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Vorspiel - anbrechender Frühling im Jahre 1914

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Faber hatte seit langem eine immer klarer werdende Vorstellung vom Ende des Lebens, denn er bewegte sich ohne Unterlass darauf zu. Es war nicht der Tod, den er dabei immer klarer vor Augen sah. Es war das wachsende Nichts, das umso deutlichere Konturen bekam, je undeutlicher die noch beschreitbaren Wege des eigenen Daseins wurden. Dieses Nichts hat viele Namen. Manche nennen es das Aus, manche bezeichnen es als Hoffnungslosigkeit, manche als Sackgasse, manche als das Unten. Er hatte seine ganz eigene Vorstellung davon. Für ihn war es das fortdauernde Überschreiten einer Grenze, hinter der es kein Zurück mehr gab. Eine Grenze, die er jeden Tag ein bisschen mehr überschritt; eine Grenze, hinter der er sich selber einschloss, indem er immer mehr Türen hinter sich zufallen ließ und bei denen er sich kaum noch erinnern konnte, was sie eigentlich bargen. Es war die Grenze, hinter der sich das Leben auf die Erhaltung von Vitalfunktionen und einem Rest-Ich trotz immer widerwärtiger werdender Zwänge und Gewohnheiten reduzierte.

Einige Türen waren bereits für immer verschlossen. Seine Ehe war Geschichte. Er wusste nicht mehr, ob es der Alkohol war, der die Ehe zerstört hatte oder ob es der Alkohol war, mit dessen Hilfe er seine gescheiterte Ehe und damit einen Teil seines eigenen Unvermögens hinnehmen und ertragen wollte. Eine Tatsache war aber ihr Ende, das sich vor Langem schon als ein beharrlich ausbreitendes Schweigen andeutete und die unverrückbaren Regularien sichtbar werden ließ, von denen die Ehe seit langem bestimmt wurde. Er hatte nie die Kraft gehabt, gegen die Schatten zu kämpfen, die auf dem Alltag lagen, und die Ehe zu retten. Er hatte es geschehen lassen, dass seine Frau und später auch seine zwei Kinder sich immer weiter von ihm entfernten, bis die Ferne zuerst eine emotionale, später dann auch eine räumliche wurde. Er hatte nichts unternommen, als er ahnte, wie es um seine Familie stand, weil er es nicht wirklich wollte. Der Weg seiner Profession war einfacher, gradliniger, erhebender. Erfüllen konnte ihn nur seine Berufung, die er in der Wissenschaft fand; dies glaubte er jedenfalls eine Zeit lang, bis er merkte, dass auch sein Berufsleben unter der Last der neuentstandenen Leere zu leiden begann. Zwar verlor er nicht auch den Blick für sein berufliches Dasein gänzlich, aber mehr und mehr sein Ansehen unter den Kollegen, denen sein erlöschender Ehrgeiz und sein vermindertes Berufsethos nicht verborgen blieben. Zwar übernahm er noch Aufgaben und Forschungsaufträge, aber es waren mehr und mehr solche, die auch seine Studenten hätten bewältigen können. Stabilität hatte seine Karriere noch, aber sie war einem Schwung zu verdanken, der aus einer Zeit höherer Reputation entstammte. Immer weiter begab er sich selbst in Spezialbereiche, von denen er wusste, dass er in ihnen nicht brillieren musste, um erfolgreich zu sein, sondern in denen er aufgrund ihrer geringen Popularität zu den wenigen Sonderlingen und geduldeten Geringgeachteten gehörte. Damit trug er noch den Titel Ehemann und Professor der Chemie, aber diese fanden in der Wirklichkeit seines Daseins nur noch spärlichste Entsprechungen. Und so saß er also eines Tages wieder einmal in einem zwischenzeitlich zu seiner Stammkneipe gewordenen Gasthaus und vertrank sein nicht geringes Einkommen in einer Starre der Unfähigkeit, sich gegen die Türen zu stemmen, die sich hinter ihm schlossen und in einem undeutlichen Bewusstsein davon, dass ihm nicht mehr viel blieb, das er zu verlieren hatte.

Es waren nur noch wenige Tage, bis er hier seinen Stammplatz verlieren sollte. Er fiel nicht dadurch auf, dass er laut oder gar körperlich bedrohlich wurde, wie man das von vielen notorischen Trinkern kannte. Aber das Leben, das ihm mehr und mehr aus der Hand glitt, begann seine Spuren zu hinterlassen. Er trank immer größere Mengen und verlor immer häufiger die Beherrschung dabei; sei es, dass er nur sein Bewusstsein verlor, sei es, dass er sich übergab oder sich einnässte. Bisweilen sprach er auch andere Gäste auf eine Weise an, die diesen unangenehm war. Nicht, weil sie sich belästigt fühlten, sondern weil er ihnen leidtat und bei manchem das von einem Anflug schlechten Gewissens begleitete Gefühl weckte, dass man ihm eigentlich hätte helfen müssen. Häufiger vergaß er sein Geld und blieb die Rechnung schuldig. All dies wurde durch den Eindruck verstärkt, den seine nachlässiger werdende Hygiene hervorrief. Er wusch sich mit wenig Sorgfalt für die wenigen Momente, in denen er Menschenkontakte beruflicher Natur nicht vermeiden konnte. Er benutzte bisweilen auch seine mit Urinspuren kontaminierte Kleidung und roch oft ein wenig nach einer Mischung aus Schweiß, Urin, Fusel und Zigarettenrauch. In ein paar Tagen würde mit dem Hausverbot, das er hier erhalten sollte, einer der wenigen öffentlichen Orte verlorengehen, an denen er sich noch aufhalten konnte, an denen er eine Existenz hatte.

Als Chemiker wusste er, was er sich antat. Der Alkohol und sein Stoffwechsel, dessen Wechselwirkung mit allem, was am klaren Denken beteiligt war. Die Bakterien auf seiner Haut und deren übelriechende Stoffwechselprodukte. Seine mangelhafte Ernährung und deren Wirkung auf Vitalität und allgemeine Klarheit. Er wusste über all dies Bescheid, doch war es ihm eher Beruhigung, solange es ihm das dumpfe Gefühl gab, noch irgendetwas unter Kontrolle zu haben; auch wenn er hier Kenntnis und Kontrolle gründlich miteinander verwechselte.

Seine fortschreitende Übersättigung mit Alkohol, die manches Mal bereits am frühen Nachmittag begann, erfüllte ihn mit einem beständigen Gefühl von Ekel, das ihn isolierte. War es anfangs noch eine Abneigung, die aus dem Bewusstsein resultierte, dass man ihn mehr und mehr mied, war der Ekel ein Endresultat, das dieses Bewusstsein durch das Bedürfnis nach Einsamkeit ersetzte und durch eine diffus empfundene Abscheu vor dem Rest der Welt, die nur durch den Genuss von noch mehr Alkohol erträglich wurde. An den Vormittagen geistiger Klarheit waren es seine zunehmende Isolation und die Art, wie man ihn behandelte, die ihm das Gefühl vermittelten, dass er immer weniger ein Teil dieser Welt war. Die Menschen machten ihm nur durch ihre zunehmende Reserviertheit deutlich, dass seine Gesellschaft nicht erwünscht war, geschweige denn genossen wurde. Und so zog er sich weitgehend zurück und sehnte sich auf eine merkwürdig ambivalente Weise nach dem häufig schon am frühen Nachmittag beginnenden Vollrausch.

So dumpf wie den Ekel fühlte er die wenigen Anwesenden in seiner Kneipe. Seit Langem schon öffnete ihn der Alkohol nicht mehr, indem er ihn gesprächig, lustig vielleicht oder gar interessant machte. Die Wirkung des Alkohols hatte sich seiner Nähe zum Ende angepasst. Er machte ihn träge. Kaum einen von ihnen nahm er klar unterschieden wahr. Gesichtslos. Sie drangen durch zum ihm in ihren Stimmen, die sich wie eine rasselnde Kette von menschlichen, aber nicht artikulierten Lauten, durch sein Bewusstsein zogen. Unterschiedslos. Er nahm eine Reihe von Stimmungen wahr. Überhaupt schien das das Einzige zu sein, das noch bewusst zu ihm vordrang: Eindrücke, die für etwas standen. Doch zuordnungslos. Die Stimmen schienen ihm hell und heiter, wie auch die glänzenden heiteren Tupfen ihrer Gesichter, die sein Gesichtsfeld erfüllten und damit für den Gegensatz zu seiner dunklen Dumpfheit standen. Sie waren der Hintergrund, auf dem er sich abzeichnete; in seiner gesichtslosen Leerheit, als hohles Rauschen.

