Читать книгу Alte Werte in neuer Zeit - Matthias Zimmer - Страница 5
Einleitung
Оглавление»Was würde Jesus heute sagen?« lautet ein Buchtitel von Heiner Geißler aus dem Jahr 2003.1 Der streitbare Politiker hatte die politische Botschaft des Evangeliums mit der politischen Realität kontrastiert. Das war wenig schmeichelhaft. Die biblische Botschaft ist eine der Nächstenliebe, der Solidarität, des Mitgefühls; in ihr steht der Mensch als Geschöpf Gottes im Mittelpunkt. Der Anspruch an die Politik ist daraus abgeleitet: Der Mensch ist Ausgangspunkt und Ziel allen politischen Tuns. Der Mensch steht im Mittelpunkt. Nicht die Rasse, die Klasse, der Markt oder der Staat. Politische Ordnungen legitimieren sich dadurch, dass in ihnen die Liebe und Gerechtigkeit Gottes widerhallt.
Zweifellos: Ein hoher Anspruch. Vermutlich einer, der erst in der Civitas Dei umfassend verwirklicht werden kann, also in der Bürgerschaft Gottes im jenseitigen Leben. Im irdischen Leben geht es häufig weniger um Nächstenliebe als um Interessen, um Macht, um Einfluss, um Geld. Nicht selten geht es, bis in die hohe Politik hinein, um Dummheit, Gier, Bösartigkeit, Hinterhältigkeit, persönlichen Vorteil. Dazu muss man nicht das Wirken von diktatorischen Potentaten als Anschauung nehmen, ein Blick auf den ehemaligen US-Präsidenten Trump reicht aus, um all diese Zutaten wiederzuerkennen. Und es wäre ja auch verwunderlich: Viele Menschen sind davon geprägt, und Politiker sind auch nur Menschen. Sie sind auch bisweilen raffgierig, publicitysüchtig und machtbesessen und verletzen dafür alle Regeln des Anstands, in den USA ebenso wie in Deutschland. Zum Glück sind die Fälle bei uns sehr viel seltener.
Und doch: In einer Partei, die sich dem Christlichen verpflichtet sieht, sollte es am Ende um das Gemeinwohl gehen. Vereinfacht ausgedrückt: Um das Wohlergehen aller, nicht nur das eigene. Und der dumme Spruch, wenn sich jeder um sich selbst sorgt, dann sei doch für alle gesorgt, trifft nicht zu. Das ist neolibertärer Quatsch. Gemeinwohl ist nicht die Summe individueller Glücksmomente, sondern die Möglichkeit für jeden, sich nach seinem Potential im Rahmen der Gesellschaft entfalten zu können. Das bedarf der Ordnung der Gesellschaft und nicht eines unverbundenen Nebeneinanders unterschiedlicher Interessen. Dazu muss man Chancengerechtigkeit schaffen, denn Chancen dürfen nicht dem Recht des Stärkeren folgen, sondern den Möglichkeiten und Potentialen jedes einzelnen Menschen.
Nun leben wir in einer Welt, die von Zwängen bestimmt ist. Einer dieser Zwänge ist die Knappheit. Wir leben nicht im Paradies, wo es keine Knappheit gab. Unsere Mittel sind begrenzt. Deswegen müssen wir wirtschaften; das ist nämlich nichts anderes als der Umgang mit Knappheit. In einer Welt des Überflusses braucht es weder Geld noch Börsen noch Wirtschaft. Aber die Art, wie und nach welchen Regeln wir wirtschaften, zeigt auch, wie ernst wir die politische Botschaft des Christlichen nehmen. Wenig ernst, wie mir manchmal scheint.
