben. Sie ergab sich. Sie war nicht annähernd in der Lage, ein letztes Wort zu sprechen. Nur mit großen Mühen konnte sie eine erste Reaktion auf seine Offenbarung artikulieren. „Meinst Du nicht auch, dass es Zeit wird für Dich? Ich meine, Du bist doch sonst ganz in Ordnung, oder? Ein Psychologe kann Dir bestimmt helfen.”

Ron hatte Emma schonungslos alles berichtet, über sich, seine Herkunft, seine Vergangenheit, die Mission und über Crassus, den Schwellenwächter Luzifers, der gekommen war, um Emma zu holen, weil kein Mensch ungestraft die Hölle betreten durfte. Als Crashkid sollte Ron, wie in solchen Fallen üblich, dafür sorgen, dass Emma bei einem Autounfall getötet werden sollte. Er selbst hätte sich im letzten Moment, im Augenblick ihres Todes, entmaterialisiert.

Emma war ein heller Geist, und Phantasie besaß sie auch. Beide Fähigkeiten funktionierten auch jetzt noch ganz gut. Aber dieser Ron Gallagher tat schon wieder alles, um sie um ihren Verstand zu bringen. Er war irgendwie tatsächlich ganz schön krank, fluchte sie innerlich und ärgerte sich, dass sie bereit gewesen war, sich auf einen solchen Schwachkopf einzulassen. Sie musste gehen. Es war ratsam, diesen Freak zu vergessen. Vergeben war unmöglich. Wenn er wirklich so war, tat er ihr nicht gut. Wenn er Drogen nahm, gehörte er weggesperrt. Und dennoch haderte sie. Eine Frage beschäftigte sie. Sie hatte die Untergrundbahn kommen hören, sie gesehen. Die Lichter waren geradewegs und unausweichlich auf sie zugesteuert. Wäre Ron nicht gewesen, oder wer zum Teufel auch immer, sie wäre jetzt tot. Mausetot.

Sie musterte Ron sorgsam genau, der sich wieder daran gemacht hatte, die Filme einzuordnen. „Wenn es stimmt, was Du sagst. Nur mal angenommen. Warum hast Du mich dann vor dieser Bahn gerettet? Ich meine. Wenn Du doch wusstest, dass ich nach meinem Aufenthalt da unten bei Euch ohnehin gelyncht werde.”

Ron sah auf. Lange blickte er in ihr Gesicht. „Vielleicht, weil ich weiß, wie sich das anfühlt, wenn man in jungen Jahren alles verliert.” Er hatte es ehrlich gemeint. Doch das sollte sie erst viel später verstehen.

Emma jedenfalls schlug sich sofort die Hand vor die Stirn. „Ron Gallagher! Lügen kannst Du nicht. Und Romantik auch nicht! Was soll Dein dämliches Gequatsche?”

Wieder schritt er auf und ab. Er dachte angestrengt nach, verschränkte Arme und Hände hinter seinem Rücken und blieb bisweilen stehen, um eine Pose einzunehmen, die anzeigte, wie intensiv er seine Gedanken selbst überprüfte.

Sie beobachtete jeden Schritt. Sein Schauspiel, aufrichtige Anteilnahme und Sorge darzustellen, und nichts anderes war es für Emma, dessen wurde sie sich sekündlich sicherer, war gar nicht mal schlecht.

„Hast Du jemanden, dem Du vertrauen kannst? Bedingungslos vertrauen kannst. Ich meine, Ihr Menschen geht doch solche Verbindungen ein. Öfter, als Euch das gut tut.”

Emma stutzte. „Ich sage schon. Ich wüsste nicht, was Dich das angeht.”

„Hast Du jemanden, den Du liebst?”

„Werd nicht unverschämt!”

„Hör zu! Es gibt einen Weg, Dich zu retten. Dazu brauche ich zuallererst Kerzen und Leinentücher. Viele Kerzen. Dann sehen wir weiter.” Ron kritzelte auf ein Blatt Papier, dass der Laden vorübergehend geschlossen blieb und hing den Zettel in die Tür. „Ach, nimm’s bitte nicht persönlich! Aber wenn Du jemanden mit Verstand kennst, wäre es auch von Vorteil.”

