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1. Die Zumutung des »C«

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Am Anfang steht ein Befund. Die CDU und die Kirche haben sich voneinander entfernt. Die frühere Selbstverständlichkeit, dass ein Christ, ein katholischer zumal, quasi automatisch die CDU wählt, ist Geschichte. Offen war noch in den fünfziger Jahren von den Kanzeln zur Wahl der Union aufgerufen worden. Das würde uns heute seltsam anmuten. Kirche soll nicht für eine Partei werben. Sie soll die frohe Botschaft, das Evangelium verkünden. Richtig ist aber auch: Das hat politische Konsequenzen dort, wo die Menschen aufgefordert sind, ihr Zusammenleben im Licht des Evangeliums zu gestalten. Und deswegen ist Kirche heute immer noch politisch, aber nicht mehr parteipolitisch. Sie kann nicht verkünden, ohne der Welt den Spiegel vorzuhalten. Sie kann nicht die Gottesebenbildlichkeit des Menschen verkünden, ohne zu sagen: Das hat auch Konsequenzen für unser Zusammenleben. Sie kann nicht die Hoffnung auf eine bessere Welt nur ins Jenseits verlegen, sondern muss davon überzeugt sein, dass das Gute im Menschen auch im Diesseits kraftvoll wirken kann und soll.

Aus all diesen Überlegungen ist die Soziallehre entstanden.3 Sie ist nicht die Übersetzung der Bergpredigt in ein politisches Programm, sondern gibt Leitplanken vor für das Verhältnis der Menschen untereinander. Sie gibt Orientierung für den politisch Handelnden. Präziser formuliert: Sie liefert einen Begründungsrahmen. Der ist nicht immer eindeutig. Ob ich beispielsweise die Grundsicherung erhöhen soll oder nicht, lässt sich nicht aus den Prinzipien der Soziallehre ableiten, wohl aber, dass wir eine Verpflichtung gegenüber den Armen haben. Wie genau das Arbeitsrecht aussehen soll, lässt sich nicht aus der Soziallehre ableiten, wohl aber, dass Menschen nicht Mittel zum Zweck anderer Menschen werden dürfen. Oder, um ein kontroverses Beispiel zu nennen: Selbst in der Kirche gibt es eine Debatte darüber, ob Ehe nicht auch auf gleichgeschlechtliche Partnerschaften angewendet werden kann. Denn wenn die Liebe von Gott gegeben ist, dann spielt das Geschlecht keine Rolle – und Ehe lediglich auf Reproduktion zu reduzieren hieße, den Menschen zum Mittel zu machen.

So ist die Soziallehre selbst ein System offener Sätze. Freilich, die großen Sozialenzykliken der Päpste sind Meilensteine. Aber der Charakter der Soziallehre ist dadurch geprägt, dass es nicht nur die Sozialenzykliken gibt, sondern auch die Veröffentlichungen der Lehrstühle, die sich mit der Soziallehre beschäftigen, und, noch wichtiger: Dem Engagement der Laien in der Kirche, die sich mit den sozialen Fragen befassen.

Es war einmal der Stolz der Union, zu diesen Laien und ihren Organisationen eine besondere Beziehung zu haben, sei es der Kolpingbund, der in Deutschland heute noch über 220.000 Mitglieder hat, die Katholische Arbeitnehmerbewegung mit über 100.000 Mitgliedern oder der Bund der katholischen Jugend mit über 650.000 Mitgliedern. Die Wirklichkeit sieht allerdings heute anders aus. In den Laienorganisationen werden Themen debattiert, für die die CDU scheinbar kein offenes Ohr hat. In den Sozialenzykliken werden Themen angesprochen, die bei der CDU unter Sozialismusverdacht geraten. Und an den Lehrstühlen befindet man sich weit entfernt vom christlich-demokratischen Milieu. Eher noch, so hat man mitunter den Eindruck, sind viele Themen heute eher bei den Grünen oder gar bei den Linken anschlussfähig. Für eine Partei, die das C im Namen trägt, müssten spätestens bei diesem Befund alle Alarmglocken klingeln.

