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3. Arbeit

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Mein Freund Ralf ist sauer. Er arbeitet bei einer Firma im ländlichen Raum. Wir kennen uns seit unserer Jugendzeit. Er hat dort vor vier Jahren angefangen und sich zunächst über die Arbeitsbedingungen gewundert. Unbezahlte Überstunden, wenig Arbeitsschutz, Leiharbeiter, die dort zu schlechten Konditionen eingesetzt werden. Auf Beschwerden reagiert die Unternehmensleitung kurz angebunden. Wenn es Dir nicht passt, dann kannst Du ja gehen, heißt es. Gewerkschaftliche Bindung gleich Null; die Gewerkschaft hat noch nie einen Fuß in den Betrieb setzen können. Einen Betriebsrat gibt es nicht. Ralf beschließt: Ich spreche mal mit ein paar Kollegen, die das auch kritisch sehen. Schnell ist die Idee geboren: Wir können doch einen Betriebsrat gründen? Ja, warum eigentlich nicht? Das Verfahren dazu kann man im Internet leicht abfragen. Das Betriebsverfassungsgesetz ist die rechtliche Grundlage. Und eigentlich ist es einem Unternehmen verboten, die Gründung eines Betriebsrates zu verhindern, wenn die rechtlichen Voraussetzungen dafür vorliegen. Eigentlich.

Die Unternehmensleitung hat davon Wind bekommen, dass die Gründung eines Betriebsrates bevorsteht. Die Initiatoren werden einzeln zum Gespräch gebeten und unter Druck gesetzt. Es wird auch Geld geboten. Sie ziehen ihre Unterstützung zurück. Bis auf Ralf. Der wird wenige Wochen später unter einem Vorwand entlassen. Er findet zwar wieder einen neuen Job, aber Ärger und Verunsicherung sitzen tief. Alle Praktiken, die er in der Firma erfahren hat, sind verboten und teilweise strafbar. Aber: Wo kein Kläger, da kein Richter. Und in der strukturschwachen Region, aus der er kommt, ist man froh um jeden Arbeitsplatz.

Ein zweites Beispiel. Andrei Amariei hat von 2015 bis 2019 bei der Firma Tönnies gearbeitet.8 Zu Beginn habe er sieben Wochen ohne einen freien Tag gearbeitet; aber auch andere Arbeiter, so berichtet er der Süddeutschen Zeitung, hätten drei Wochen ohne einen freien Tag gearbeitet. Häufig sei der Lohn manipuliert worden, natürlich zugunsten des Arbeitgebers. Die Zeiterfassung wurde manipuliert, die Reinigung des Arbeitsplatzes durch die Mitarbeiter nicht als Arbeitszeit anerkannt. Als Amariei die Firmenunterkunft verließ, sei ihm trotzdem das Geld für die Unterkunft von seinem Lohn abgezogen worden. Wer glaubt, solche verbrecherischen Praktiken gebe es nur in der Fleischindustrie, der irrt. Auch mein Freund Ralf kann ähnliches berichten, sicherlich nicht so krass, aber mit ähnlicher Grundstruktur: Verstöße gegen den Arbeitsschutz, die Arbeitszeitregelungen, die ausgemachte Entlohnung. Man fühlt sich an die übelsten Zeiten des Kapitalismus im 19. Jahrhundert erinnert. Tönnies hat übrigens, bei mehr als 7000 Mitarbeitern, keinen Betriebsrat.

Sind das Einzelfälle? Das hängt ein wenig davon ab, wen man fragt. Tatsache ist allerdings: Solche Missstände finden häufig im Dunkeln statt, sie werden nicht öffentlich. Die Gewerkschaften können nur über Fälle berichten, die ihnen gemeldet werden. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit, die beispielsweise prüft, ob der Mindestlohn bezahlt wird und ob die Sozialversicherungsbeiträge abgeführt werden, kann nur über die Fälle berichten, die sie selbst untersucht hat. Mit anderen Worten: Es gibt diese Fälle, und die Dunkelziffer der nicht entdeckten Fälle ist vermutlich hoch.