Emma ergab sich ein zweites Mal. Sie suchte selbst nach einem Grund, sich das anzutun, von dem sie nicht die geringste Ahnung einer einigermaßen plausiblen Erklärung besaß. Vielleicht, weil sie noch nicht glauben wollte, dass Ron tatsächlich verrückt war. Sicher. Liebe machte blind. Aber was war, wenn man nur verknallt war? Dann überdachte Emma ein paar Augenblicke lang, was noch alles geschehen könnte, wenn Rons Befürchtungen wahr würden. Freilich, diese Momente waren nur kurz, aber sie waren ihr in den Sinn gekommen.

Wenn es bei Gott und allen anderen Heiligen wirklich stimmte, was er ihr erzählt hatte, und bislang hatte Ron sich in seiner Geschichte nicht ein einziges Mal verstrickt, stand sie auf der Todesliste des Teufels, und dieser Gedanke war genauso schräg wie unangenehm. Ganz abgesehen davon hatte Emma auch die Idee entwickelt, dass Ron ja vielleicht ein wahres Feuerwerk abgebrannt haben könnte, sie für sich zu gewinnen, sie zu beeindrucken, um sich Augenblicke später wieder darüber klar zu sein, dass er sich einen derart dümmlichen Eroberungsfeldzug niemals leisten wollen würde, schon allein des Aufwandes und der Anstrengung wegen. Von einer solchen gewaltigen Anmache hatte sie noch nie gehört. Letztlich. Emma konnte einfach nicht loslassen.


Warum genau Ron immer vehementer darauf bestanden hatte, diesen Ort aufzusuchen, hatten Emma und Oskar nicht wirklich verstanden. Sie hatten sich letztlich seinem Willen gebeugt. Er sollte eine faire Chance bekommen, seine diffusen Bemerkungen glaubhaft machen zu können. Es wäre ein Leichtes gewesen, das Werk, das er so gepriesen hatte, in seinem Laden im Internet mit einer Suchmaschine ausfindig zu machen. Nach ein paar Klicks hätten sie nachlesen können, wonach er drängte. Stattdessen hatten sie sich mit der Bahn auf den Weg zur Universitätsbibliothek gemacht. Während der Fahrt hatte sich Ron mehrfach amüsiert. Er hielt Tempo und Ausstattung dieser Art der irdischen Personenbeförderung für reichlich antiquiert. Mehr noch witzelte er, dass die Erdlinge dafür auch noch bezahlen mussten. Am meisten aber lachte er über den Begriff des Schwarzfahrens und beschloss für den Rückweg, sich genussvoll genau dieser Gefahr auszusetzen.

Ron unterhielt sich mit einem Fahrgast über die Reorganisation samt einer effizienteren Fahrplanordnung, da setzte sich Emma neben Oskar. „Sag mal! Wenn ich Dir eine dumme Frage stelle, antwortest Du trotzdem?”

Oskar blickte sie verwundert an. „Was, wenn die Antwort auch komisch ist?”

Emma haderte mit sich. „Rieche ich? Ich meine, rieche ich anders als sonst?” An seinem Blick konnte sie erkennen, wie dumm ihre Frage war.

Oskar schnupperte trotzdem an ihr. „Wenn es ein neues Parfum ist, vergiss es! Zu neutral. Ohne Wirkung.” Weil er vermeiden wollte, sich um Kopf und Kragen zu reden, beschloss er, sich einfühlsamer zu geben. „Was bitte meinst Du genau? Habt Ihr etwa...”

„Ich habe Dich nur gefragt, ob ich anders rieche als sonst. Mehr nicht.”

„Nein!”

„Dann ist ja gut!”

„Was ist gut?”

„Vergiss es! Ich hätte einfach nicht fragen sollen.”

„Mein Reden.” Oskar drehte seinen Kopf näher zu Emma und zog erneut Luft. Er wandte sich wieder ab. Momente später äußerte er leise Entrüstung. „Habt Ihr Euch etwa doch ein kleines Fickerchen gegönnt?”

