Читать книгу Inseln im Winde - Max Geißler - Страница 4

Erstes Kapitel.

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Die Frühlingssonne hatte gegen Mittag die Nebelschleier durchbrochen, die so dicht in den grauen Februartagen geflogen waren und die auch der Märzwind nicht fortzublasen vermocht hatte.

Unter den grämlichen Vorfrühlingsnebeln hatten die Rohrdächer der niederen Häuser auf der Halligwerft getrieft, und das kurze Gras auf dem Vorlande, das gegen das Wattenmeer sich hinzieht, war versilbert von dem Hauche der wehenden Nebel.

Aber heute hatte die lichte Sonne wieder zum erstenmal in den zitternden Tropfen des Rasens sich gespiegelt, und was in den Rillen der Rohrdächer herabrieselte, war blanker als rinnendes Licht und war wie blitzend Gestein. Unter dem goldenen Schuhe der Sonne hatte das Moos auf dem Rasenboden der Firsten zu schwellen begonnen, und es ward weich wie Sammet.

Aber nun wollte die Aprilsonne, die so lockend und warm gewesen war, wieder in die grauen Schleier versinken, die fern über der See lagen; und der Wind, der tagsüber draussen von den Wellen sich schaukeln liess, lief über das Watt und schleppte die grauen Nebelnetze hinter sich drein. Er legte sich auf das Gras und blies den roten Glanz der Sonne von den Firsten der Hütten.

Um diese Zeit hing Frau Kei Bonken ein schwarzes Tuch über die Schultern und ging aus der niederen Tür ihres Hauses, das im Ringe der wenigen anderen Häuser der Werft auf dem Eilande lag.

An der Aussenseite dieses Häuserringes fiel die Werftböschung gegen das Grasland ab; an der Innenseite lief ein mit runden Steinen belegter Weg von Tür zu Tür. Der bildete einen Kreis um den kleinen Süsswasserteich, aus dem das Vieh der Inselleute getränkt wurde. Aber kein Quell der Erde speiste diesen Fething: der Regen musste hineinrinnen und ihn füllen.

Mit gesenkter Stirn schritt Kei Bonken über die runden Steine des Weges auf der Werft. Sie ging langsam: wer dem Leid und der Einsamkeit nachgeht, hat keine Eile.

Die Frau hatte geweint, wie sie gegen den Abend hin ganz allein im Stüblein der Hütte gesessen hatte; denn in der dämmerigen Einsamkeit konnte sie Binne Bonken, ihrem neunjährigen Töchterlein, ihre rinnenden Tränen verheimlichen. Binne Bonken war heute in eins der Nachbarhäuser spielen gegangen; denn Mutter Kei Bonken hatte gedacht: Hertje Nomsen, das fröhliche blonde Nachbarkind, werde der Kleinen in das Herz lachen und ihr das Herz wieder froh machen. Bei Hertje Nomsen und ihrer Freude sollte sie bleiben, solange sie mochte.

Überdem trat Kei Bonken in das Haus des Schiffers Knudt Klähn. —

Um diese Zeit, wie die Nacht heimlich durch die Fenster bei Nomsen und um das Spiel der Kinder spann, das heute gar nicht so lustig werden wollte wie in früheren Tagen, da stahl sich Binne Bonken leise von Hertje Nomsen fort. Sie lief den Weg über die runden Steine, den die Mutter vor wenigen Minuten gegangen war, und lief nach Hause.

„Hat Mutter auf mich gewartet?“ fragte Binne Bonken halblaut zur Tür des stillen Stübleins hinein. Weil ihr aber keine Antwort wurde, öffnete sie die Tür vollends.

„Nicht daheim?“ sagte das Kind im Eintreten und ging auf den Zehen gegen das Fenster. „Ach so, Mutter wird ein wenig zu Goede Klähn gegangen sein, weil sie meint, ich sei zu Hertje Nomsen spielen,“ dachte sie laut.

Und Binne Bonken stützte das Kinn in die Hand und schaute mit ihren blauen stillen Augen hinaus in das sinkende Grau des verdämmernden Abends. Das Fenster klaffte oben ein wenig, weil nur der untere Haken in der Öse sass, und der Wind lief von der See her über das Grasland durch die Dämmerung.

Überall gingen die Lichter in den Häusern an.

Weil bei Kei Bonken noch kein Licht hell war, wunderte sich der Wind, legte den Mund an den Spalt des Fensters und sang hindurch. Er sang so laut, dass Binne Bonken gar nicht mehr auf den Schritt der Zeit hörte, der so vernehmbar aus dem braunen Kasten der Uhr im Winkel klang.