Ich sehe vor allem drei Bereiche, in denen sich die Differenzen heute entzünden und die ich im weiteren Verlauf des Buches konkretisieren will. Der erste Bereich ist eine kapitalismuskritische Sicht der Soziallehre. Der Kapitalismus wird nicht grundsätzlich abgelehnt, hat aber eine Existenzberechtigung nur dort, wo er den Menschen hilft, sich als Personen zu entfalten. Anders formuliert: Der Kapitalismus ist rechenschaftspflichtig und hat eine Existenzberechtigung nur dort, wo er dem Gemeinwohl dient.

Die zweite grundsätzliche Differenz ist die Option für die Armen. Das bedeutet: Wir haben eine Verpflichtung dafür, dass die Armut aus der Welt verschwindet. Das kann sehr vieles bedeuten: Unterstützung für ein selbstbestimmtes Leben, aber auch der Abbau ungerechter Strukturen, die Armut produzieren. Das gilt auch für Handelsstrukturen, von denen wir profitieren. Sie können eben dazu führen, dass sich in anderen Ländern Armut verfestigt, anstatt weniger zu werden. Option für die Armen kann aber auch heißen: Dort, wo wir an ungerechten Strukturen mit Schuld tragen, haben wir auch eine besondere Verpflichtung, Opfer dieser Strukturen bei uns aufzunehmen, wenn sie durch diese Strukturen heimatlos geworden sind. Ein hoch brisantes Thema, das uns noch lange begleiten wird!

Die dritte grundsätzliche Differenz hat mit der Ehrfurcht vor der Schöpfung zu tun. Das bedeutet einen anderen Umgang mit der uns anvertrauten Welt, angefangen von ausbeuterischen Wirtschaftspraktiken, die Mensch und Umwelt schädigen, bis hin zu Erwägungen des Tierwohls. Die Enzyklika Laudate sì von Papst Franziskus aus dem Jahr 2015 hat hier deutlich Position bezogen und darauf hingewiesen, dass unsere jetzige Art und Weise zu Wirtschaften mit den Erfordernissen der Nachhaltigkeit nicht vereinbar ist. Die dahinter liegende Idee ist sehr alt: Die Bewahrung der Schöpfung ist ein biblischer Auftrag. Sie hat Politiker, die sich dem »C« verbunden fühlen, schon lange vor dem Aufkommen der grünen Bewegung verpflichtet.

Diese Differenzen haben auch etwas damit zu tun, dass unsere Welt in Nationalstaaten aufgeteilt, die christliche Botschaft aber universal ist. Es überrascht daher nicht, dass die Soziallehre auch in letzter Konsequenz eine wahre Weltautorität befürwortet, subsidiär strukturiert. Man mag darin Reste des universalen Anspruchs des Papsttums sehen, der durch das Aufkommen der Nationalstaaten ja in Frage gestellt worden ist. Aber dennoch ist richtig: Nationalstaaten sind eine Übergangslösung, eine Behelfslösung. Globale Probleme brauchen globale Lösungen und globale Institutionen. Wer wollte das ernsthaft bestreiten?

Aber was zeichnet das »C« eigentlich aus? Natürlich nicht der Kirchgang oder die Tiefe des Glaubens. Sondern das »C« steht für eine politische Gestaltungsidee, die aus dem Glauben erwächst.4 Während aber Glaubenssätze den Anspruch auf Wahrheit haben, ist dies bei der politischen Gestaltungsidee nicht so. Sie ist in die Praxis gestellt und kann sich unterschiedlich manifestieren. Überdies ist der Mensch fehlbar. Deswegen ist die erste Aussage: Die Soziallehre ist ein System offener Sätze. Dies ist deshalb wichtig, weil es gegen jede totalitäre Versuchung immunisiert. Die Soziallehre will gerade nicht einen Gottesstaat, in dem anhand biblischer Gebote regiert wird. Sondern die Grundidee ist die des freien, verantwortlich handelnden Menschen – eines Menschen also, der auch irren kann. Deshalb hat mein erster Chef, der CDU-Politiker Bernhard Vogel, immer wieder gesagt: Es gibt keine christliche Politik, nur christliche Politiker. Recht hat er! Das Christliche ist keine Ideologie, sondern eine Orientierung an dem Guten. Der Mensch steht im Mittelpunkt, die Entfaltung seiner Person.