Ich habe viele Jahre die Möglichkeit gehabt, das Gemeinwohl mitgestalten zu dürfen. Häufig ist mir dabei der Spruch in den Sinn gekommen, dass der Fortschritt eine Schnecke sei. Eine Demokratie ist dadurch geprägt, dass man nicht einen großen Wurf umsetzt und Gerechtigkeit für alle herstellt, sondern Stück für Stück versucht, in kleinen Schritten etwas zu bewegen. Das ist mitunter frustrierend. Es braucht schon einen nachhaltigen Einschnitt, um die Möglichkeit einer anderen Welt kurz aufscheinen zu lassen. Das war mit der Coronakrise der Fall. Plötzlich war eine Unmenge Geld vorhanden und wurde ausgegeben. Wo zuvor noch um jeden Betrag gekämpft wurde, überstiegen die Summen, die der Deutsche Bundestag zur Verfügung gestellt hat, nun jegliches Vorstellungsvermögen. Plötzlich war die Luft sauberer. Weil der Flugverkehr um mehr als 90 Prozent reduziert wurde, der Autoverkehr fast zum Erliegen kam und viele Unternehmen nicht mehr produzieren konnten, verbesserte sich die Luftqualität deutlich, aber leider nur vorübergehend. Krisen können Chancen bedeuten, auch Chancen der Erkenntnis. Dazu braucht es allerdings eine Idee, in welche Richtung sich unsere Gesellschaft entwickeln soll. Darum geht es in diesem Buch. Um eine positive Vision unseres Zusammenlebens aus dem programmatischen Punkt heraus, den meine Partei manchmal schamhaft zu verstecken scheint: Dem Christlichen.
Nun sagen einige: Die Bibel ist etwas für die Kirche, in der Politik gelten andere Regeln. Das mag stimmen. Die Bergpredigt ist kein Wahlprogramm. Und Nächstenliebe ist eine individuelle Tugend, aber keine Tugend sozialer Institutionen. Aber trotzdem: Wenn es nicht eine Idee gäbe, wie das Zusammenleben der Menschen denn wäre, wenn alles Gute sich verwirklicht, wäre unser Leben ärmer. Wir brauchen die Utopie einer besseren Welt, weil sie der Sehnsuchtsort unseres Strebens ist.2 Wir brauchen sie, weil wir die Wirklichkeit an dem Möglichen, an dem Sehnsuchtsort vermessen. Wir wollen besser sein, als wir sind, denn wir sind auch idealistisch, fähig zur Nächstenliebe, wir sind Träumer einer besseren Welt. Darum geht es in dem vorliegenden Buch. Es ist nicht geprägt von den Kompromissen, die man in der Politik schon immer mitdenkt, sondern ein Plädoyer für das bislang Unerreichte. Freilich habe ich hier viele Themen auslassen müssen und mich auf die Bereiche konzentriert, in denen ich besonders tätig war und bin: Arbeit und Soziales, Nachhaltigkeit und Menschenrechte. Mir ist bewusst: Ich hätte noch vieles schreiben können, etwa im Bereich der Gesundheit, der Gleichberechtigung von Mann und Frau, der Außenpolitik, der Migrationspolitik, der Ernährung- und Landwirtschaftspolitik und vielen anderen Bereichen. Aber erstens fühle ich mich inhaltlich in diesen Bereichen nicht ausreichend sattelfest, und zweitens geht es in dieser Schrift auch eher darum, exemplarisch und auf begrenztem Raum politische Alternativen zu entwickeln. Über weite Strecken ist diese Schrift eine leidenschaftliche Kritik an dem Bestehenden, an den Zuständen, die ich seit vielen Jahren sehe, ohne bislang grundlegend daran etwas ändern zu können. Ich bin dabei nicht ausgewogen, sondern Partei. Ich nehme Partei für ein Menschenbild, das sich aus dem Bekenntnis zum Christlichen ergibt. Ich verteidige also alte Werte, die auch in die neue Zeit passen. Und ich tue das mit Dank an zwei meiner großen Vorbilder: Norbert Blüm und Heiner Geißler, die Philosophen und Praktiker des »C« in der Politik.