Читать книгу Inseln im Winde - Max Geißler - Страница 5
Zweites Kapitel.
ОглавлениеNicht lange nachher brannte hinter Kei Bonkens Fenster das Licht, während in den übrigen Häusern um den Fething die Lampen schon dort und da zu verlöschen begannen.
Binne schlief im Bettschrank, und noch aus ihren Träumen herüber klang ihr leises Schluchzen.
In dem Hause, in dem Kei Bonken um die Abendstunde geweilt hatte, um ihr Leid zu vergessen, sassen um diese Zeit auch die Klähns noch wach. Nur Urgrossmutter Eike Klähn waren die Lider müde zugefallen.
Sie sprachen von Binne Bonkens seltsamem Wesen und wunderten sich über den Reichtum in dieser jungen Seele.
Der Schiffer Knudt Klähn sass rauchend im Lehnstuhl aus schwarzgelbem Rohr, während die Stricknadeln von Frau Goede Klähn silbern hinter dem Ofen hervorklangen.
Goede Klähn hatte von der Küche aus vor kurzem noch einmal Dittena) aufgelegt, ehe sie sich in der Stube zur abendlichen Rast setzte. Und nun flammte ein trauliches Feuer im Beileger und spann seine sanfte Wärme durch das Zimmer. Der Pendelgang der Uhr war hörbar, wenn die Menschen schweigsam vor sich hinsannen, und manchmal unterbrach der weiche Schlag der rauchausstossenden Lippen die tiefe Stille im roten Lichte der Lampe.
„Hm,“ machte Knudt Klähn. „Woher weiss denn Binne Bonken überhaupt das Märchen vom Stavenweibchen?“ fragte der Schiffer seinen Sohn Jochen.
„Ach,“ entgegnete der blonde, hochgewachsene Junge fast unwillig, „Uwe Nomsen, der Träumer, hat’s ihr erzählt. Und noch dazu gegen Abend, zu einer Zeit, wenn Kei Bonken sonst schon daran denkt, die Kleine zu Bett zu bringen. Du weisst ja, wie unerschöpflich Uwe Nomsen in derlei Dingen ist und wie seine Augen hell werden, wenn er Märchen sinnen oder erzählen darf. Dann werden ihm die Augen tief wie Brunnen und leuchten in heimlichem Glanz. Sonst aber ist er schweigsam — und mir ist er zu still für einen, der leicht einmal mit seinem lauten Worte die brüllende See überschreien muss. Und viel zu versonnen ist er — denk doch: wenn der Sturm um die Lappen pfeift und die See über Bord springt, da darf einer kein Träumer sein.“
Jochen Klähn schwieg eine Weile und schaute seinen Vater fragend an: „Manchmal mein’ ich: Uwe Nomsen passt gar nicht in unsere Welt mit ihren tausend Fährnissen und mit ihrem ewigen Kampfe gegen die See. Er ist aus einer anderen Welt, nämlich aus der, die er sich erträumt. In der, die er sich so zurechtgemacht hat, wenn er Möweneier sucht und sich das Herz voll Sonne scheinen lässt, in der lebt er am liebsten, dort ist er daheim.“
So sprach Jochen Klähn, und Vater Knudt Klähn lächelte. Er freute sich seines tapferen Jungen, der schon jetzt die fernhinschauenden Augen hatte, die sich gewöhnt haben, den Saum der See auf kommende Wetter zu prüfen. Knudt Klähn freute sich seines tapferen Jungen, der in kniehohen Seestiefeln noch jetzt bei der Lampe sass, als sei er jeden Augenblick bereit, einer der Gefahren zu begegnen, die das Eiland stündlich umlauern.
„Vater,“ begann Jochen von neuem, „wenn ich nicht neben ihm herangewachsen wäre, so könnt’ ich nicht glauben, dass Uwe Nomsen ein Schifferkind, dass er ein Halligfriese sei. Haha, Stavenwüffke will er gesehen haben! Die Möwen hätten Kleider aus Silber, sagt er, und er behauptet, er könne den Wind sehen, wenn er schlickläuft: er trage grosse Seestiefeln und habe den Kalkstummel im Munde und die Hände in den Taschen . . .“
„Der Wind?“ fragte der Schiffer erstaunt.
Jochen Klähn schlug mit der flachen Hand auf den Tisch: „Jawohl, der Wind! Er reite mit gespreizten Beinen auf dem Hausdach, sagt er. O, Uwe Nomsen, das ist ein Träumer! Neulich hat er sogar versucht, Verse aufzuschreiben.“
Während die beiden so sprachen, hatte Frau Goede Klähn die Hände mit dem Strickstrumpf in den Schoss gelegt, und sie hörte verwundert, was ihr Altester von dem Nachbarsohne berichtete.
Überdem schlug der weisse Fox an, kroch unter dem wärmelnden Ofen hervor und legte die Nase in den Spalt zwischen Tür und Pfosten. Draussen vor dem Hause auf dem Steinpflaster, über welches vorhin Kei Bonken gegangen war, klangen schwere Tritte; die klangen nun auch über die Vordiele.