Einen Hinweis darauf gibt eine bundesweite Kontrollaktion der Finanzkontrolle Schwarzarbeit im Februar 2019 in der Branche der Kurier-, Express- und Paketdienstleister. Etwas über 12.000 Fahrer aus dem In- und Ausland wurden nach ihren Arbeitsverhältnissen befragt, in etwas über 350 Fällen auch unmittelbar Geschäftsunterlagen der Unternehmen überprüft. Ergebnis waren 25 unmittelbare Strafverfahren wegen Vorenthaltung von Sozialversicherungsbeiträgen, knapp 50 Bußgeldverfahren wegen Verstößen gegen sozialversicherungspflichtige Meldepflichten oder ausländerrechtliche Bestimmungen und über 2100 Fälle, in denen es Anhaltspunkte für Verstöße gab, die weitere Prüfungen bei den Unternehmen notwendig machten, um den Sachverhalt zu klären. Mit anderen Worten: Bei der Stichprobe war ein Sechstel der Fälle als tendenziell kritisch anzusehen.9

Ähnliches gilt für den Mindestlohn. Bei einer ersten bundesweiten Überprüfung im Jahr 2018 stellte der Zoll in jedem zehnten Betrieb Unregelmäßigkeiten fest.10 Im Jahr 2019 prüfte der Zoll insgesamt mehr als 55.000 Arbeitgeber und leitete aus den Überprüfungen rund 115.000 Strafverfahren und 31.300 Ordnungswidrigkeitsverfahren ein. Aus den abgeschlossenen Strafverfahren ergab sich eine Gesamtfreiheitsstrafe von 1891 Jahren und Geldstrafen in Höhe von 36,6 Millionen Euro.11 Man sieht: Verstöße gegen arbeitsrechtliche, sozialversicherungsrechtliche und andere Vorschriften sind im Arbeitsleben kein Einzelfall, sondern traurige Realität für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Vorschriften zum Arbeitsschutz und zur Einhaltung von Arbeitszeiten haben zwei Funktionen: Sie schützen die Schwachen und schaffen gleichzeitig eine gleiche Ausgangsposition im Wettbewerb der Unternehmen. Niemand darf im Wettbewerb beispielsweise dadurch Vorteile haben, dass er am Arbeitsschutz spart oder den Lohn drückt. Es gibt Mindeststandards, an die sich alle halten müssen. Erst dadurch entsteht ein fairer Wettbewerb. Mit anderen Worten: Der Wettbewerb ist geregelt und erstreckt sich nicht auf alle Aspekte der Unternehmenstätigkeit. Er findet seine Grenzen in der Würde des Menschen, in ihrem Schutz und ihrer fairen Behandlung, auch und gerade in der Entlohnung. Wäre dem nicht so, dann wäre Wettbewerb nichts anderes als das Überleben der Stärksten auf Kosten der Schwachen. Dann wären wir nicht weit weg von Sklavenarbeit oder Zuständen wie in England im 19. Jahrhundert. Das ist aber mit einer demokratischen Gesellschaft, die sich den Schutz der Würde des Menschen auf die Fahnen geschrieben hat, unvereinbar.

Gleiches gilt für die Vorschriften zum Mindestlohn. Da eine Lohnuntergrenze in vielen Bereichen tariflich nicht mehr festgelegt werden konnte, musste ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt werden. Der Mindestlohn war Ausdruck der Schwäche der Sozialpartner, nicht ihrer Stärke. Aber ein Mindestlohn muss natürlich auch kontrolliert werden: Wenn mehr als die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit geleistet wird, verdient ein Arbeitnehmer weniger als den Mindestlohn. Missbrauchsmöglichkeiten gibt es genügend, auch, weil das Mindestlohngesetz sehr laxe Bedingungen für den Nachweis der geleisteten Arbeitsstunden enthält. Eine handschriftliche Dokumentation der Arbeitsstunden kann leicht manipuliert werden, und wenn der Arbeitgeber undokumentierte Arbeitsstunden anordnet, greift jegliche Kontrolle ins Leere. Sicherlich, man kann sich beschweren und den Fall der Gewerkschaft oder der Finanzkontrolle Schwarzarbeit zur Kenntnis bringen. Die wenigsten aber tun dies, sei es, dass sie ihre Rechte nicht kennen, nicht um den richtigen Ansprechpartner wissen oder schlicht Angst um ihren Job haben.