Lediglich einer schien sich etwas von den anderen zu unterscheiden. Er unterhielt sich nicht und war ebenso wie er alleine. Unauffällig. Das alleine war es aber nicht, wodurch er auffiel, denn er fühlte sich schon seit Längerem nicht einmal mehr den anderen Einsamen verbunden. Es war die Dunkelheit, die diesen Anderen umgab. Eine Dunkelheit, die sich auszubreiten schien und die in der Lage war, sich und den Anderen zu umschließen. Sie war wie ein Raum, in den jemand beide auf eine merkwürdige Weise einschloss. Ihm war es nicht unangenehm, denn dadurch verschwanden auch die anderen Menschen aus seinem Gesichtsfeld und er musste ihnen gegenüber keinen Ekel mehr empfinden. Das Wort „Tod“ kam ihm in den Sinn. Von drückender Angst angegangen, aber auch erleichtert betrachtete er es. Denn auf einmal konnte er etwas sehen, dass er schon lange nicht mehr betrachtet hatte. Er wurde seiner selbst bewusst. Ein Tod schien zu ihm alleine zu sprechen. Zu lange standen die anderen Mitmenschen schon am Rande seiner Existenz und bildeten den Rahmen seines Endes, in dem er nur sehen konnte, was sie ihn sehen machten. Jetzt, wo ihn Dunkelheit umschloss, sah er sich alleine an und ein alter und fast vergessener Vers, den er in seiner Schulzeit hatte auswendig lernen müssen, trat in sein Bewusstsein:

Der Menschen müde Scharen verlassen Feld und Werk. Wo Tier und Vögel waren, trauert jetzt die Einsamkeit. Wie ist die Zeit vertan!

Doch gleichsam, als würde er sich selbst antworten, kam ihm wie zugeworfen ein anderer Vers in den Sinn und setzte sich vor das Vorige.

Lass, wenn der müde Leib entschläft, die Seele wachen!

Fast unwillkürlich musste er sich zu dem dunklen Anderen umwenden. Der sprach mit unerwartet lebhafter Stimme: „Möchtest du das?“

„Wer bist du?“, fragte er träge in die Ecke hinein, aus der sich nun noch mehr Dunkelheit auszubreiten schien, als müsste er die Worte mühsam von sich wegstoßen.

„Wer ich bin, ist nicht wichtig. Viel wichtiger ist doch, wer du bist und warum ich bin.“ Nach einer Pause, in der die Worte langsam Halt in dem alkoholisierten Verstand fanden, fuhr der Andere auf eine unerwartet offene Weise fort: „Ich sehe dich dort, wo du angekommen bist. Dein Leben scheint rum. Man kann es riechen. Merklich zerfällst du. Und weil sich dein Verfall nun auch körperlich manifestiert, scheint er unumkehrbar. Darum hast du dich auch in dein Schicksal gefunden und folgst ihm, indem du loslässt. Ich mag das. Ich komme von Zeit zu Zeit zu Menschen, denen es ähnlich geht. Das Bestehende lässt mich kalt. Ich habe kein Interesse an den Menschen, bei denen alles wie von selbst läuft. Aber die, die ihren Zenit überschritten haben und sich der Talfahrt übergeben, das sind die Existenzen, für die es sich zu leben lohnt.“

Der Alkohol musste ihm stark zugesetzt haben. Wie sonst wäre eine solch gegenwärtige Wahnvorstellung möglich?

„Ist dir schon mal aufgefallen, wie paradox der Eindruck ist, dass man seinem Schicksal freien Lauf lassen könnte?“, setzte der dunkle Andere seine Rede fort. „Das Loslassen selbst ist doch eine mehr als deutliche Entscheidung für eine Wegänderung, der man sich bewusst ist. Der Mensch, der seinem Schicksal also freien Lauf lässt, hat es eigentlich noch mehr in der Hand als der brave Fabrikarbeiter, der jeden Tag gehorsam seine Schichten schiebt, oder als der Lehrer, der jeden Tag seinen Stundenplan abarbeitet an Schülern, die dies ebenso folgsam über sich ergehen lassen. Leute wie du sind die eigentlich interessanten. Sie haben ein Ruder in der Hand und vollziehen existenziell bedeutsame Wendemanöver. Sie entscheiden sich gegen den sicheren Anlegeplatz und für die Stromschnellen, auch wenn diese auf einen Wasserfall zulaufen.“

Er spürte die Worte. Hypnotisch waren sie. Er vernahm sie, erfasste nicht aber in jeder Einzelheit ihren Sinn. Doch er fühlte, was sie in ihm auslösten und dies wohl auch tun sollten. Sie rüttelten in ihm ein Gefühl wach, das wie eine Mischung aus Bedeutung und Hoffnung zugleich war. Es weitete ihn von innen, lähmte ihn aber auch zugleich, weil dieses Gefühl bedeutete, dass es seine Größe nur bewahren konnte, wenn er dort blieb, wo er gerade war: am Ende. Er spürte, wie sich das Gefühl in ihm ausbreitete wie ein sanftes Betäubungsmittel. Taubheit breitete sich von seinem Zentrum her aus, so dass er sich aufzulösen begann. Er zerfloss zuerst innerlich und wurde so schwarz wie der Raum um ihn herum. Er durchfloss dessen Wände und tauchte ein in das Stimmengeplätscher der Leute, das ihn eine Weile trug, bis er in kleinen Wirbeln mit den hellen Tupfen der Gesichter pulsierte. Warm und taub fühlte sich das alles an. Man hätte nicht sagen können, wie lange dieser sanfte und freundliche Schwindel andauerte, der ihn solange trug, bis er seinen haltlos gewordenen Kopf auf die Tischplatte schlagen fühlte. Ein zeitloses Schwarz umschloss ihn jäh, ein anderes als das erste, und gab ihn erst am frühen Nachmittag des nächsten Tages wieder frei.

***

So schlimm war es noch nie! Er war froh, dass er sich nur selten an etwas erinnern konnte. Es reichte ihm, dass er mit einem gewissen Maß an Sicherheit ahnte, wo er gewesen war und wie der Abend abgelaufen sein musste. Er konnte sich weder an die getrunkene Menge, noch an die Auswahl der Spirituosen, noch an Uhrzeiten, geschweige denn an den Heimweg erinnern. Er lag angezogen auf dem Teppich im Flur. Sein Gesicht in einer Lache kalten Speichels, der übel roch. Sein Kopf und sein Körper taten überirdisch weh. Sein Arm, auf dem er wohl gelegen haben musste, war taub und bewegungsunfähig. Seine Augen brannten, als er sie öffnete. Ihm war übel und schwindelig. Sein Körper lag merkwürdig verrenkt. An Aufstehen war so nicht zu denken. Langsam, mühevoll und unter Schmerzen drehte er sich auf den Rücken und starrte an die Decke.

Vor seinen Augen tanzten wilde, nervöse Punkte umeinander. Jetzt vielleicht wäre normalerweise die Zeit gewesen, in denen er Studenten in seiner Sprechstunde empfing, Hausarbeiten, Klausurergebnisse, Prüfungsvorhaben, Forschungsvorhaben und Ähnliches mit ihnen zu besprechen hatte. Jetzt saßen wahrscheinlich einige von ihnen vor seinem Zimmer und wunderten sich über seine Abwesenheit; vielleicht taten sie das aber auch nicht, sich wundern. Bei Tag war alles so klar für ihn. Die Welt bestand im Wesentlichen aus Materie und Energie. Daneben gab es für ihn nichts. Einigen Studenten machte er das immer wieder deutlich, aber sie begriffen es nicht. Die schickte er weg. Mit Studenten – und auch Kollegen –, die die einfachen Grundlagen nicht anerkannten, gab er sich nicht ab.