Knudt Klähn hatte das Fenster der Stube ein wenig geöffnet und klopfte die Asche aus der Kalkpfeife hinaus.
„Das ist Ocke Frerksen! Er wollte heut abend noch ein wenig plaudern kommen; denn er fürchtet die Stille, die daheim um ihn ist, seit ihm das auf See widerfahren ist,“ sagte der Schiffer.
Der Hund bellte nicht mehr, sondern sprang wedelnd an dem Eintretenden empor. Der Kapitän musste ein wenig gebückt unter dem Türpfosten hindurchschreiten, reichte Goede Klähn die Hand zum Abendgruss und setzte sich neben Knudt Klähn an den mit braunem Wachstuch überspannten Tisch in der Mitte des Zimmers. Dann stopfte sich Frerksen den Kalkstummel mit schwarzem Shag und hüllte sich schweigend in eine Wolke blauen Tabakrauches.
Auch Ocke Frerksen trug kniehohe Seestiefel, und auch seine Augen waren wohl einst fernhinschauend gewesen wie die der beiden Klähns. Aber heute hatte das Leid feinen Staub darüber geblasen, und um den Mund des alternden Mannes, dessen Kommandoruf Wind und Wellen gar oft übertönt hatte, lag ein Zug herber Verschlossenheit. Er knöpfte die braune winterliche Joppe vor der Brust auf und lehnte sich mit einem Seufzer im Stuhle zurück.
Wie Jochen Klähn merkte, dass dem Kapitän das Herz schwer sei, sagte er: „Ich habe das Boot vorhin noch einmal verankert. Kapitän; es möcht’ ein Sturm kommen, und das Boot liegt weit draussen im breiten Priel.“
Frerksen legte die Hand ans Ohr: „Was sagtest Du? . . . Ach so! Woll, woll. Lang dauert’s nicht mehr, so wird schlecht Wetter in See. Das Nordlicht hat zu lange gestanden. Und das Nordlicht trügt mich nie.“
„Ich denke, das Wetter bleibt noch eine Zeitlang,“ warf Knudt Klähn ein.
„Nein, Klähn! Hast Du das Nordlicht nicht gesehen? Das Nordlicht stand auch am ersten März . . .“
Da verfinsterte sich des Kapitäns Stirn, und der Ton seiner Stimme sank, als er dumpf wiederholte: „Stand — auch — am ersten März, Knudt Klähn. Mir saust der Wind in den Ohren seit dem ersten März. Ich werde sein Rauschen nicht los. Immer braust er und will nicht schlafen, und ich hör’ ihn doch draussen gar nicht laufen. Wenn ich ihn die Hollerbüsche nicht biegen sähe, so wüsst’ ich nicht einmal, dass er da ist. Ich glaube, ich werde taub, Knudt Klähn.“
Ocke Frerksen schaute nach diesen Worten lange stumm auf die Diele. Es war nichts vernehmbar als der sanfte Schlag der Lippen an den Saugrohren der Pfeifen und der Schritt des Uhrpendels im Kasten.
Um den Mund Kapitän Frerksens wurden die Falten des Leides tiefer, als er wieder zu reden begann: „Ich weiss wohl, Ihr glaubt das nicht. Aber wenn die Nacht kommt, kann ich den Schlaf nicht mehr finden; das Rauschen in den Ohren weckt mich immer wieder auf. Darum lasst mich heute noch eine Stunde bei Euch. Mein Weib schläft schon. Und die beiden Jungen schlafen auch. Vorhin war’s — da hab’ ich an ihren Bettschränken gestanden und gelauscht, aber ich hörte sie nicht atmen. Das macht das Rauschen in den Ohren; es ist wie der Klang in den Muscheln des Watts. Ich will fortan nicht mehr fahren, Klähn. Es war zu furchtbar.“
Der Kapitän schwieg wieder, stützte die Arme in den Ellbogen auf die mächtigen Knie und sann zurück in die Sturmnacht des ersten März — in jene Sturmnacht, in welcher der „Amilhujo“, dessen Kapitän Frerksen gewesen war, Schiffbruch gelitten hatte.
Da brach Jochen Klähn das bange Schweigen: „Das Wrack des ‚Amilhujo‘, das solange draussen auf dem Sande gelegen hat, ist übrigens fort und auf Knudts-Hörn aufgetrieben. Wir sahen’s diesen Nachmittag gehen — es trieb immer die Norderaue entlang.“
Der Kapitän hörte nur mit halbem Ohre hin. „Woll, woll . . . es war zu furchtbar.“
Und weil Frerksen so redete, merkten die beiden, er hatte nicht verstanden, was ihm Jochen Klähn berichten wollte. Sie schauten sich beklommen an.