Damit sind wir auch schon bei dem wichtigsten Prinzip der Soziallehre. Der Mensch wird als Person gedacht, nicht als Individuum. Um es zu überspitzt darzustellen: Das Individuum ist der Mensch, der keine sozialen Bezüge hat und Herr seines eigenen Lebens, seines Schicksals ist; der Mensch als Individuum ist der Schöpfer seiner selbst und seiner Werte. Die Person ist demgegenüber der Mensch, der immer schon in seinen sozialen Bezügen gedacht ist. Zunächst den Bezügen zu seiner Familie, also seinen Eltern und Geschwistern. Zweitens dann in den weiteren sozialen Kreisen, in denen er verwurzelt ist: In der Gemeinde (ob kirchlich oder lokal), den Vereinen, den Freundschaften, schließlich auch seinem Heimatland. Drittens aber auch in dem Bezug zu Gott: Er ist nach Gottes Ebenbild geschaffen und legt durch sein Handeln Rechenschaft ab. Die Gottesebenbildlichkeit ist der Grund für die Würde des Menschen; und die Würde ist der Grund für die Menschenrechte. Das Tun des Menschen ist in die Demut vor Gott gestellt. Das ist der zentrale Unterschied im Menschenbild von Soziallehre und Liberalismus: Im Liberalismus ist der Mensch sein eigener Herr, ein »gottloser Selbstgott«, wie es Heinrich Heine einmal ausgedrückt hat. In der Soziallehre besteht die Freiheit des Menschen in seiner Bindung, seinem Eingebundensein in eine göttliche und menschliche Ordnung.

Die Soziallehre spricht von der Personalität als einem Prinzip. Das bedeutet: Es ist ein grundlegender Konstruktionsmechanismus des Sozialen. Aus der Personalität folgen vier weitere Konstruktionselemente des Sozialen. Das erste ist die Solidarität. Sie ist das horizontale Gestaltungsmerkmal einer Gesellschaft. Sie ist Ausfluss der Sozialität des Menschen, also der wesensmäßigen Bindung des Menschen an andere Menschen. Solidarität bedeutet hier nichts mehr als: Der Mensch ist für den Menschen da. Er hilft ihm in der Not. Solidarität ist also neben dem Gestaltungsmerkmal einer Gesellschaft auch eine Tugend. Sie macht deutlich: Es ist mir nicht egal, wie es meinem Nächsten geht. Da wir alle gleich sind an Würde, ist meine Entfaltungsmöglichkeit auch davon abhängig, dass sich mein Nächster entfalten kann. Solidarität trägt also den Anspruch in sich: Alle Menschen sollen ihr Potential entfalten können, und dafür sind alle Menschen auch ihren Mitmenschen gegenüber verantwortlich.

Das zweite Konstruktionselement ist die Subsidiarität. Das ist ein schwieriger Begriff. Er bedeutet zunächst einmal, dass sich der Staat nur unter sehr bestimmten Voraussetzungen Kompetenzen aneignen darf, im Übrigen aber zu Hilfeleistungen verpflichtet ist. Deswegen wird Subsidiarität auch als das vertikale Gestaltungselement einer Gesellschaft angesehen. Sie regelt also die Beziehungen von »oben« und »unten« in einer Herrschaftsstruktur. Subsidiarität beantwortet die Frage, wie Herrschaft gestaltet sein soll, wie folgt: So, dass die Probleme möglichst nahe bei den Menschen gelöst werden können. »Empowerment« heißt das heute und meint: Der Staat hat die Menschen dabei zu unterstützen, ihre Probleme lösen zu können. Er darf sich nicht ihre Kompetenzen anmaßen, sondern muss Hilfestellung geben. Das hat unmittelbare Konsequenzen etwa bei den Problemen der Familien oder der Pflege. Kompetenzen hat der Staat nur dort, wo Einzelne Probleme nicht mehr lösen können. Banale Beispiele: Einzelne können keine Infrastruktur wie Straßen bereitstellen oder Verteidigung organisieren. Dazu bedarf es des Staates. In allen anderen Bereichen aber hat er ein Kompetenzanmaßungsverbot. Er darf also nicht in Bereiche eingreifen, die besser von den Einzelnen wahrgenommen werden können. Klassisches Beispiel ist die Kindererziehung. Schon im Grundgesetz heißt es deshalb, dass die Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern ist. Das ist nicht immer ganz trennscharf, denkt man beispielsweise an die Schulpflicht. Aber es ist vom Grundsatz her ein Element, dass die Freiheit des Einzelnen im Blick hat und staatliche Gewalt auf das Notwendigste beschränkt. Nicht umsonst haben alle totalitären Regime sich in fundamentalem Gegensatz zum Prinzip der Subsidiarität befunden.