Die Grundlagen, das war eine Welt voll einfacher Prinzipien. In dieser Welt des Unsichtbaren herrschten die Elemente nach unveränderlichen Gesetzen der Anziehung und Abstoßung, der Bewegung und Ordnung, der Reinheit und der Mischung. Sämtliche menschliche Regungen waren hier irrelevant. Im Gegenteil, diese Gesetze waren lange vorher da. Sie lagen lange vor der Schöpfung als Möglichkeiten des Universums vor und zwangen die entstandenen Elemente in ihre Choreographie. In dieser Choreographie der Elemente gab es keinen Zufall, kein Abweichen, nicht einmal ein Schicksal oder eine Entscheidung. Das Einzige, was es hier für den Menschen gab, waren die Möglichkeiten, die diese unsichtbare Welt bereitstellte. Sie zu entdecken und zu nutzen war seine Aufgabe. Und die Probleme, die der Mensch hatte, waren gemessen an dem Reichtum dieser Welt nur dann Probleme, wenn es hier eine Lösung und damit einen Weg gab, der beschritten werden musste. Vielleicht war es diese Gewissheit, die es ihm ermöglichte, vormittags klar zu bleiben. Vielleicht war sie es aber auch, die ihn später wieder zur Flasche greifen ließ. War sie doch auch eine dieser Möglichkeiten, die es ihm ermöglichte, sich der unerträglichen Kontingenz menschlichen Zusammenlebens mindestens teilweise zu entziehen, wenn auch nicht so effektiv, wie er sich das vielleicht manchmal wünschte.

Er nahm sich zusammen und sammelte sich. Er musste langsam auf die Beine kommen, um wenigstens einige seiner Geschäfte zu erledigen. Er setzte sich vorsichtig auf. Sterne tanzten wieder wie kleine Moleküle vor seinen Augen. Kristalline Formen und Muster tauchten auf. Geduldig wartete er, bis sie gingen und ihn so klar sehen ließen, dass er aufstehen und den Tag beginnen konnte. Als er vor das Tor trat, war es eine kühle Frühlingsluft, die ihm den letzten Nebel des vorigen Tages aus dem Bewusstsein riss und ihn ermutigte, den Weg zur Universität, den er normalerweise mit der Elektrischen zurückzulegen pflegte, zu Fuß zu gehen. Die Luft war klar und gab die Sonne frei, die sich mit auferweckender Kraft über die Stadt legte. Fast war er versucht, sich der frühlingshaften Stimmung hinzugeben, die er auch in den Menschen auf der Straße sah. Sie schienen sich über den matschigen Grasgrund zu freuen, den der letzte wegtauende Schnee mehr und mehr freigab; über jeden Lebensfunken, der sich in den Straßen düsterer Enge trotzig zu behaupten versuchte, um Anfänge zu versprechen. „Aufklärung“, kam ihm in den Sinn. „Auferstehung“, dachte er mit einem Anflug von Hochmut. „Aber nicht hier, Leute! Nicht hier und nicht heute, nicht an diesem Ort. Was versprecht ihr euch vom Stadtleben? Immer mehr von euch strömen hierher an einen im Grunde lebensfeindlichen Ort. Hier benebelt ihr euch mit dem Gefühl, nicht alleine zu sein und auf der Höhe der Zeit zu leben. Hier wähnt ihr den Maßstab der Gegenwart. Ihr atmet Moderne. Hier tauscht ihr die einfachsten und Sicherheit gebenden Funktionen des Lebens gegen ein Bewusstsein von trügerischer Bedeutung ein. Wie ein Meer von Wassertropfen folgt ihr dem Strom, der euch morgens in die eine und abends in die andere Richtung zieht. Hier lasst ihr euch treiben ohne euch zu fragen, wer eigentlich für die Gezeiten sorgt. Ihr habt das Gefühl von Bedeutung und Wichtigkeit und seid euch eurer Lähmung nicht bewusst, der Lähmung, die euch die Stadt auferlegt, weil sie euch benötigt, weil sie sich aus euch baut und erhält. Ihr seid ihre Nahrung, ihre Atemluft. Sie saugt euch ein und saugt euch aus. Solange ihr noch Energie habt, seid ihr ihr von Nutzen. Hat sie euch verbraucht, scheidet sie euch aus und erst in diesem Moment werdet ihr vielleicht begreifen, dass euer Leben nie euer eigenes gewesen war und es deshalb hier niemals eine Auferstehung geben kann. Das Stadtleben ist kein Wert, nicht einmal ein Kompromiss. Es ist ein enteignetes Leben. Wenn ihr sterbt, werdet ihr es merken. Hier hat keiner mehr einen eigenen Tod. Nicht einmal mehr ein eigenes Altern. Tod und Alter sind hier genauso bedeutungslos wie das Leben selbst.“

Mit einem gewissen Stolz bemerkte er, dass er sich der milden Frühlingsstimmung nicht hingegeben hatte. Oft schon erschien es ihm, als hätte er die Aufgabe, einen Kampf zu führen; einen Kampf gegen das verordnete Leben, das ihm die Stadt als Ort des falschen Lebens in großen Werbelettern vor die Augen hielt. Er hasste ebenso diesen Ekel wie sich selbst dabei. Doch schien ihm das eine höhere Würde zu haben, als sich dem Strom hinzugeben, mit dem ihm die Stadt ihre Geschwindigkeit aufzwingen wollte. Ihm war, als erkenne er sich bei diesem Gedanken in seinem eigenen Treiben selbst; als schaue er in einen sehr klaren Spiegel. Gerechtfertigt und auf eine unbestimmte, weil ungewohnte Weise, zufrieden erreichte er die Universität, betrat den Flur der chemischen Fakultät, entschuldigte sich bei einigen wartenden Studenten für seine Verspätung und begann seine Sprechstunde in einer ganz menschlichen Stimmung, die so mancher als Frühlingsgefühl hätte beschreiben mögen. Entsprechend energetisch und belebt arbeitete er die wartende Menge ab. Hier eine korrigierte Hausarbeit, dort eine Beratung für eine Versuchsreihe, für den einen Literaturempfehlungen, für den anderen Tadel ob der Art, wie er seine Studien betrieb. Es ging alles sehr schnell und ungewöhnlich gut vonstatten. Normalerweise hasste er diese Sprechstunden. Vieles kam ihm trivial vor. Er musste über Dinge reden, die er schon unzählige Male durchdacht und abgeschlossen hatte, wenngleich sie für jeden seiner Studenten doch ein neues Problem waren. Das verlangte ihm viel Geduld ab. Vor allem aber waren ihm die Sprechstunden verhasst, weil es auch die Fälle gab, in denen er gezwungen war, zu tadeln und zu streiten, in denen er auf Unverständnis stieß und sich darum ganz menschlich geben musste, was er nur ungern als Teil seines Berufes betrachtete, weil er gerade dafür nicht diesen Beruf ergriffen hatte. Heute aber war es anders. Mühelos bewältigte er diese Situationen höchster Kontingenz. Es ging schnell. Und sogar dort, wo es normalerweise einen Disput hätte geben müssen, brachte er Humor auf. Er schaute in interessierte, glückliche, in manche dankbare Augen. Er spendete sogar Trost und munterte auf, wo es Schwierigkeiten gab. So verbrachte er Stunden, die wie mit einem Wimpernschlage vergingen.

Als er die Menge abgearbeitet hatte, blieb noch einer übrig. Ein dunkel und etwas außer der Mode gekleideter Student, dessen Alter nicht abzuschätzen war und den er zuvor noch nie gesehen hatte. Ihn umgab eine spürbare Leere, als dämpften sich die Eindrücke um ihn herum. Auch die Straßengeräusche schienen ferner zu klingen als bisher. Er spürte einen schwachen Widerhall in sich, den er aber nicht zuordnen konnte. Etwas Unruhiges regte sich in ihm und er hatte das Gefühl, auf der Hut sein zu müssen. Schließlich begrüßte er den Dunklen und bat ihn in sein Zimmer, dessen Tür er offenließ. Dieser setzte sich und fing ohne Umschweife an zu reden.