Und das eintönige Lied des Windes stimmte sich Binne Bonkens Seele. Die war drüben bei Nomsen nicht froher geworden; denn während die andern Kinder auf der Diele sassen, hatte Binne Bonken an dem Knie Uwe Nomsens gelehnt.

Uwe Nomsen ist der sechzehnjährige Junge mit den Traumaugen, der mit seinem Freunde Jochen Klähn des Abends immer auf das Pastorat geht und sich von dem Pfarrer lehren lässt. Uwe Nomsen möchte stets in des Pfarrers Büchern lesen und fragt ihn immer so viel und so sonderbar über Dinge, die kein Mensch weiss.

Heute, wie Binne Bonken an seinem Knie lehnte, hat er ihr von Stavenwüffke erzählt, von dem Weibchen, das in dem Kleid aus grauen Nebelschleiern mit einem Licht in der Hand am Strande läuft, wenn die Nacht kommt. Die Sage spricht: Stavenwüffke weiss, wo jene Schiffer geblieben sind, die nicht mehr heimkommen können, weil ihre Schiffe draussen versanken.

Mit verträumten Augen hat das Kind zu Uwe Nomsens Märchenmund emporgeschaut: die Geschichte ist so schön und traurig gewesen, die Uwe Nomsen von dem Stavenweibchen heute erzählt hat!

Jetzt, wie der Wind so durch den Spalt des Fensters sang, dachte Binne Bonken wieder daran und dachte auch daran, dass Uwe Nomsen gesagt habe: der Wind wisse noch viel schönere Geschichten als er; deshalb höre er oft hinaus in die Nacht, wenn der Wind draussen um die Hütten läuft. O, den Wind, den feuchten Schlickläufer, könne man recht wohl verstehen, meint Uwe Nomsen.

Darum lauschte das Kind jetzt am Fenster und sann in den Wind und sprach mit dem Wind — einmal er, und einmal Binne Bonken:

„Warum ist denn kein Licht bei Euch, Binne Bonken?“

„Weil Mutter noch nicht daheim ist.“

„Wo ist Mutter Kei Bonken?“

„Sie ist wohl zu Goede Klähn gegangen.“

„Und hat Dich ganz allein im Haus gelassen?“

„Ich ging zu Hertje Nomsen spielen. Aber Hertje Nomsen war mir heute zu laut. Ta hat mir ihr Bruder Uwe Nomsen die Geschichte von Stavenwüffke erzählt.“

„Bist Du nicht auch gern laut und singst Du nicht gern und springst über die Priele (Gräben), Binne Bonken?“

„Ach ja — früher wohl. Aber Vater ist tot. Seitdem nicht mehr. Seitdem sind wir still und traurig. Und Mutter weint auch manchmal ganz heimlich. Ich soll’s wohl nicht sehen, aber ich merk’ es doch, wie traurig sie ist.“

„Wo liegt denn Dein Vater Jürgen Bonken?“

„Ja, wenn ich das wüsste! Ich wollte heute Stavenwüffke nach ihm fragen, von dem mir Uwe Nomsen allerlei erzählt hat. Aber ich kann Stavenwüffke nicht sehen, wie lang ich auch schon zum Fenster hinausschaue.“

„So komm doch heraus zu mir!“ lockte der Wind. „Wir wollen Stavenwüffke suchen.“

„Dann hat Mutter Angst. Sie würde zu Hertje Nomsen laufen und mich ängstlich suchen, wenn sie mich dort nicht findet, und wenn ihr niemand sagen kann, wohin ich gegangen bin, würde sie noch viel trauriger sein. Sie sitzt wohl auch jetzt bei Goede Klähn und weint um Vater.“

„Wenn Du ihr aber sagen könntest: Mutter, ich habe Vater Jürgen Bonken gefunden! Komm, Binne Bonken, wir suchen am Strand!“

So lockte der Wind, so sang der Wind.

Da wandelte auf einmal weit drunten über dem Grasland ein Licht.

Binne Bonken, die es vom Fenster der Hütte aus sah, richtete sich hoch auf. Nun hörte sie den Wind nicht mehr fingen: der ist wohl dem Lichte nachgelaufen. Das wandert immer noch langsam seinen Weg am Watt.

Eine Zeitlang schaute das einsame Kind dem Lichte nach, dann sprang es hinaus, sprang die Böschung der Werft hinab und lief über das nebelnasse Gras. Und wie es dem roten Scheine nachschritt, dachte es daran:

Uwe Nomsen hat gesagt, mit einem solchen Lichte läuft Stavenwüffke. Uwe Nomsen hat auch gesagt: wenn ein Schiffer in See stirbt, so steigt seine Seele aus der Flut und irrt über das Meer bis in die Heimat. Dort erscheint sie den Ihren als „Gonger“, damit sie wissen, dass der draussen aus dem Leben geschieden ist.