„Nein! Haben wir nicht. Wir waren zwar bei mir. Und sogar zusammen in der Badewanne, um genau zu sein. Aber es ist nicht das passiert, was Du denkst.”

„Dann ist ja gut! Wenn Frauen nämlich ihren Hintern gezeigt haben, ist es meistens der Anfang vom Ende. Denken sie jedenfalls, ganz grundsätzlich. Wenn es ihnen dann noch gleich beim ersten Mal Leid tut, dann ist es...”

„Ich habe einfach keine Lust, eine Testfahrt zu sein,” hauchte Emma unvermittelt ins Nichts. „Er soll gefälligst vorsichtig mit mir sein!”

„Ach Gott! Lass das mal, mit dem Prinzessinnengehabe! Ihr Frauen seid doch alle gleich. Als hoffnungslose Romantikerinnen seid Ihr auf der Suche nach der wahren Liebe, redet Euch aber gleichzeitig ein, dass Ihr keinen Mann braucht, um Euch komplett zu fühlen.”

„Ist das so?” fragte sie noch leiser zurück.

„Du weißt, dass es so ist. So und keineswegs anders. Und es ist trügerisch, heuchlerisch nahezu. So wie die Aussagen, dass nur die Frauen für emotionale Reife, Zusammenhalt und Verständnis eintreten, sich als Rivalinnen in Wahrheit aber gegenseitig hassen.”

Emma stimmte ihm wortlos zu.

Oskar sah ihr an, wie sehr sie ihre Frage bedrückte, ob sie richtig lag, wenn sie sich weiter auf Ron einlassen würde. „Wenn sich Frauen auf sich selbst beschränken, kommen Lesben, Magersucht oder wöchentliche Therapiesitzungen dabei heraus. So willst Du nicht wirklich enden. Also! Wo ist Dein Mut?”

„Oskar Ortega! Könnten wir bitte schweigen. Ich ringe gerade mit meiner Zukunft.”

Den Rest des Weges folgte Oskar ihrem Wunsch, weil er in ihrem Ausdruck der ständigen Selbstzweifel wahrgenommen hatte, wie quälend lange es dauern konnte, bis der Traum von Liebe wie eine Seifenblase zerplatzte.

Als Emma und Ron zusammen mit Oskar eine halbe Stunde später die Universitätsbibliothek betraten, war vor allem Ron von der Ansammlung menschlicher Geistesergüsse in ehrwürdigem Ambiente sofort tief beeindruckt. Zahlreiche User, wie Oskar sie nannte, schoben im Registratursaal Mikrofilme ein und aus, drückten die Tastaturen unzähliger Rechner und notierten ihre Funde. Niemand sprach ein Wort. Einige schienen sich den ganzen Tag mit ihren Nachforschungen zu beschäftigen, wie Emma beobachtete.

Dank Oskar war ihre Recherche rasch beendet. Sie gingen in den Lesesaal des Mittelalterlichen Seminars. An dutzenden von Lesetischen saßen Studenten oder wissenschaftliche Mitarbeiter und gaben sich, vertieft in ein Buch ihres jeweiligen Stapels, verschiedenen Forschungen hin. Es war kein Ort für Emma. Die Stille bedrückte sie. Emma wurde ungeduldiger.

Ron indes blickte fasziniert auf zehntausende von Büchern, die vom Boden bis zur Decke in riesigen Regalwänden untergebracht waren. „Nicht schlecht, was Ihr Menschen hier unter einem Dach so gesammelt habt! Gibt es auch einen, der alles gelesen hat?”

Oskar stapfte beiden mürrisch nach. „Gib mir zwei Leben! Die Frage ist, zu was es nutzt?”

„Ich hab mal im Fernsehen jemanden gesehen, der für jedes Buch nur ein paar Minuten brauchte, um danach genau zu wissen, was drin stand.”

Ron musterte Emma abschätzend, bevor er eher beiläufig nachfragte. „Und wie viele Minuten brauchte er genau?”

„Weiß man’s? Zehn vielleicht?”

Ron blieb stehen und schielte Emma erstaunt an. „Das ist lächerlich!” bemerkte er leise allein für sich.