„Das Frühjahr scheint uns doch manchmal zu verstellen. Wir fühlen uns gut. Wir fühlen Lebenskraft. Wir packen Dinge an, die wir eigentlich hätten liegen lassen wollen. Wir entschließen uns sogar dazu. Doch das Merkwürdige dabei ist – und das beschäftigt mich schon gefühlte Ewigkeiten –, dass es sich so anfühlt, als wäre es unser Entschluss, unser Gefühl, als wären es gar wir selbst, die sich aufraffen. Dabei hätten wir zu anderen Zeitpunkten keinen Finger gerührt. Und das führt mich zu der Frage, mit was für einem Phänomen wir es hier eigentlich zu tun haben. Ich meine, woher wissen wir eigentlich, wer wir sind, wenn wir innerhalb von 365 Tagen in so ganz gegensätzlicher Weise denken, fühlen und entscheiden können? Ich frage mich ferner, ob es sich hierbei überhaupt um ein natürliches Phänomen handeln kann. Die Natur arbeitet nach festen Gesetzen. Lässt man Natrium und Chlor miteinander reagieren, so bekommt man Kochsalz. Uralte Salzvorkommen beweisen, dass das schon vor tausenden von Jahren so war. Erhitzt man eine Flüssigkeit, wird sie zu Dampf, kühlt man sie ab, kondensiert sie und wird wieder flüssig. In den einen Prozess muss man Energie stecken, aus dem anderen Prozess kann man Energie ableiten. Nichts vermag hieran etwas zu ändern. Aber der Frühling“, sagte er mit einem Lachen, das Faber unbehaglich war und das er als deplatziert empfand, „aber der Frühling macht irgendwie alles neu.“

„Arbeiten Sie über Salze oder über Jahreszeiten?“ Er wurde etwas ungeduldig.

„Beides“, entgegnete der Dunkle. „Beides. Es ist wie mit so vielen Dingen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Oftmals führen die Dinge ein über lange Strecken unbemerktes Dasein; egal, wie wichtig sie eigentlich sind. Und dann tritt an einer ganz anderen Stelle durch einen fast schon chaotischen Zufall etwas anderes ins Dasein und sorgt dafür, dass das eine in ungewohnt klarer Weise ins Bewusstsein dringt und Konturen bekommt, die es vorher nicht hatte. Was ist schon Kochsalz! Ewig, beständig und gerade dadurch unauffällig. Und der Mensch? Vergänglich, weniger beständig und sich selbst gerade dadurch auffällig. Treffen beide aufeinander, bekommt Salz auf einmal Geschmack, den es vorher nicht hatte. So ist das Leben selbst; eine Chemie, die auf Bestehendes zurückgreift und dabei Neues schafft. Man möchte meinen – und oft hoffen wir das ja gerade in den Naturwissenschaften –, dass der Bereich der Natur einmal geschaffen ein fixer Bereich ist. So war es nie! Die Schöpfung ist nicht abgeschlossen, sondern findet in jeder Sekunde statt, indem Dinge einander begegnen, die vorher noch nie einander begegnet sind. Und in eben dieser Begegnung entstehen neue Gesetze, von denen sich zukünftige Begegnungen derselben Art fortan nicht mehr freimachen können.“

„Dafür gibt es einen Ausdruck, Kontingenz. Wollen Sie mir bitte Ihr Anliegen mitteilen. Ansonsten möchte ich Sie nicht länger aufhalten“, versuchte er höflich, aber bestimmt, seinen Standpunkt zu verdeutlichen.

„Gab es bereits eine Chemie Ihrer Beziehung, als Sie Ihre Frau kennenlernten?“ Bei dieser Frage war es, als griffe der Dunkle ihm ins Innerste und als hielte er es zwischen zwei Händen fest umklammert. „Oder entstand nicht das Geschick dieser Beziehung erst in dem Augenblick, da sie zu existieren begann? Zwei junge und frisch promovierte Akademiker treffen am Beginn des 20. Jahrhunderts aufeinander. Sie sprühen vor Tatendrang. Angefüllt mit Idealen und der Faszination auf Ihrer Seite für eine Frau, die es ebenfalls geschafft hatte. Sie konnten sich in dem anderen gleichsam wiederfinden. Bestätigungsprobleme hat man in solch einer Konstellation nicht. Diese beiden taufrischen Moleküle wirft man nun in den Erlenmeyerkolben, wo sie gewissen Standartbedingungen unterworfen sind; die ja nun wirklich nicht vorhersehbar waren. Familiengründung mit Hochzeit und Kindern, standesgemäßer Auftritt an den Öffentlichkeiten, entsprechendes Ambiente, in dem man auch Gäste empfangen kann. Gestatten Sie mir die eine kleine rhetorische Frage! Haben Sie wirklich geglaubt, Ihre Frau bliebe an Ihrer Seite immer dieselbe? Nein! Mit Ihrer Liebeserklärung haben Sie Masse und Valenz Ihrer Frau verändert; freilich in einer Art und Weise, die nur in Verbindung mit Ihnen möglich war. Sicherlich haben Sie damit nicht ihren Kern verändert, der fortan sein Recht forderte und dieses merkwürdige Hin-und-Her von Anziehung und Abstoßung hervorgerufen hat, das Sie beide dort hingebracht hat, wo Sie heute stehen.“

Er war starr. Alles, was der Dunkle sagte, fühlte sich an, als stamme es aus einem uralten Wissen, das so alt war wie die Gesetze der Chemie selbst. Die Starre erfasste Brust, Nacken und Verstand und verband sich mit einem Gefühl, das irgendwo zwischen Angst und Neugier angesiedelt war. Der Dunkle redete über eine Beziehung, die er eigentlich nicht kennen konnte und doch zu verstehen schien. Er brachte diese Beziehung unter die ehernen Gesetze der Chemie und machte ihm unmissverständlich klar, wohin diese Beziehung hatte laufen müssen. Stück für Stück setze sie sich vor Fabers innerem Auge zusammen als ein zeitloses Gebilde, als ein Molekül mit seinen begrenzten Entwicklungs- und Veränderungsfähigkeiten. Seine Ehe schrumpfte in seiner Vorstellung zu einem unendlich kleinen und bedeutungslosen Etwas zusammen, das bereits in seiner Entstehung sein kolossales Scheitern enthielt.

„Sie rauben mir meine Zeit“, versuchte er mit einem letzten Rest von Widerstand gegen den größer werdenden Einfluss des Dunklen vorzubringen, wobei er merkte, dass seine Stimme dabei ungewöhnlich schwach war und keinen gewohnten Widerhall in seinem Büro fand, als sauge der Dunkle ihre Energie in sich hinein. Und als wenn er von der Bedeutung dieser Worte lebte, erheiterte sich der Dunkle mit leuchtenden Augen, atmete tief ein wie ein Mensch, dem man in einem Gespräch ein wichtiges und sehnsüchtig erwartetes Stichwort gegeben hat und entgegnete:

„Gewissermaßen haben Sie damit Recht. In einer gewissen Weise haben Sie sie mir aber auch angeboten. Ich bin schon vor langer Zeit auf Sie aufmerksam geworden“, wurde er jetzt offener. „Sie tauchten sozusagen in meinem Horizont auf und wurden in diesem immer deutlicher, als sich die Zeichen dafür verdichteten, dass Ihnen Ihr Leben zu entgleiten begann oder, wie ich es viel lieber sage, wo Sie sich dazu entschlossen haben, den Entwicklungen Ihres Daseins freien Lauf zu lassen. Ich sage das lieber, weil ich in dieser Hinsicht gerne positiv denke. Denn es gehört schon einiges dazu, seine eigenen Kräfte an die Welt abzugeben und ihr den Hauptteil am eigenen Geschick zu überlassen. Wenn Sie aber Ihre Kräfte der Welt übergeben, bleibt die Frage, was mit der Zeit geschieht, die hierbei entsteht. Sie haben damit ein schier unendliches Potenzial an ungenutzten Möglichkeiten entstehen lassen, von denen ich mich offen gestanden stark angezogen fühlte, was allen Wesen so geht, die sich mit der Zeit immer nur am Rande ihrer ansonsten eher zeitlosen Existenz befassen dürfen.“

„Wer … sind … sie?“, entfuhr es Faber in einer letzten großen Anstrengung, bei der er nicht einmal genau hätte sagen können, ob sie aus seinem Inneren oder aus der Gegenwart des Dunklen herrührte. Er wollte es sicherlich wissen. Doch kam dieses Wissen-Wollen aus einer Verbindung, die sein Innerstes in den Worten des Dunklen mit ebender Schicksalhaftigkeit einging, von der der Dunkle die ganze Zeit in einer Weise geredet hatte, als würde sie damit erst entstehen. Und als wäre dieser Gedanke sichtbar außerhalb seiner selbst gewesen, griff der Dunkle ihn auf:

„Ich bin der, mit dem du heute eine Verbindung eingehst. Unsere Geschicke haben sich in dem Augenblick miteinander verwoben, da du deine Zeit im Alkohol aufzulösen begonnen hast. Sowenig nämlich wie Energie kann die Zeit verloren gehen. Sie kann nur geordneter oder chaotischer werden. Gewissermaßen gibt es einen Zeiterhaltungssatz. Und wenn es Kräfte gibt, die für die Ordnung der Zeit stehen, mit einem Anfang und einem Ende und einer möglichst geraden Verbindung vom einen zum anderen, so stehe ich für die Unordnung der Zeit. Anfang und Ende sind mir gleichgültig. Ich liebe es, in der Zeit herumzurühren und für Verwirbelungen zu sorgen, wo es nur geht.“

„Warum?“, fragte Faber mit einer größer werdenden Klarheit, die daher rührte, dass er sich jetzt auf den Einfluss des Anderen einließ.