Überdem sprach der Kapitän weiter, mehr zu sich als zu den anderen: „. . . um ein Uhr nachts war Jürgen Bonken noch an Bord. Ich stand an Achterdeck, und der Wind lief steif von Nord-Nordwest. Da gab’s kein Kommando mehr. Nur der Sturm brüllte. Jeder tat, was er zur Rettung seines Lebens für gut hielt. Und die Sturzsee kam und schlug mich gegen die Bordkante; das hab’ ich mit diesen beiden Zähnen bezahlen müssen. Und wie sie vorüber war, waren wir nur noch ihrer drei; die übrigen hatte die See über Bord gespült. ‚Jürgen Bonken!‘ rief ich und noch einmal: ‚Jürgen Bonken!‘ Aber Jürgen Bonken war nicht mehr da, und er hat keinen Ruf mehr getan . . . Meiner Meinung dreiviertel Meile nördlich Norderhörn. Wir mussten wohl gegen Marschnack auftreiben. Das wäre gut gewesen, wenn wir nur hätten Ketten ausstechen können. Aber wir hatten ja keinen Anker mehr! Und dann kam das Licht. Es war ein Nebel wie nie zuvor. Da stiess der ‚Amilhujo‘ durch und sass fest. Und ich sah: von allen Bootsleuten waren nur noch Karsten Hansen und Momme Tamen übrig, die hatten sich mit Tauen an die Maststümpfe geschlungen . . . wir hatten Leck . . . und wie die See wieder anstürmte, da rief Momme Tamen: Kapitän, hörst Du mich?‘ — ‚Ja, Tamen, ich höre!‘ — ‚Kapitän, wenn Du diese Nacht überlebst, so sorg für mein Kind, Kapitän! Gott lohn Dir’s!‘ So bat Momme Tamen. Es war bitter kalt . . . Da ist dem Manne das Herz erfroren . . . Weiter weiss ich nichts mehr, Knudt Klähn.“ —
Das trübe Schweigen wollte sich wieder über die drei legen, aber Knudt Klähn verscheuchte es: „Hm. Auch Karsten Hansen war totgeblieben. Seine Kleider starrten vor Eis. Es war gegen Mittag, als wir die Boote zu Eurer Rettung an das Wrack heranbrachten, das wir wegen des Nebels ja nicht früher sehen konnten. Und dann haben wir drei Tote herübergefahren, drei Tote . . .“
Dem Schiffer Klähn stockte das Wort im Munde —
„. . . von denen Ocke Frerksen wieder lebendig ward!“ ergänzte der Kapitän dumpf und saugte hastig an der erkalteten Pfeife.
Sie redeten noch eine Weile, und der Wind ward lauter und lief geschäftiger um die Häuser der Werft.
Frerksen klopfte die Asche aus dem Kalkstummel: „Drei Tote — Karsten Hansen und Momme Tamen haben sie begraben — und Ocke Frerksen ist auch nicht wieder richtig lebendig geworden . . .“
Frau Goede Klähn goss den braunen Tee in die flachen Schalen; aber das Herz des Kapitäns fand sich in dieser Nacht nicht heim in die Traulichkeit dieses Hauses. Die Schrecken des Sturmes, der den „Amilhujo“ in wildem Spiel über die nachtschwarzen Wogen getrieben hatte, bis er ihn zerschellte, krochen heute wie Gespenster um Ocke Frerksen. Und wie ein Gespenst scheuchte die bange Ahnung alle Freude von dem alten Manne, die bange Ahnung, dass er nie wieder in einen Sturm auf der See sein Kommando rufen werde.
Gegen Mitternacht sprang der Wind um und lief nun von Nordwesten über das Eiland.
Da drückte sich der Kapitän den brüchigen Südwester fest auf die Ohren und ging heim. Wie er sich an dem feuchten Zaun entlanggriff, weil die Wolkengespenster das Licht der nächtlichen Himmelslampe mit nassen Fingern ausgetan hatten, hielt er die Hand prüfend in den Wind und wandte sich um.
„Nordwest! Siehst Du, Knudt Klähn, ich hab’ das Nordlicht gesehen!“ ries er dem Schiffer hinüber, der gerade die Haustür schloss.
Und Frerksen kam nach Hause und sass noch lange im Lehnstuhl, sann im Lehnstuhl und dachte der Zeit, in der er den Tod erlebte und wieder erwachte.
Vier Wochen waren seitdem vergangen; vier Wochen war Jürgen Bonken tot, und ebensolange war Ipke Tamen, der neunjährige verwaiste Junge, im Hause Ocke Frerksens und nannte den alternden Mann „Vater“.
Und wie er so sann und wie ihm die kurze Kalkpfeife immer wieder zwischen den Zähnen kalt wurde, trat er plötzlich an das Fenster und horchte hinaus. Er wusste: der Wind steht steif aus Nordwest, und der Wind singt um die Dächer und Giebel. Aber Frerksen hörte ihn nicht. Und er starrte vor sich in die Nacht und nahm eine Lampe von dem Wandbrette. Die zündete er an und nagelte sie auf die Fensterbank, dass sie ihren goldenen Schein in das Dunkel werfe, weit hinaus auf die See — ein Wegweiser für die, die draussen sind. Und die Lampe hat seit jener Stunde in jeder Nacht auf dem Fenster in des Kapitäns Hause gebrannt.