Oskar blätterte genervt in einem Verzeichnis. „Die Altitaliener haben eine QS-Registrierung. Nur wo zum Teufel...” Sofort hielt er inne. „Oh, war nicht so gemeint,” entschuldigte er sich kleinlaut.

Ron wurde ungehaltener. „Soll das heißen, Du weist gar nicht genau, wo wir es finden? Wir haben keine Zeit mehr.”

Oskar blätterte weiter. „Nicht genau.”

„Weißt Du überhaupt etwas über dieses Buch?”

„Es gibt die Odyssee von Homer. Es gibt die Bibel. Es gibt Shakespeare, ein paar Deutsche wie Goethe und Schiller, und es gibt James Joyce, Ullyses. Und dann das, was wir suchen. Willst Du Analysen?”

Ron nahm das Verzeichnis an sich. „Vergiss die Deutschen! Alles andere stimmt. Gar nicht schlecht.” Er musterte Emma und Oskar. „Ihr wisst es nicht, nicht wahr? Ihr wisst es nicht. Luzifer hat die Hölle tatsächlich so erbaut, wie es in der Göttlichen Komödie geschrieben steht. Aber Dante hat Luzifer kopiert. Luzifer war mit seiner Hölle zuerst da. Versteht Ihr? Nicht Dante. Dass Ihr Menschen in Eurer Beschränktheit so willenlos und unkritisch... Ach, was soll’s.” Ron blickte in zwei völlig erstaunte Gesichter.

Oskar fühlte sich gemaßregelt. Er war ohnehin nur widerwillig hierher mitgekommen, hielt er doch alles, was er über diesen Ron erfahren hatte, für die billige Show eines jüngeren Geschlechtsgenossen, sich Emma gegenüber wie ein italienischer Gockel aufzuplustern. Außerdem war sein Ausleihkonto gesperrt gewesen, was die letzten dreißig Euro für die Freigabe verschlungen hatte, die er dabei hatte.

Emma versuchte, die männlichen Gemüter zu beruhigen. „Hey, Leute! Kann vielleicht mal einer übersetzen? Ich bin zu jung dafür.”

Es dauerte eine halbe Stunde und unzählige verbale Auseinandersetzungen zwischen Ron und Oskar, dann endlich lag das Werk auf einem der Lesetische. Rons Augen funkelten. „Dantes Göttliche Komödie! Ein Meisterwerk!” Es dauerte noch mal eine halbe Stunde, bis Ron das Buch erklärt hatte. Und es dauerte noch mal eine halbe Stunde, bis Ron alle Fragen von Emma und Oskar beantwortet hatte.

Als Ron immer tiefer in dem Buch versunken war, stupste Emma Oskar an und forderte ihn auf, den Lesetisch zu verlassen. Draußen vor dem Haupteingang der Bibliothek saßen beide an die Wand gelehnt auf dem Boden.

Oskar drehte eine Zigarette. „Wenn es stimmt, was er erzählt, wenn er der ist, der er vorgibt zu sein, heilige Maria! Kleine! Dann steckst Du echt gehörig in Schwierigkeiten und hast einen Höllentrip vor Dir!”

Die Schwere der Atmosphäre hatte zugeschlagen. Emma war von ihrer Entscheidungsfindung sichtlich gekennzeichnet. Sie drehte Haare. „Oskar Ortega! Ich habe Dich gefragt, ob Du ihm glaubst.”

Oskar lächelte breit, bevor er antwortete. „Na ja! Lass es mich so sagen.” Seine lange Zunge leckte den Klebestreifen des Zigarettenpapiers. „Frag ihn doch mal, was er so nimmt. Davon hätte ich auch gerne.”

„Oskar, bitte! Was ist das Wesen einer aufrichtigen Frage?”

Er zündete sich die Zigarette an, nahm den ersten Zug und hustete. Dann pulte er sich ein paar Tabakkrümel aus dem Mund. „Manchmal spielt uns der Verstand einen Streich. Unser Ich verliert das Es. Das Es ist allein, und das Über-Ich schläft. Da kann man einfach nichts machen.”