„Weil – und hier ist mir das Klischeehafte meines Gedankens fast peinlich – weil daraus so viel Neues entstehen will; wirklich neues, das den Namen des Neuen auch verdient. Nicht nur mit neuer Schale, sondern auch mit neuer Substanz; nicht nur mit neuem Aussehen, sondern auch mit neuen Regeln.“

„Wie soll das gehen? Soll ich mich zu Tode saufen?“

Der Dunkle zog die Stirn verständnislos zusammen. „Das wäre freilich der gerade Weg“, sagte der Dunkle mit einem Anflug von Humor. „Du könntest es, wenn dir dieser spießbürgerliche Weg der liebere ist, auch bewerkstelligen, indem du dir eine Kugel durch den Kopf jagst. Die geladene Waffe dazu hast du ja schon in deinem Nachttisch liegen. Damit würde uns aber wertvolle Zeit verloren gehen. HANS!“, rüttelte ihn der Dunkle auf. „Es gibt so viele Möglichkeiten, sich gegen die Zeit zu stellen und wirklich neu anzufangen. Du musst dich dazu nicht umbringen. Ich kann dir Wege zeigen, aus dem Leben zu springen, ohne dass du dich dazu selbst aufgeben musst.“

Mit seinem Namen hatte man ihn schon lange nicht mehr angesprochen. Und ihm war jetzt auch bewusst geworden, dass der Dunkle längst bei dem sehr unüblichen Du angekommen war. „Wie soll das funktionieren?“

„Durch meine Gastfreundschaft. Ich vermag in der Zeit mehr zu bewerkstelligen, als du dir jetzt noch vorstellen kannst. Die Welt ist voll von verlorenen Seelen. Bei manchen ist schon in der Schulzeit, bei andern schon mit der Geburt die eigentliche Zeit abgelaufen, weil sich dort nichts mehr zu bewegen vermag und bei manchen sogar der Verfall schon in den ersten Jahren einsetzt. Wir leben in einer Zeit der Fremdbestimmung, der Obrigkeitshörigkeit, der Kaisertreue, der Amtsgläubigkeit. Der Deutsche kommt nur zu sich selbst, wenn er sich in einer größeren Ordnung wiederfinden darf. Über dies hinaus vermag er nicht sich eigenständig zu orientieren. Muss er es trotzdem, fühlt er sich verloren, und zwar im wahrsten Sinne dieses in seiner Bedeutung inzwischen sehr verblassten Wortes. Das war schon immer so, wird immer so sein. Und es wird in der Zukunft sogar noch schlimmer werden. Aber das ist ein anderes Thema, das auf einem ganz anderen Blatt Papier verhandelt werden wird. Tatsache ist, dass die Zahl derer, die schon früh das Zeitliche segnen, schier unendlich ist. Du kennst sie aus deinem Berufsalltag. Es sind die Studenten, die ohne wirkliche Begeisterung für ihr Fach studieren, sich mit Stoff füllen, Prüfungen absolvieren, weil sie das Gefühl haben, dass sie das müssen ohne wirklich zu wissen, warum das so sein muss. Es sind die Schüler, die in der Schule herumsitzen und brav alles tun, was man von ihnen verlangt; die Schüler, die das Sprechen verlernt haben und es auch nicht lernen wollen. Infolge dessen stehen sie in mehr als spärlichem Austausch mit der Umwelt und wirken recht tumb; mit der Zeit werden sie das meistens auch. Ich will nicht lamentieren, aber wir leben in einer Welt, die so eingerichtet ist, dass die eigentlich vitalen Kräfte der Menschen nicht recht zum Ausdruck kommen dürfen, weil man es ihnen zuhause nicht anerzieht, weil man es in der Öffentlichkeit verbietet, weil man es im Berufsleben nicht fordert, weil das Leben heute nur aus Rollen und damit aus Hüllen besteht, die es auszufüllen gilt. Alles ist auf Erhaltung und Bewahrung ausgerichtet, auf Akzeptanz und Hinnehmen. Die wirklich verändernden Kräfte werden mit größtem Argwohn betrachtet, weil deren heilsames Wirken, das sich häufig erst nach Generationen offenbart, von den meisten Menschen nicht ansatzweise für möglich gehalten wird. Viele haben Glück und dürfen ihre Hülle mit Leben füllen und mit einer gewissen Vollständigkeit. Zu viele aber haben das Glück nicht und beschränken schon früh ihr Leben nur auf das Notwendigste. Und ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass deren Leben im Grunde schon in der Kindheit vertan ist.“

„Was für eine düstere Vision das ist, die du da schilderst.“

„Düster ist sie für den, der das Leben bisher nur von der Seite des Lebens kennt. Glaubst du daran, dass der Mensch eine Seele besitzt?“

„Ich weiß es nicht. Gewiss gibt es etwas Innerliches an uns Menschen. Aber …“

„… man kann es“, fiel ihm der Dunkle ins Wort, „leider nicht im Labor durch einen passenden Versuchsaufbau nachweisen, nicht wahr?“

„Wie soll man hier Gewissheit erlangen? Es würde alles ändern. Wenn wir wüssten, dass der Mensch eine vom Körper unterschiedene Seele hat …“

„… dann wäre die Welt um ein paar Bausteine reicher und ihr Wissenschaftler hättet neues Land gewonnen, das es zu erforschen gilt. Eine Gewissheit mehr, die euch spätestens in dem Augenblick um den Verstand bringt, da ihr merkt, dass sie mehr neue Probleme schafft, als man damit lösen kann. Denn wenn man weiß, woraus eine Seele besteht, heißt das noch lange nicht, dass man sie damit auch besser versteht. Ein verrückter Mensch bleibt ein verrückter Mensch, auch wenn man nun weiß, dass dies nicht auf stoffliche Ursachen zurückzuführen ist, sondern alleine eine Sache der Seele ist.“

„Was schlägst du vor? Mir scheint, du weißt bereits die Antwort und möchtest mir einen Vorschlag unterbreiten.“ Hans hatte sich schnell an die Vertrautheit des Du gewöhnt, erschrak aber auch angesichts des Maßes an Bereitwilligkeit ein wenig, mit dem er sich auf die Andeutungen des Dunklen einließ. Dieses Du drang tiefer in seine Seele, so schien es ihm. Sollte er auf einem erneuten Sie bestehen?

„Ich biete dir eine Erweiterung der Beobachtungen, mit denen du bisher kaum über den spärlichen Bereich der Empirie deines Labors hinausgekommen bist. Ich biete dir die unmittelbare Erfahrung an. Ich kann es dir ermöglichen, dein Leben, das hier an ein Ende gekommen ist, an fast jedem beliebigen Ort fortzusetzen, bis du seiner satt und überdrüssig es selbst beenden möchtest.“

„Fast?“, fragte er misstrauisch.

„Es gibt wie überall Einschränkungen und Opfer, auf die man sich einlassen muss.“

Hans wohnte dem Gespräch eher in einer passiven Haltung und in einer hypothetischen Einstellung bei. All das, was der Dunkle zu erzählen hatte, fühlte sich ernst und tiefgreifend, ja aufwühlend an, aber doch auch unwirklich. Es war wie eine gute oder zumindest berührende Lektüre, die man sobald nicht weglegen mochte, weil sie etwas mit einem anstellt und Erwartungen weckt. Daher ließ er sich auf all das Phantastische ein, das er hier zu hören bekam; auch wenn es jetzt Andeutungen von Verbindlichkeiten gab.