Und jetzt schwamm der Mond sacht aus den Wassern; ein silberner Schein verriet sein Nahen. Und mit einem Male war eine Brücke quer über die See geschlagen, die war aus Silber.

Wenn die Sonne untergeht, ist diese Brücke golden.

Es ist eine Herrlichkeit, wie die Himmlischen bauen: alles aus Gold oder aus Silber! dachte Binne Bonken.

Und das Licht an der Halligkante lief immer vor ihr her, manchmal ein wenig landeinwärts, und manchmal tat es einen Sprung, wenn’s über einen Graben ging oder ein Sick.

Das Gras, über welches das zitternde Kind schritt, war weich und nachtnass — die Tritte versanken schier lautlos darin. Aber Binne Bonken ging dennoch auf den Zehen. Stavenwüffke flieht, wenn ein Mensch naht, hat ihr Uwe Nomsen verraten.

Manchmal schreit eine Wildgans draussen, wo die See auf das Watt steigt; die Flut ist im Anzug. Da tauchen die silbernen Muscheln, die auf den Watten liegen und von denen die Kinder so oft sammeln, in das rauschende Gewässer; da gehen alle Wattenwege unter. Und wenn Stavenwüffke jetzt etwa vom Halligvorland herunter- und hinauswandelt, weit hinaus, so kann das Kind nicht hinterdrein, wie zur Zeit der Ebbe.

O weh, nun ist das Licht fort!

Nein, da ist’s wieder.

Binne Bonken bleibt einen Augenblick stehen; der Atem zittert ihr über die Lippen, das kleine Herz schlägt ihr wie eine Glocke . . .

Was ist das nur? Es ist, als stehe eine grosse schwarze Gestalt vor dem Licht und verdecke es, und nur wie zwei goldene Flügel fällt der Schein zu beiden Seiten der schwarzen Gestalt in die Nacht.

Jetzt — jetzt wendet sich das Licht! Jetzt wird es weit fortgehen, weit fort auf das überflutete nächtliche Watt —

„Stavenwüffke!“ ruft Binne Bonken zitternd und atemlos und ist doch nicht einmal rasch gelaufen. Und noch einmal: „Stavenwüffke!“

Alle Angst des kleinen Herzens klingt hinein in dies eine Wort. Aber der Wind, der die Flut von draussen hereintreiben will und dem Kinde verrät, dass die Wellen schäumend schon an der Halligkante klingen, erfasst den Ruf und wirft ihn zurück bis an die Häuser der Werft.

Und jetzt — Tritte? Feste, sichere Tritte?

So läuft der Wind nicht und nicht die See! So geht aber auch Stavenwüffke nicht. Stavenwüffke weint leis in die Nacht, und wer ihm begegnet, hört sein Schluchzen. Und Stavenwüffke wandert lautlos, und um seine Füsse schlagen die Nebel wie weiche Schleier.

Das Kind lauscht. Und weil es ein Schreiten hört, wie das der Schiffer, die in Seestiefeln am Strande gehen, denkt es an Jürgen Bonken.

„Vater Jürgen Bonken, bist Du’s? Willst Du heim? Hat Dich die Sturzsee am ersten März nicht über Bord gespült?“

Und wieder zögerte das Licht. Manchmal war es, als irre es am Priel entlang, manchmal, als suche es einen Weg hinaus — hinaus auf das überflutete Watt.

„Jürgen Bonken!“ rief das Kind voller Angst. Und wieder und noch lauter: „Jürgen Bonken!“

Da wendete sich das Licht langsam und goss einen roten Strom über Binne Bonkens bleiches Gesicht und über ihr verwehtes gelbes Haar. Und eine rauhe Stimme fragte und konnte die Verwunderung nicht bergen: „Binne Bonken, was willst Du hier? Bist Du ganz allein herausgelaufen in die feuchte, dunkle Nacht?“ Eine warme Hand streckte sich dem Kinde entgegen: „Wen hast Du denn gerufen, Mädchen?“

„Vater Jürgen Bonken hab’ ich gerufen,“ schluchzte die Kleine. „Mutter Kei und ich — wir weinen um ihn. Und ich dachte, Du seist Jürgen Bonken.“

Da nahm Jochen Klähn, der das Boot im Priel verankert hatte, Binne Bonken an seine Hand, trocknete ihr den Schweiss auf der Stirn und führte das verängstigte Kind hinauf auf die Werft.

Inseln im Winde

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