Emma beobachtete den Qualm, der aus Oskars Nase und Mund entwich. „Rauchen macht dumm und impotent.”

Unverzüglich drückte er die Kippe aus und musterte sie eindringlicher. „Keine Ahnung! Gibt es Zeugen? Was ist mit dem Taxifahrer? Du hattest einen schlechten Tag. Deine Hormone spielen verrückt. Was weiß ich denn? Der Typ sieht rattenscharf aus. Der Typ hat Charme. Der Typ ist schlau. Er hat Dir mächtig den Kopf verdreht.”

Wortlos billigte Emma seine Worte. Seine Hinweise reichten augenblicklich aus, dass sie sich von einer geballten Ladung Scham samt Ärger darüber durchflutet fühlte.

Nach den Vorkommnissen im Laden mit diesem Widerling Mister Smith hatte Ron sie aufgefordert, Kerzen und Leinentücher zu beschaffen. Was Emma davon zu Hause vorgefunden hatte, war Ron nicht genug. So waren sie ins Kaufhaus gegangen und hatten unter den dummen Blicken des Verkaufspersonals mit zwei prall gefüllten Einkaufswagen Kerzen und drei Rollen Leinentüchern von insgesamt dreißig Metern Länge den kompletten Bestand beider Artikel erworben. Ron hatte Emma erklärt, dass sie damit ihren menschlichen Geruch neutralisieren konnten, was sie für die Schergen des Schwellenhüters auf der Erde unauffindbar machte. Das Wachs drang permanent durch den Stoff auf die Haut und verschloss Poren wie Drüsen.

Emma brauchte ganz einfach noch Zeit, um sich ein endgültiges Urteil über Ron machen zu können. Sie wollte sich selbst niemals den Vorwurf machen müssen, vorzeitig aufgegeben zu haben. Nur deswegen hatte sie dem Unterfangen zugestimmt und nicht, weil sie an die Wirkung glaubte, geschweige denn an den Grund dieser eigenwilligen Mumifizierung. In ihrer Wohnung hatten beide schließlich im Bad gestanden, als Ron Emma aufforderte, sich auszuziehen, die Tücher umzulegen und sich in die Badewanne zu stellen. Es hatte lange Blicke von Emma bedurft, bevor Ron schließlich verstanden hatte, dass er beim Umziehen unerwünscht war.

„Ok, Du kannst wieder rein!” Emma hatte wie ein eingelegter Pharao in der Wanne gestanden.

Ron hatte sie wie ein Bild in einem Museum sorgsam genau in wechselnden Posen betrachtet und mehrfach einen leichten Zug Luft durch die Nase eingesogen. „Du hast wirklich alles ausgezogen?”

Emma hatte gespürt, wie verlegen und unsicher sie geworden war. „Ich bin zu alt für solche Spielchen und zu jung für diesen Blödsinn.”

Dass sie sich zierte, sich ihm derart zeigen zu müssen, konnte Ron verstehen. Auch ihre Vorbehalte konnte er nachvollziehen. Dass sie ihm etwas vormachen wollte, war indes der Frechheit genug. Entsprechend tadelnd hatte Ron sie angepeilt.

„Schon gut! Aber denk dran! Wir haben einen Deal!”

Sie hatten sich zuvor darauf verständigt, dass Emma das tun würde, was Ron ihr sagte, wenn er im Gegenzug seine Kindheitsgeschichte einem Psychologen berichtete. Ron hatte nichts zu verlieren, und Emma war beruhigt. Jungs, die bereit waren, freiwillig eine Therapie zu machen, um Klarheit über ihre Schieflage zu erlangen, konnten keine Schandtäter sein, es sei denn, sie waren Schauspieler, was sie zu gleichen Anteilen disqualifizierte.