„Ich kann dir anbieten“, fuhr der Dunkle fort, „dein Leben in einem neuen, frischen Körper fortzusetzen; in einem jungen Menschen, einem jener Menschen, von denen ich eben geredet habe. Freilich würde das auch bedeuten, dass du dich auf ein wirklich neues Leben einlässt. In dem Augenblick, wo du als neuer Mensch, das erste Mal die Augen öffnest, gibt es kein Zurück mehr. Du hast eine neue, wenn auch kürzere und noch offenere Geschichte, mit der du leben musst und die dich in jedem Augenblick deines neuen Lebens verfolgt und Forderungen an dich stellt. Du hast eine Familie mit neuen Beziehungen und Erwartungen. Du hast Lehrer und wirst eine ganze Reihe von Erfahrungen machen, die du bereits hast durchleben müssen. Du wirst plötzlich Freunde haben wie auch Feinde. Von alledem weißt du vorher nichts. Du wirst eventuell in einer neuen Umgebung leben, die du nicht kennst und die vielleicht sogar nicht die Eigenschaften deines Standes besitzt. Du wirst in neuen Kleidern gehen, in anderen Betten schlafen, von neuen Gerüchen umgeben sein, mit dem Gefühl eines neuen und ungewohnt sich anfühlenden Körpers leben müssen. Vielleicht wird dieser zäher, vielleicht aber auch empfindlicher sein.“

„Interessantes Gedankenexperiment. Ich hatte bis eben den Eindruck, du wolltest mir etwas anbieten, das verlockend und bestechend ist. Gibt es auch Vorteile?“

„Über all dem, das ich dir hier berichte, steht ein neues Leben, das du von Beginn an neu gestalten kannst; wohl bemerkt als die Person, die du jetzt bist: gebildet, klug, reif, erfahren, voll Witz, Verstand und Geisteskraft. Alles Eigenschaften, die du nun in einer Weise einsetzen kannst, die dir in deiner dahinwelkenden Gegenwart verwehrt ist. Du kannst neue Wege ausprobieren und alte Irrtümer vermeiden. Ferner hast du eine perfekte Tarnung: einen jungen und in seiner Welt bereits etablierten Körper mit einer Stimme, die alle kennen; nur eben bewohnt von einem Geist, der sich allen Anforderungen dieses noch unverbrauchten Lebens mit Leichtigkeit wird stellen können und sich dadurch ein ungeahntes Maß an Macht und Anerkennung erschließen wird.“

Hans lächelte leicht, weil er noch immer in einem Zustand zwischen Neugier und Ablehnung dieser Märchen verharrte und das Gefühl hatte, dass er sich behaupten müsste. Wobei dieses Bedürfnis nach Behauptung abgeschwächt war durch die Gewissheit, dass er eigentlich nichts mehr zu verlieren hatte.

„Es gibt aber auch ganz klare Grenzen und Forderungen, die ich dir nicht vorenthalten darf“, setzte der Dunkle seine Rede fort. „Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass deine Seele mit deinem Namen sehr eng verbunden ist. Kein Name lässt sich in irgendeiner Weise klassifizieren. Er ist untrennbar – verzeih mir den Pleonasmus – mit einem Individuum verbunden. Würde man den Namen eines Menschen ändern, würde man damit auch seine Seele verändern. Jede Frau weiß dies, die nach der Hochzeit das erste Mal mit dem neu angenommenen Namen angesprochen dieses leichte Gefühl des Entwurzeltseins verspürt und eine Weile braucht, um die neue Luft, die sie atmet, als Teil ihrer eigenen Welt zu erkennen. Darum kannst du zwar dein Dasein in dem unverbrauchten Körper eines fast beliebigen jungen Mannes fortsetzen, aber die Auswahl ist dadurch begrenzt, dass er deinen Namen oder zumindest einen sehr ähnlichen tragen muss.“

„Ich glaube, das lässt sich einrichten“, entgegnete Faber zuversichtlich. „Gibt es noch andere Dinge, die du von mir verlangst?“, fragte er mit einer Zuversichtlichkeit, die zu erkennen gab, dass er nicht im Geringsten mit dem rechnete, was der Dunkle noch von ihm verlangen würde. Der Dunkle wurde sehr ernst und blickte mit einer Mischung aus Besorgnis und Mitleid auf Faber. Ihm war klar, dass er ihm nun eine hohe Hürde würde aufzeigen und gleichsam vor ihm aufstellen müssen.

„Es gibt noch ein Weiteres, das dir nicht leichtfallen wird, aber notwendig ist, damit du zeigst, wie ernst es dir mit diesem Handel ist. Ich hatte eben nicht nur angedeutet, dass es Einschränkungen gibt, sondern auch Opfer, die du wirst bringen müssen. Kurz gesagt: Wenn ich eine Menge Zeit in dich hineinstecke, muss ich sie mir an anderer Stelle holen können. Wenn ich deine Möglichkeiten, Leben zu gestalten ins schier Unendliche erweitere, muss ich an anderer Stelle Möglichkeiten endgültig vernichten dürfen. Deine Frau wird daher ihr Leben lassen müssen.“

Mit diesem Problem konfrontiert wurde Faber mit einem Mal klar, dass er dem Dunklen längst geglaubt hatte, was er ihm offerierte. Denn die Decke des Hypothetischen erwies sich hier als ein lediglich dekorativer Überwurf, der die Konturen dessen, was sich darunter befand, nicht verschwinden machen konnte. Bis zu diesem Augenblick hätte er sich als Vertreter einer eher instrumentellen Moralvorstellung beschrieben, als einen Pragmatiker, der Richtig und Falsch den Zwecken unterordnete, die man im Alltag zu verfolgen hatte. Am Nachmittag freilich war er eher amoralisch in einem nicht ablehnenden Sinne der Ignoranz. Dort war dann einfach nicht der Platz für Moral und die Welt zerfloss in die dumpfe Empfindung von Anziehung und Abstoßung. Wenn er trank, wurden Unterscheidungen weicher, fließender, unbedeutender. Nun aber sah er sich vor ein Problem gestellt, in dem es um ein Leben ging. Eine wirkliche Beziehung zu seiner Frau hatte er nicht mehr. Sie bedeutete ihm nichts mehr. Sie war der Teil seiner Vergangenheit, von dem er sich sukzessive entfernt hatte und den festzuhalten er mehr und mehr die Kraft und den Willen verlor; ein Teil, der zu seiner Geschichte werden und sich in seine Privatheit einbinden wollte. Gleichwohl war es aber auch der Teil, von dem er nun verstanden hatte, dass er dessen Wirkung auf ihn nicht zu beeinflussen vermochte. Streng genommen war er nicht einmal in der Lage gewesen, seine eigene Einflussnahme auf das gemeinsame Leben zu beeinflussen. Das war eine Gewissheit, die sich leicht in ein Gefühl des Vorwurfs umbauen ließ. Ohne den Einfluss seiner Frau wäre er unter Umständen niemals dort gelandet, wo er sich jetzt befand.

„Muss ich sie umbringen?“, fragte Faber und verdrängte dabei schon erfolgreich, dass er im Grunde von einer biographischen Episode mit der Unschuld einer chemischen Reaktion sprach.

„Aber nein!“, heiterte sich der Dunkle mit einer beinahe mephistophelischen Vergnügtheit auf. „Du musst sie nur freigeben. Alles andere erledigt sich quasi von alleine.“

„Wie wird das vor sich gehen?“

„Sie wird sich selbst umbringen. Alles, was du tun musst, ist deine geladene Waffe in deinem Nachttisch liegen lassen; an dem Ort, den sie kennt. Es wird zu einer Aussprache kommen. Ich werde das veranlassen. Schwierig ist es nicht. Sie ist auf ihre Weise eine gescheiterte Existenz. Sie war eine erfolgreiche Studentin; eine promovierte Chemikerin. Sie hat auf alle damit verbundenen Möglichkeiten deinetwegen verzichtet. Sie erträgt den damit verbundenen Groll nur, weil du erfolgreich bist und weil sie nicht weiß, was du tust. Wenn sie aber erfährt, dass ihr Verzicht vergeblich war, weil du mit Kampfstoffen experimentierst, mit Massenvernichtungswaffen, wird sie den letzten Faden, mit dem sie sich an ihr sinnentleertes Leben klammert, loslassen und den Abzug betätigen. Freilich wird sie dies in deinem Hause, vielleicht sogar vor deinen Augen tun, aber du wirst schuldfrei bleiben, denn dieser Abgang geht auf das Konto höherer Mächte, deren Wirken sich im Diesseits nicht nachweisen lässt.“