Erschwerend kommt hinzu, dass die unterschiedlichen Schutzbestimmungen für die Arbeitnehmer von unterschiedlichen Stellen kontrolliert werden. Die Gewerbeaufsicht etwa ist Angelegenheit der Länder. Sie prüft die Einhaltung von Arbeitsschutzbestimmungen sowie Umwelt- und Verbraucherschutz. Die Überprüfung der Einhaltung des Mindestlohnes ist Angelegenheit der Finanzkontrolle Schwarzarbeit, die dem Zoll untersteht; dieser ist eine Bundesangelegenheit. Diese Behörde überprüft nicht nur den Mindestlohn, sondern geht auch illegaler Beschäftigung nach. Daneben gibt es noch die Prüfdienste der Sozialversicherungen, Berufsgenossenschaften und Arbeitsschutzbehörden – eine verwirrende Vielzahl an Zuständigkeiten.

Das liegt zum einen daran, dass die Anzahl der Gesetzestexte zum Schutz von Arbeitnehmern unübersichtlich ist. Seit Jahren wird ein einheitliches Arbeitsgesetzbuch gefordert. Warum sollte das nicht möglich sein, nachdem man auch die Sozialgesetzgebung einheitlich geordnet hat, in mittlerweile 14 Büchern?12 Es würde vor allem den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern helfen. Sie müssten dann nicht ihre Rechte aus den unterschiedlichsten Gesetzen zusammensuchen, sondern könnten ein einheitliches Arbeitsgesetzbuch zur Hand nehmen. Man spricht von bis zu dreißig unterschiedlichen Rechtsquellen, die das Arbeitsrecht regeln. Das ist unübersichtlich und verschleiert Rechte von Arbeitnehmern. Insofern ist richtig: Die CDU muss sich zu einem einheitlichen Arbeitsgesetzbuch bekennen und diese Forderung auch im nächsten Koalitionsvertrag verankern. Das schafft Klarheit.

Neben der verstreuten Rechtsmaterie gibt es einen zweiten systematischen Fehler im deutschen Arbeitsrecht: die Rechtsdurchsetzung. Nehmen wir ein einfaches Beispiel. In einem Unternehmen wird festgestellt: Das Unternehmen hat für Arbeitnehmer nicht den Mindestlohn gezahlt. Dafür kann dem Unternehmen ein Bußgeld auferlegt werden. Das bedeutet aber nicht, dass damit automatisch die Arbeitnehmer die ihnen zustehenden Zahlungen rückwirkend erhalten. Nein, diese müssen in einem zivilrechtlichen Prozess eingeklagt werden. Gleiches gilt für zu wenig gezahlte Sozialabgaben. Das deutsche Recht geht davon aus, dass dies Gegenstand privater Rechtsverfolgung ist. Mit anderen Worten: Die Sozialversicherungen können nicht für den Geschädigten klagen; das muss er selbst übernehmen. Schlimmer noch: Nach vier Jahren verjähren die Ansprüche, der zu Unrecht einbehaltene Sozialversicherungsbetrag wird also gewissermaßen »ersessen«. Wenn Vorsatz im Spiel ist, verjähren die Ansprüche allerdings erst nach dreißig Jahren.

Nun ist eines klar: Kaum ein Arbeitnehmer wird, bei Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses, gegen seinen Arbeitgeber klagen. Die Fiktion, beide Parteien, Arbeitsgeber wie Arbeitnehmer, seien also gleich vor dem Recht, ist genau das: Eine Fiktion. Deswegen besteht hier Handlungsbedarf sowohl im präventiven wie im rechtsdurchsetzenden Bereich.