Als Ron das Bad neuerlich betreten hatte, schleppte er den riesigen Kübel, den sie von der alten Frau Winkler ausgeliehen hatten, mit flüssigem Kerzenwachs herein. Emma wollte wissen, wie um alles in der Welt Ron das Wachs so schnell hatte erwärmen können, doch Ron hatte geschwiegen. Eine Stunde war vergangen, bis Ron die gewünschte Wirkung festgestellt hatte. Das Wachs hatte eigenartig gerochen, doch auf Emmas nächste Frage, ob Ron noch etwas anderes hinzugegeben hatte, hatte er ebenfalls geschwiegen. Sorgsam hatte er jedes Körperteil mit einem Tapetenquast bestrichen. Als er Emmas Kopf mit dem Wachs massiert hatte, hatte Emma für ein paar Momente beseelt ihre Augen geschlossen. Seine Berührungen waren angenehm beruhigend. So behutsam war sie schon lange nicht mehr gestreichelt worden. Sie hatte eine Gänsehaut bekommen, die auch Ron interessiert registriert hatte.


Von der Göttlichen Komödie hatte Emma noch nie gehört, von diesem Dante Aligheri, der angeblich um das Jahr Dreizehnhundert fast fünfzehn Jahre daran geschrieben haben musste, auch nicht. Wozu auch? Deswegen aber war ja auch Oskar mitgekommen. Ron und Oskar verständigten sich nach zäher Diskussion darauf, dass es sich dabei um die bedeutendste epische Dichtung der italienischen und um eines der herausragendsten Werke der Weltliteratur handelte. Sie saßen an einem der Lesetische. Ron blätterte nahezu ehrfurchtsvoll Seite für Seite des Buches durch. Kryptische Zeichnungen und Fratzenbilder fielen Emma auf. Mehr noch aber beobachtete sie bei Ron eine gewisse Anspannung, die mit jedem Augenblick und mit jeder seiner Erklärungen zu wachsen schien.

„Die Komödie schildert im Grunde eine Reise durch die drei Reiche der jenseitigen Welt,” begann Ron sichtlich bewegt zu erzählen. „Von der Hölle, durchs Fegefeuer bis hin zum irdischen Paradies.”

„Warum ist es dann eine Komödie,” wollte Emma wissen, ohne sich wirklich richtig dafür zu interessieren.

„Gute Frage. Die Reise geht gut aus. Wohl deswegen.” Ron legte beide Hände auf die Seiten. „Wisst Ihr eigentlich, wie die Hölle entstanden ist? Habt Ihr jemals darüber gehört oder gelesen? Ich fass es nicht. Was nur bringt man Euch so bei, hä?”

Emma und Oskar blickten sich verdutzt an. Nein. Sie wussten es nicht. Beide hatten in ihrem Leben bislang keinen Anlass gesehen, sich damit zu beschäftigen.

„Aus einer Laune heraus hat Gott einen seiner Engel von einer Wolke gestoßen. Es war Luzifer.”

„Autsch,” bemerkte Emma.

„Das tat bestimmt weh,” ergänzte Oskar.

Ron verschränkte die Arme auf seiner Brust. „Wir können auch wieder gehen.”

Nach dem bösesten aller bösen Blicke, den Emma von Ron soeben kennen lernen durfte, hatten sie und Oskar nonverbal beschlossen, Rons Schilderungen gegenüber aufgeschlossener zu sein.

„Es gibt Überlieferungen, die besagen, dass Gott und Luzifer eine Auseinandersetzung hatten. Danach soll sich Luzifer darüber bitterlich beschwert haben, dass Gott in seinem Schöpfungseifer allein den Menschen ein Gewissen gegeben hat. Wie auch immer.” Ron wiederholte, wie also demnach der arme Erzengel Luzifer von Gott in die Tiefe gestoßen worden war, auf die Erde prallte, mit der Folge, dass ein gewaltiger Krater entstand, ein bis zum Mittelpunkt der Erde reichender riesiger Trichter, der sich nach unten immer weiter verengte. Am unteren Ende lag das Zentrum, das Inferno.

Der Trichter war nach Rons Schilderungen in neun Höllenkreise unterteilt. Das waren die Strafbezirke für diejenigen, die zur ewigen Verdammnis verurteilt waren. Am obersten der Kreise drängten sich die lauen Seelen, das Jammervolk, die Gleichgültigen und die Wertlosen, die weder der Himmel noch die Hölle haben wollte. Im ersten Kreis vagabundierten die Philosophen, die Weisen und die Dichter aus dem Altertum. Sie alle waren als Ungetaufte unerlöst vom Christentum, lebten schließlich vor Christi Geburt und konnten nichts dafür, wenn sie zu Lebzeiten ihre Sünden nicht büßen konnten.