„Und wenn es nicht funktioniert?“

„Wird es! Für das Gelingen ist nicht entscheidend, wie du dich an dem Tag schlägst. Entscheidend ist dein Entschluss. Steht der fest, gibt es kein Zurück mehr. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Sie wird sich dann nicht im Anschluss an euer Gespräch umbringen, sondern später.“

„Wann?“

„Das willst du nicht wissen.“

„Ich habe das Gefühl, dass ich bereits mehr Wahrheit abbekomme als in den letzten drei Jahren zusammen. Da wirst du mir das letzte Quäntchen in dieser Sache nicht vorenthalten wollen!“

„So sei es. Du hast eine Menge an Entdeckungen gemacht. Manche davon nützen der Menschheit, manche nicht so sehr. Manche deiner Erfindungen wird einmal gut gemeint gewesen sein, jedoch ihre mehr als fatale Wirkung entfalten, die du nicht wirklich wirst begriffen haben, da du dein Anliegen damit für erledigt und gelöst halten wirst. Jedoch wird es deiner Frau, sollte sie dann noch am Leben sein, den Boden unter den Füßen wegziehen und ihr jeden Lebenswillen stehlen. Denn sosehr sie sich auch jetzt von dir entfernt. So groß die Distanz zwischen euch jetzt auch ist. Sie wird sich immer als ein Teil eurer Schicksalsgemeinschaft begreifen. Dazu hat sie zu viel in eure Verbindung investiert. Zu diesem Zeitpunkt würdest du gewiss längst das Zeitliche gesegnet haben und kein körperlicher Teil ihrer Gegenwart mehr sein. So dass du in jedem Fall von ihrem Ableben nur aus der Zeitung erfahren könntest.“

Faber wurde von einem grammatischen Strudel mitgerissen, der ihm teils durch seine Unverständlichkeit, teils durch seinen Mangel an Indikativ eine immer größere Sicherheit in dieser Sache suggerierte. Er hatte es in der Hand und konnte den Handel im Grunde nach seinem Gutdünken gestalten. Dass er es wollte, stand für ihn in diesem Augenblick außer Frage. Es war ihm nicht bewusst, dass der Dunkle ihn im Grunde mit einem einfachen Trick manipuliert hatte. Die Alternative, seine Frau zu opfern oder es nicht zu tun, wurde durch die Alternative, seine Frau durch eine direkte Konfrontation zum Selbstmord zu bringen oder nicht selber anwesend sein zu müssen, ausgetauscht. Er könnte sich also sogar davonstehlen, wenn ihm das lieber wäre.

„Wie geht das vor sich? Muss ich irgendwas unterschreiben oder per Handschlag einwilligen?“

„Aha, ich sehe, da hat jemand in der Schule gut aufgepasst! Schon oft hat die Literatur versucht, meinesgleichen nachzugestalten. Aber wenn ich ehrlich bin, war ich nie gut getroffen. Ich ziehe es vor, das Offensichtliche nicht unnötig durch Zelebration zu festigen. Unterschriften, vielleicht durch Blut, Handschlag, mystische und magische Rituale, Zauberformeln und dergleichen sind für Menschen mit verminderter Denkfähigkeit. Sie benötigen etwas, das sie sich vorstellen können, damit es wahr wird; sowie die Hostie, die ihnen ihre Gerechtigkeit glaubhaft macht oder eine Nationalhymne, die ihnen gemeinschaftliches Verbundensein ins Hirn singt, weil man es plötzlich zu fühlen meint. Die Wirklichkeit hat ihren Ursprung alleine in deiner Entscheidung. Einen Vertrag schließt man nicht durch eine Unterschrift, sondern durch das Wollen der Regeln dieses Vertrages. Merke dir das bitte! Dazu benötigt man kein Blatt Papier und erst recht keinen goldenen Füllfederhalter. Ob du Teil des Vertrages bist, wirst du immer daran erkennen, dass du ein Teil einer Welt bist, die sich durch deinen Entschluss verändert.“

Wann war man entschlossen? Woran merkte man, dass man sich zu etwas entschlossen hatte? Hans Faber versank für einen Moment in Gedanken und merkte nicht, dass der Dunkle verschwunden war. War er wirklich gerade einen Vertrag mit einem Mephisto eingegangen? Er musste bei dem Gedanken schmunzeln; einerseits, weil es ihm noch unwirklich erschien, andererseits, weil er dem Dunklen einen Namen gegeben hatte. Wie war das noch gleich? Gut getroffen hatte ihn die Literatur nie? Dazu gehörte zweifellos ein Name. Nun gut! Aber das war doch nur menschlich, wenn wir eine Bezeichnung brauchten. Nein, eine Bezeichnung war das aber nicht. Es war ein Name. Dahinter steckt immer ein Subjekt; jemand, der Entscheidungen treffen und den man dafür verantwortlich machen kann. Hans sah recht klar, was der Dunkle mit seiner Lektion hatte sagen wollen: Er bot sich als Vehikel der Zeitlichkeit an. Darüber hinaus hatte er offensichtlich nichts zu bieten. Das Ja zu einem Vertrag lag in den Händen dessen, der sich dazu entschloss und damit in dessen Verantwortlichkeit. Und sobald man in Anerkennung dieses Vertrages durch sein Entschlossen-Sein etwas in der Welt veränderte, hing man in der Sache, war man ihr verhaftet. Entschlossen-Sein war das Gegenteil von Zweifel. Entschlossen-Sein zeigte sich immer schon in der Tat, in der Zielstrebigkeit, aber auch im Zulassen. Er fand das alles umso banaler, je länger er darüber nachdachte. Und weil es so banal war, wurde ihm auch klar, worin die Verlockung der Macht lag, die ihm der Dunkle in Aussicht stellte. Wer vermögend war, konnte sich über die moralische Anklage hinwegsetzen, je mehr Macht man besaß, desto weniger Anklage würde einem begegnen. Für einen kurzen Augenblick fragte sich Faber, ob der Dunkle ihm an Ende nicht eine Falle gestellt hatte. Aber so schnell, wie dieser Gedanke kam, wischte er ihn auch wieder beiseite und schüttelte dabei lächelnd den Kopf. Zu unwirklich schien ihm noch all das, was er gehört hatte. Zu fern, um es als greifbar zu begreifen.

Dunkel war es inzwischen geworden, früh am Abend. Das Gespräch erschien ihm in einer kurzen Weile verstrichen zu sein, tatsächlich mussten Stunden vergangen sein. War das ein Vorgeschmack auf die Macht über die Zeit, von der der Dunkle sprach? Wo war er überhaupt? Würde er ihm wiederbegegnen? Faber ordnete seinen Schreibtisch und dachte darüber nach, was er jetzt tun würde. Normalerweise war er um diese Zeit regelmäßig in einem Zustand, in dem er sich über solche Fragen den Kopf nicht mehr zerbrechen konnte; in einem Zustand, der er nur als dumpf, träge und langsam zu beschreiben war. Das war das ziemlich genaue Gegenteil von dem, was er jetzt empfand. Er fühlte sich leicht, er fühlte sich - erhaben. Ihm war, als würde er nicht wirklich in diese Welt gehören. Alles war wie in einem größer gewordenen Abstand. Er hatte den Geschmack von Alkohol auf der Zunge. Das war ein untrügliches Zeichen für den starken Appetit auf hochprozentige Getränke, die ihm Betäubung versprachen. Aber es bereitete ihm in diesem Augenblick keine Schwierigkeiten, dieses Gefühl zu ignorieren. Ganz im Gegenteil! In einem gewissen Sinne war es mit einem weiteren Hochgefühl verbunden, von diesem Appetit zu wissen, ihn wahrzunehmen, ihn ins Bewusstsein zu heben und ihm nachzuspüren. Es war ein kleines Kribbeln in den Mundwinkeln, das er nun auf die Zunge schob, beobachtete und seines Anspruches auf Befriedigung entledigte, bis nur noch eine leise Ahnung dieses Appetits übrig blieb und unter dem Einfluss eines sich öffnenden neuen Horizontes in Fabers Leben erstarb.

