Читать книгу Jockele und seine Frau - Max Geißler - Страница 3

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Der Doktor Jakobus Sinsheimer — lieber Gott, wer kennt den Doktor Jakobus Sinsheimer nicht! Hat er nicht als „der Jockele“ wegen seines heftigen Betriebes mit den Mädchen die kleine Stadt Weimar in grosse Aufregung versetzt? Der Jockele, der als Zigeunerbüblein von der guten Tante Veronika auf der Schwelle des Hauses am Walde gefunden wurde! Der Jockele, der sich hernach so kraftvoll hineinliebte ins Leben! Der zuerst ein Maler werden wollte, und zu dem dann sein väterlicher Freund Ernst Haeckel in Jena sagte: „Ein rechter Kerl geht nicht unter — auch ohne Matura; deutsche Hochschulprofessoren sind keine Philister, und aus einem Zigeuner wird durch die kluge Sorge seiner alten Tante ein gelehrter Doktor.“

In Bonn, wo er mit Doris Rinkhaus Hochzeit feierte, sprach er ein Wort von grundlegender Bedeutung. Er sagte: „Mit Männern, in deren Leben die Frauen nicht eine ungeheure Rolle spielen, hat es ein Aber.“ Das schmetterte er so über die Hochzeitsgesellschaft hin. Und die Welt hielt davor den Atem an. Eine ältere Dame sagte sogar: „Ooh!“

Papa Rinkhaus, der Fabrikbesitzer, war ein gescheiter, eigenwilliger und reicher Mann. Es kam ihm gar nicht darauf an, den Schwiegersohn gleich an seinem Ehrentag ein bisschen in Reparatur zu nehmen. Seiner väterlichen Würde war sowieso eine harte Probe zugemutet worden, weil seine Tochter Doris ihre Herzensangelegenheit durchaus zu eigener Sache gemacht hatte. Nun konnte er gleich anfangen, das Versäumte nachzuholen; denn — wie gesagt — die Hochzeitsgäste hielten den Atem an. Der Jockele, der aus dem Thüringer Walde gezogen worden wie Moses aus dem Schilfe des Nil, schien ja mit recht netten Grundsätzen in die Ehe zu treten! Oh!

Aber Xaverius Rinkhaus zerplatzte nicht gleich, wie das die ältere Dame erwartet hatte. Nein, nein, er war auch ein vorsichtiger Mann und fragte: „Wie meinen Sie das?“ Es klang steil.

„Ganz anders, als Sie erwarten, meine Herrschaften,“ sagte Jockele mit Genugtuung. „Was mich betrifft, so werde ich mich in die Sonne meiner Frau stellen, wie sich die Erde stellt in das Licht des Frühlingshimmels.“

„Wie schön!“ seufzte die ältere Dame bekehrt. Aber „Na na!“ sagte Fräulein Hanna von Fellner, die ein halbes Jahr mit einem Oberleutnant verlobt gewesen war. Im Grunde war es ihr gar nicht unangenehm, dass man es bei diesem deutsamen „Na na“ nicht bewenden lassen wollte. Sie hatte gegen die Liebesfähigkeit junger Männer ihre Bedenken — zum mindesten gegen die Ausdauer dieser Liebesfähigkeit. Und weil der Hochzeiter Jockele so vergnügt um sie herschien, getraute sie sich, mit ihm eine Lanze zu brechen. Oho!

„Lieber Doktor, Sie sind ja nur in die Enge getrieben worden. Sie wollen Ihre junge Frau nicht ängstlich machen. Und Sie fürchten sich vor dem gewappneten Heer, das um Sie lagert! Wetten wir, dass Sie vor dem ehelichen Dasein alle Bangigkeit befallen hat, die die Männer nun einmal davor aufbringen?“

Es war ein roter neunzehnjähriger Mädchenmund, der das daherredete, wunderhübsch aufgeblüht und wissend — aber nicht zu sehr. Und gar nicht verkümmert in ungestillten Sehnsüchten.

Deshalb setzten namentlich die jungen Frauen der Tafelrunde gleich alle Lichter heraus. Teufel auch — wenn solche Weisheiten zwischen angewelkten Lippen hervorgesickert wären, so hätte man sich verstohlen mit den Füssen ein Zeichen gegeben und hätte gedacht: „Nun ja, die Konzession hat sie nicht bekommen — deshalb verschenkt sie nun den Wermut der Liebe.“ Aber auf Hanna von Fellner traf das nicht zu. Nein, es traf nicht zu — trotz der aufgetrennten Verlobung; denn erstens war sie Dos ausgezeichnete Freundin, und zweitens war sie dieser aufrechten und klaren Do leuchtendes Ebenbild. Wer die beiden nicht kannte, hielt sie für Schwestern.

Der Hochzeiter Jockele hatte, wie man weiss, gerade sein Werk „Der Kunsttrieb der Natur“ vollendet. Deshalb hatte er den Kopf noch bis oben voll von Wissenschaft über „die Entwicklung der Organismen aus eigener Kraft durch die physikalische und chemische Energie der lebendigen Substanz“. Er hätte also präziser antworten können, als er es tat. Aber er wollte der lustig aufgewiegelten Hanna nicht gleich Schach bieten, liess sich in ein Gefecht mit ihr ein und wettete um eine Mark: er hätte nicht halb so viel Angst vor dem ehelichen Dasein, als sie ihm andichte.

Schon wegen der Wette um die Mark bekam er die Lacher auf seine Seite. Für Hanna von Fellner dagegen wurde die Lage unbequem.

„Lassen Sie sich nicht aus dem Sattel werfen, Hannachen!“ reizte Herr Xaverius Rinkhaus.