Verstöße gegen Arbeitsrecht, Mindestlohn oder Sozialversicherungspflicht sind dort häufiger, wo es weder eine tarifvertragliche Bindung des Arbeitgebers gibt noch eine Form betrieblicher Mitbestimmung etwa durch einen Betriebsrat. Hier kann der Gesetzgeber einiges tun, um die Tarifbindung zu steigern und Formen der Mitbestimmung zu stärken. Das widerspricht nicht der negativen Koalitionsfreiheit, bringt aber eine Wertentscheidung des Gesetzgebers zum Ausdruck. Ganz in diesem Sinn hat der Koalitionsvertrag von 2018 festgehalten, dass für tarifgebundene Unternehmen »Experimentierräume« geöffnet werden für die Flexibilisierung von Arbeitszeit. Und in der Legislaturperiode davor wurde vereinbart, dass tarifgebundene Unternehmen andere Möglichkeiten erhalten bei der Dauer der Beschäftigung von Zeitarbeitern. Diesen Tarifvorbehalt gilt es auszubauen. Tarifbindung muss ein Kriterium sein für den Zuschlag zu öffentlichen Aufträgen ebenso wir für jegliche Exportförderung durch die öffentliche Hand. Dadurch wird eine Wertung des Gesetzgebers deutlich: Dass tarifgebundene Unternehmen denjenigen vorzuziehen sind, die keinen Tarifvertrag anwenden.

Zweitens müssen Gewerkschaften und Sozialversicherungsträger über ein Verbandsklagerecht die Möglichkeit erhalten, für den einzelnen Arbeitnehmer tätig werden zu können; nur so lässt sich die strukturelle Ungleichheit im Arbeitsverhältnis durchbrechen. Das Arbeitsrecht geht immer noch ein wenig von der Fiktion aus, Arbeitgeber und Arbeitnehmer seien auf gleicher Augenhöhe. Das ist natürlich nicht so, denn der Arbeitgeber sitzt am längeren Hebel. Deswegen braucht der Arbeitnehmer einen Ausgleich, etwa über ein Verbandsklagerecht. Gemeinsam ist man stärker.

Drittens sollte der Bund die Einrichtung von Arbeitskammern nach dem Vorbild des Saarlands in den Bundesländern ermutigen. Arbeitskammern sind neutrale Beratungsstellen, die vor allem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in allen arbeitsrechtlichen Fragen beraten können. Dies ergänzt die gewerkschaftliche Beratungstätigkeit vor allem dort, wo Gewerkschaften wenig oder gar nicht vertreten sind. Darüber hinaus hat eine Kammer einen stärker offiziellen Anstrich als eine Gewerkschaft und wird eher als Beratungsgremium wahrgenommen, das mit der Beratung nicht eigene Interessen (etwa der Werbung neuer Mitglieder) verbindet.

Schließlich sollte sich der Bund darüber Gedanken machen, wie die Vielzahl der Aufsichtsbehörden einheitlicher im Sinne des Schutzes der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zusammengefasst werden können. Der Vorschlag, eine eigene Arbeitsinspektion zu errichten13, ist sicherlich erwägenswert, wird aber aufgrund der unterschiedlichen Zuständigkeiten im föderalen System eher schwierig umzusetzen sein.

In der Arbeit entfaltet sich der Mensch; Arbeit ist sinnstiftend. Das gilt nicht nur für Lohnarbeit, aber hier ist der Mensch durch die ungleichen Machstrukturen verwundbar, verletzlich. Hier geht es um seine Menschenwürde und seine persönliche Lebensgestaltung, aber auch um Fragen des Gemeinwohls. Profit ist legitim, nicht aber auf Kosten der Gerechtigkeit. Deswegen müssen Praktiken, wie sie meinem Freund Ralf oder Andrei Amariei widerfahren sind, unterbunden werden, auch mit den Mitteln des Strafrechts. Und die rechtliche Ahndung darf nicht davon abhängen, dass sich ein Arbeitnehmer einmal traut, sich zu wehren.

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