Phantasie besaß Ron jedenfalls, wie Emma mit jedem seiner Sätze mehr mutmaßte und mit ihren Gedanken doch so weit weg war. In ihrer verzerrten Wahrnehmung hörte sie von den Sündern aus Leidenschaft, von furchtbaren Orkanen, von ewig kaltem Regen, von Schlemmern, die sich durch ekelhaften Kot schleppten, vom stygischen Sumpf, in dem sich die Zornigen zerfleischten, von feurigen Gründen, blutigen Wassern, vom düsteren Wald der Selbstmörder und schließlich von der Eishölle Cocytus, aus der blaue Gesichter und Leiber emporstarrten. Vom ersten bis zum neunten Kreis war alles Kriminelle, Schizophrene und Gestörte vertreten, was Menschen in ihren tiefsten Abgründen anderen Menschen antun konnten und dafür bestraft wurden.

Ron nahm nach seinen ersten Schilderungen erstmals wieder den Kopf hoch und schaute auf Emma und Oskar. „Im Erdmittelpunkt, im Inneren der nördlichen Halbkugel, hockt Luzifer selbst – im Inferno. Das wird der schwierigste Teil Deiner Reise sein.”

„Fein! Und was genau passiert da?”

Ron ignorierte Emmas Frage demonstrativ. Die menschliche Phantasie, war sie auch noch so gering, dachte er, sollte ausreichen, um sich vorzustellen, was es in Luzifers unmittelbarem Umfeld alles geben konnte, behielt aber seine Maßregelung für sich. Er wusste, wie sehr er die Glaubensfähigkeit seiner beiden Zuhörer reizte. Nach dem Inferno musste Emma den Läuterungsberg erreichen, der von unendlichen Wassern umgeben war. Die Menschen bezeichneten diesen Teil des Jenseits gemeinhin als Fegefeuer. Der Berg war ebenfalls von trichterförmiger Struktur, besaß ein Vorgelände und sieben Terrassen, auf denen sich all jene aufhielten, die im letzten Moment ihres Lebens Buße taten. An der Eingangspforte, setzte Ron seine Zusammenfassung über diesen Teil der jenseitigen Welt fort, würde einem sieben Buchstaben auf die Stirn gemalt, sieben P, als Symbole für die sieben Todsünden. Erreichte man einen der Kreise, erlosch jeweils ein Buchstabe.

Ron unterbrach seine Rede und prüfte die Resonanz seiner Zusammenfassung, was sich derart gestaltete, dass Emma und Oskar ungläubig wie niemals zuvor aus ihren Gesichtern blickten. Er wusste es sofort. Sie glaubten ihm nicht ein Wort. Er versah das Ende seiner Ausführungen mit einem Lächeln für Emma. „Auf dem Gipfel des Berges strahlt ein Morgenlicht. Das ist Dein Ziel.”

Emma bekundete ihm wie selbstverständlich ihre vollste Zustimmung. „Ein Morgenlicht. Wauh! Wie romantisch. Es küsst mich wach, nicht wahr?“

„Hast Du das ewige Licht erblickt, bist Du von dem Fluch Luzifers befreit. Du führst ein ganz normales Leben und wirst denken, alles war nur so etwas wie... wie sagt Ihr noch dazu? So etwas wie krasses Kopfkino.” Ron lehnte sich zurück und wartete auf eine Reaktion.

Auch Emma drückte sich gelassen in den Stuhl. „Na super! Und wie viel Taschengeld krieg ich für diesen Trip?”

Emma und Ron blickten sich lange an, bevor sie sich schließlich erhob, beide Hände auf den Lesetisch stützte und sich ganz langsam Rons Gesicht näherte. „Ron Gallagher! Du bist krank!” Sie stand auf und verließ den Saal.