***

Einige Tage später stand er ratlos vor seinem Haus und sah seiner Gattin hinterher, die sich ohne zurückzublicken und mit wütendem und entschlossenem Schritt entfernte. Den Dunklen hatte Faber seit dem Treffen in der Universität nicht mehr gesehen. Und mit den Tagen stellte er sich immer häufiger die Frage, was nun eigentlich zu tun sei oder ob überhaupt etwas zu tun sei. Zwischendurch hatte er Phasen der Unsicherheit ob seines Vertrages und gelegentlich dachte er daran, sich wegen des Alkohols in Behandlung zu geben. Ebenso gut hatte er ja auch unter Wahnvorstellungen leiden können, unter einer Paranoia, in der sich gemäß der neuen psychoanalytischen Mode allerlei Wünsche Bahn brechen konnten und sich den halluzinativen Weg in die Welt der konkreten Erscheinungen suchten. Was lag aus dieser Sicht näher, als sich den Weg aus seiner Welt hinaus zu wünschen, ohne Sucht und ohne Sterben?

Er sah ihr hinterher und fühlte sich auf eine merkwürdig undurchschaubare Weise geprüft. War das der Fall, so musste er auf ganzer Strecke versagt haben, denn er hatte in den zehn Minuten, die sie vor seiner Tür stand und keinen Einlass begehrte und in denen sie die meiste Zeit ebenfalls schwieg, keinen einzigen Laut über die Lippen gebracht. Er konnte nichts sagen. Er hätte gerne die Wahrheit gesagt, aber diese lag weit außerhalb des in diesem Augenblick Mitteilungsmöglichen und sie hätte ihn für verrückt gehalten oder geschlossen, dass er sie verachtend zum Narren halten wollte. Doch was hätte er sonst sagen sollen? Jede andere Äußerung wäre eine leicht zu entlarvende Lüge gewesen und für sie in diesem Moment ein Eingeständnis seinerseits, dass er einen schweren moralischen Fehltritt begangen hatte, über den sich nicht einmal offen reden ließ. Denn offenbar wusste sie – woher auch immer – längst Bescheid über das, was er beruflich gerade tat. Sie verdeutlichte ihm ihre Vorstellungen von Berufsethik und machte ihm klar, dass sein Tun mit diesen nicht vereinbar war. Sie hielt ihm vor, sich als Wissenschaftler dem Geld und einer zweifelhaften Sorte von Erfolg verschrieben zu haben. Sie bezeichnete seine Arbeit als faustisch, als eine Perversion der Wissenschaft. Er würde all das, was er erreicht hatte und wofür ihm jede Ehre gebührte, entwerten und mit Füßen treten.

Er wusste sehr genau, wovon sie sprach. Sie redete in Resten noch mit einem Faber, den es so nicht mehr gab. Seit einiger Zeit hatte er seiner Arbeit eine andere Richtung gegeben. Hatte er bis vor Kurzem noch in nutzenbringender Weise daran gearbeitet, aus Luft Pflanzendünger zu gewinnen, so konzentrierte er sich jetzt darauf, die Luft als Träger des Todes zu verwenden. Und bei dieser Arbeit stieß er auf ein hohes politisches Interesse an seinen Ergebnissen, die sich nicht nur in einem gewissen Maß an Renommee in der Politik auszahlte, sondern auch finanziell einiges an Möglichkeiten für ihn und sein Institut barg, weshalb man ihn dort auch gewähren ließ, solange es mehr Nutzen versprach als Schaden.

Ebendies hatte sie ihm zum Vorwurf gemacht und bemerkenswert war, dass sie ihm den moralischen Vorwurf machte, obwohl seine Arbeit bislang noch von keinem sichtbaren Erfolg gekrönt war. Es ging ihr um Werte und deshalb hatten sich ihre Welten damit endgültig geschieden. Er konnte dies in ihren Augen sehen, in denen nichts als der klare immerwahre Ernst sich ausdrückte, dem er nichts entgegenzusetzen hatte. Sie hatte Recht. Und ein paar Jahre vorher hätte er dies auch noch akzeptieren können. Nun musste er ihr nachblicken in dem Gefühl, versagt zu haben, aber auch in dem Gefühl der Erleichterung, das mit der Tatsache einherging, dass sie sich nun endgültig von ihm abgewendet hatte. Er musste ihr nichts mehr vormachen und war gleichzeitig der Notwendigkeit enthoben, sich selbst in eigenen Worten zu erklären. Sie war jetzt der Träger eines Willens, der alles Weitere zu seinem Vorteil besorgen würde. Das fühlte sich bequem an. Er musste innerlich keine größeren Bewegungen machen.

Als er nachdenklich die Tür schloss, klatschte im Nebenzimmer jemand regelmäßig in die Hände. Der Dunkle empfing ihn mit einsamem Applaus, begeisterten Augen und einem gönnerhaft breiten Grinsen, das quer über sein ganzes Gesicht lief und den Ohren etwas Spitzes gab. „Bravo!“, rief er. „Braaaavo! Das hast du gut gemacht.“

Faber verstand nicht. Machte der Dunkle sich über ihn lustig? Ein wenig trübte dieser erste Ärger über diesen Auftritt das Wiedersehen, das er eigentlich erhofft hatte. Denn immerhin verschaffte ihm dieses Wiedersehen Gewissheit darüber, dass er doch nicht ganz vom Verstand verlassen gewesen sein konnte, und gab seinem Verhalten in den letzten zehn Minuten einen Sinn.

„Du hast es geschafft. War doch gar nicht so schwer, oder? Nimm Platz! Wir müssen jetzt über die Details deiner Zukunft reden.“

Auch hier konnte Faber nicht angemessen reagieren, weil er nicht wusste, wovon der Dunkle sprach. Zu stark war noch das Gefühl, gerade alles andere als erfolgreich gewesen zu sein.

„Du verstehst nicht, was du gerade gemacht hast, weil es sich nicht so anfühlt, wie sich in deiner Welt Erfolg anfühlt, habe ich Recht?“

Faber nickte in der Erwartung, dass der Dunkle ihn aufklärte. Also fuhr dieser fort: „Die Menschen denken immer, man könne nur entschlossen handeln. Aber das ist Unsinn. Man kann ebenso entschlossen schweigen, stillstehen, die Dinge entschlossen so sein lassen, wie sie sind, die Dinge entschlossen so geschehen lassen, wie sie geschehen. Man benötigt dafür noch nicht einmal Prinzipien. Das ist gewissermaßen eine Metaphysik von einem nicht alltäglichen Standpunkt aus. Die meisten Menschen denken, die Welt, in der wir leben, sei das Resultat all unserer großartigen Leistungen. Das ist ein tiefer Irrtum. Unsere Welt ist in der gleichen Weise das Resultat all unserer Schwächen und Fehlleistungen, all unserer Versäumnisse. Lernen, so denken die meisten, sei immer ein positiv gerichteter Prozess; und zwar automatisch. Was für eine gewaltige Fehlleitung pädagogischen Denkens! Wir lernen ständig auch solche Dinge, die sich gegen uns wenden werden und die nicht gut für uns sind. In derselben Weise denken Menschen auch über ihre Tugenden und Begabungen und nicht zuletzt über das, was man als Fortschritt bezeichnet. Aber genug des Dozierens! Du hast dich wacker geschlagen! Du hast dich ihr nicht in den Weg gestellt. Und – das ist das Wichtigste – du hast nicht versucht, einen anderen Eindruck von dir zu erwecken, als den, den sie bereits von dir hatte. In ihren Augen bist du das, was du bist; oder zumindest, was du jetzt zu werden im Begriff bist. Du hast nicht versucht, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Sie durfte dir verdeutlichen, als was du gerade erscheinst. Das nenne ich geradlinig! Tüchtig! Sehr tüchtig, mein Guter!“

Faber verstand, worin sein Erfolg bestand. Um sich auf die Seite des Dunklen zu schlagen, musste man nicht in besonderer Weise tätig sein oder gar für etwas kämpfen und einstehen. Es reichte, sich dem zu Erwartenden nicht in den Weg zu stellen. Das war schon Entschluss. Es kam ihm etwas dürftig vor, wenig romantisch und erst recht nicht heldenhaft, zumal der Dunkle auch angedeutet hatte, dass in seiner Welt sogar der Misserfolg eine Art von Fortschritt sein konnte. Es fühlte sich an, als hätte man in dieser Einstellung lediglich einen Teil seines Stolzes zu opfern.

„Um aber nun zum Geschäftlichen zu kommen“, fuhr der Dunkle unbeirrt fort. „Du wirst deine erste Reise antreten und musst nun wählen, wohin sie ungefähr gehen soll. Sobald du dies getan hast, geschieht alles andere von ganz alleine.“

Faber

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