Das dritte Konstruktionselement ist die Nachhaltigkeit. Sie bedeutet eine Solidarität in der Zeit. Wir sind nicht nur unseren unmittelbaren Zeitgenossen verpflichtet, sondern auch unseren Nachkommen. Biblisch betrachtet haben wir von Gott die Welt zur Hege und Pflege übernommen. Wir sind nicht die Eigentümer dieser Welt, sondern lediglich die Verwalter. Wir tragen Verantwortung dafür, dass diese Welt fortbesteht, und nicht nur irgendwie, sondern mindestens so, dass unsere Nachkommen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen dieser Welt eine gleiche Entfaltungsmöglichkeit haben. Sicherlich, wir haben durch die technische Entwicklung vieles möglich gemacht, was den Generationen vor uns nicht möglich war. Das wirft Fragen auf, was die Ersetzung natürlicher durch künstliche Ressourcen betrifft. Das soll uns hier aber zunächst nicht weiter beschäftigen. Uns geht es um die Möglichkeit zukünftiger Menschen, sich in ihrem Menschsein entfalten zu können. Dazu braucht es eine natürliche Umgebung; und dazu wird man die technischen Möglichkeiten nicht mehr wegdefinieren können.

Denn letztlich sind alle Konstruktionsprinzipen unter die Idee des Gemeinwohls gestellt. Das ist das vierte Prinzip. Gemeinwohl bedeutet »die Gesamtheit jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl den Gruppen als auch deren einzelnen Gliedern ein volleres und leichteres Erreichen der eigenen Vollendung ermöglichen.«5 Gemeinwohl ist also mehr als die Summe des Wohlergehens aller Einzelnen. Das war schon immer der Denkfehler des Liberalismus. Gemeinwohl bedeutet, dass ich auch als Einzelner für den Anderen und das Erreichen seiner Vollendung Mitverantwortung trage. Ich muss also das Glück aller als eine gemeinsame Aufgabe ansehen, weil es kein Glück, keine Vollendung auf dem Rücken fremden Unglücks gibt. Das kann vieles bedeuten, etwa was den fairen und gerechten Zugang zu natürlichen und gesellschaftlichen Ressourcen angeht, was die Verteilung angeht, was ein Leben in Würde angeht. Und das ist eine der großen und bleibenden Herausforderungen auch an eine Partei, die das C im Namen trägt. Wird sie diesem Anspruch gerecht? Und wenn nicht: Wie kann sie diesem Anspruch gerecht werden? Ich will und kann diese Fragen nicht umfassend beantworten, sondern werde mich beschränken auf die Felder, in denen ich selbst einige Kenntnisse habe und die ich eingangs skizziert habe: Auf die Welt von Arbeit und Wirtschaft, auf die Frage von Menschenrechten, auf die Frage des Umgangs mit der Schöpfung und der Zukunft des Kapitalismus. Und denjenigen, die dann sagen: Du hattest doch viele Jahre Zeit, all das umzusetzen, denen antworte ich: In einer Demokratie braucht man Mehrheiten. Mehrheiten sind von zwei Dingen abhängig: Der Erkenntnis des Gebotenen und den Interessen. Zur Erkenntnis des Gebotenen will ich einen Beitrag leisten, auch zuspitzend. Gegen diejenigen Interessen aber, die sich allzu häufig gegen die Erkenntnis des Gebotenen stellen, vermögen gute Argumente nichts auszurichten. Deswegen ist parlamentarische Arbeit immer unvollkommen, immer Stückwerk und endet nie in einem großen Wurf. Und trotzdem würde ich sie immer verteidigen, denn wir haben nichts Besseres.

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