Oskar hob entschuldigend beide Hände und ließ Ron ebenfalls zurück, der den Abgang der beiden mit stoischer Ruhe verfolgte. Er wusste, dass Emma diese Reise würde machen müssen. Und er wusste mehr. Viel mehr. Er streckte seinen Rücken durch und las weiter interessiert in dem Buch, das trotz seiner gewaltigen Bedeutung von der Menschheit vergessen worden war.

Wenig später war Ron beiden gefolgt. Er stand in der Tür des Bibliothekcafes und flirtete unverhohlen mit einer Studentin, die ihm freudestrahlend in die Arme gelaufen war. Langsam löste in Emma das tiefe Gefühl der Enttäuschung das noch tiefere Gefühl der Scham ab. Sie schämte sich dafür, dass sie all den Unfug eines gerissenen Hochstaplers mitgemacht hatte. Sie schämte sich dafür, dass sie einem Verrückten auf den Leim gegangen war. Sie schämte sich dafür, weil sie ihm, obwohl sie sich sicher war, dass Ron sie durch das Schlüsselloch der Badezimmertür beobachtet hatte, fast alles von sich gezeigt hatte. Es war besser, diese Verbindung zu beenden, bevor sie begann. Emmas Urteil stand endgültig fest. Nicht die Tatsache, dass sie eine Studentin war, verstimmte Emma, als sie auf beide blickte. Damit war an einem Ort wie diesem zu rechnen. Es war der Umstand ihres Aussehens, der Emma endgültig in einen tranceähnlichen Zustand versetzte. Blond, groß, blaue Augen, große Brüste und kleiner Hintern – der Teufel höchstpersönlich musste diese Frau modelliert haben.

Oskars Worte vernahm Emma nur noch im Hall. „Wenn Du mich fragst. Ein elender Verführer! Schalt Deinen Verstand wieder ein! Können wir jetzt gehen?”

Beide hatten sich viel zu erzählen, wie Emma registrierte und gleichzeitig den Sprudel des Zorns in ihrem Hals zu spüren begann. Sie scherzten und herzten sich. Immer mal wieder blickte die Blondine dabei zu ihr herüber, lächelte sie wie vom Himmel beseelt an und lauschte Rons Worten. Bis hierher war sie mit ihm gegangen, dachte Emma, um sich Momente später, ohne auch nur mit einem Grad Aufmerksamkeit auf das zu hören, was Oskar von sich gab, enttäuscht die Frage zu stellen, warum nicht einmal, nur ein einziges Mal, in ihrem Leben etwas glatt laufen konnte. Sie hatte so lange gewartet, auf eine solche Begegnung wie mit Ron. Sie war wählerisch gewesen, kritisch eben und vorsichtig. Sie hatte sich nicht an einen dieser armseligen Typen aus ihrem Umfeld verschenkt. Ron sollte die Eintrittskarte sein, die sie aus ihrem Muff herausholte. Ron sollte ihre Erlösung und der Anlass sein, ein anderes Leben zu führen. Sie wollte der Enge und Bürgerlichkeit ihres Daseins entfliehen, bloß weg aus dem mütterlichen Mief. Sie wollte bereichern und bereichert werden. Dass sie etwas alleine schaffen konnte, wusste Emma. Doch sie wollte die Kür laufen. Sie wollte zu zweit sein. Letztlich. Sie verspürte eine tiefe Sehnsucht nach Geborgenheit und Liebe. Doch all das, bis hierher, resümierte sie verbittert – es blieb ein Traum.

Zurück bei dem, was ihre Augen sahen, empfand Emma obendrein eine tiefe Demütigung. In dem Flirt der beiden, ihres Auserwählten und diesem billigen Flittchen, da war sie sich sicher, schwang bestimmt noch eine gehörige Portion Mitleid für ein kleines, naives Mädchen mit. Das nun war endgültig entsprechend ganz normaler Benimmregeln von Anstand und Höflichkeit zu viel des Spotts. Wutschnaubend schritt Emma energisch auf beide zu. Sie baute sich vor Ron auf, knallte ihm ohne jede Vorwarnung eine saftige Ohrfeige und stampfte beleidigt ohne jedes weitere Wort ab.

Emma Nielsen - Die mit dem Teufel tanzt - Teil 1

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