Nun, der Jockele war ja seit drei Stunden verheiratet; und Hanna gehörte zu seiner Frau — sie gehörte also auch zu ihm. Deshalb durfte sie das schon wagen. „Also,“ trumpfte sie heraus, „meine Wette hab’ ich gewonnen: ein bisschen Angst haben Sie schon zugegeben! Sie sind aber auch ein viel zu junger und interessanter Mann, als dass es Ihnen nicht bange sein müsste vor der Hürde der Ehe. Wie lautet doch die Weisheit junger Leute Ihres Schlages? Sie schupfen verstellungsfroh die Schultern, lieber Doktor! So will ich Ihnen auf die Sprünge helfen. Sie alle fürchten sich vor dem geordneten Leben ...“

„Stempeln Sie mit diesem kühnen Satze nicht jeden unverheirateten Mann zu einem Zigeuner?“

Das sorglos gleitende Schiff Hannas war gegen eine Klippe gefahren. „Nun, so will ich sagen: Junge Männer, wenn sie glauben, dass sie richtig gehen, lieben die fröhliche Wildnis, und sie meinen, in der Ehe verkümmern ihnen unentbehrliche Blüten des Lebens.“

Es war keine Erörterung für eine Hochzeitstafel; auch dann nicht, wenn man schon bei den Knackmandeln war. Und doch geriet weder die vortreffliche Stimmung noch einer der Gäste dabei in Gefahr. Nicht einmal Hanna selbst. Aber sie war klug und wollte für diesmal nicht recht behalten. Sie warf dem Jockele also noch rasch einige Perlen aus der Kette ihrer Gedanken zu und rief: „Geben Sie acht, Doktor, dass Ihnen keine davon fortkommt! Auf der Insel der Auferstehung oder im Riesengebirge oder im Gartenhaus am Horn in Weimar wollen wir sie wieder schön auf den Faden reihen.“

Die Insel der Auferstehung ist ein Eiland im Hardanger Fjord. Der Name war von einem Kreise junger Menschen erfunden, die in jener Zeit daselbst hausten. Eine Vereinigung von Künstlern, Träumern und lebensfrohen Kämpfern, die sich „Sturmschwalben“ nannten.

Hanna von Fellner hatte nach ihrem rückgängig gewordenen Verlöbnis zwei Wochen auf dieser seligen Insel gelebt. Sie war von einer Freundin dorthin gerufen worden, die die Düsseldorfer Akademie besuchte und einen Sommer lang am Strande Norwegens malte. „Ich gehörte zu den Träumern unter den Sturmschwalben,“ sagte Hanna.

„Nun ja, damals!“ lachte Jockele.

Und sie berichtete, wie herrlich, gross und einsam die Welt dort wäre. Die Insel der Auferstehung sollte das erste Reiseziel des Doktors und seiner jungen Frau sein. Hannas beredter Mund hatte viel zu reizvoll von dem Fjord und den Sturmschwalben geplaudert. Dort im nordischen Sunde auf dem Sonneneiland flog Jugend aus vielen Ländern zusammen. Es gab keine gedruckten Vereinsgesetze, keinen Vorstand und keinen Kassierer, keinen Monatsbeitrag und keinerlei andere Verpflichtungen. Die Feste, der Ernst und der Frohmut, das Weilen und das Wandern waren dort Eingebungen des Augenblicks.

Im Hochzeitstag am Rheine tauchte das Bild der Insel der Auferstehung empor und ging unter in Tanz und Glück. Vor Mitternacht — aber lange nicht als die letzten — verschwanden auch Jockele und Do. Danach blieben sie einige Zeit verschollen. Das erste Lebenszeichen sandten sie aus dem Blockhaus am Fjordstrand, in dem sie ihre Koffer, ihre Daseinslust und ihre Neugier einstweilen verstaut hatten. Von Hanna wussten sie: ein Gasthaus gab es auf der kleinen Insel nicht. Auch nach ihrem Namen forschten sie bei den Fischern vergeblich. Selbst auf dem Dampfboote, das sie durch den Fjord trug, hatte kein Mensch eine Ahnung von dem Eilande der Auferstehung. Nur das Gehöft Krokengaard kannte man. Das lag drüben am Fjordufer über der Sägemühle. Das hatte ihnen Hanna als Ziel ihrer Fahrt genannt. Es schäumte nahe dabei in jähem Sturz ein Bergfluss über Schründe und Zacken und zerschlug sich zu einem Schleier von Staub.

Am anderen Morgen ergingen sich Do und Jockele am Strande vor dem Plätschern der schimmernden Wasser. Da glitt ein Boot mit einem braunen Segel herüber, und Nane Thord stieg heraus. Sie trug ein schwarzes Wollgewand und eine weisse Haube.

Auf Nane Thord mit den stillen grauen Augen hatten sie gewartet. Das war die Witwe des Fischers Lars Thord. Sie segelte bis tief in den Herbst hinein an jedem Morgen von der Insel herüber. Mit dem geräumigen Korb am Arm zog sie von Haus zu Haus. Auf Krokengaard erstand sie Eier und Butter, beim Krämer geräucherten und rohen Lachs, Anschovis, fetten Hering. Sie kaufte rote Rüben und Zwiebeln, Olivenöl, Essig und Pfeffer; Knäckebröd mit Anis gewürzt; Sillsalat aus mariniertem Hering; sie feilschte um Gammalost, den schärfsten alten Käse, für den der Maler Henrik Tofte seinen letzten Pfennig anlegte, und liess sich die Flaschen füllen mit Pomerans und Finkelbränvin. Sie verstaute in ihrem Korb Brot aus feinem Mehl und Gänsebrust und Kaviar ... Oh, dem „Smörgasbord“ von Nane Thord konnte kein Mensch nachsagen, dass dieser kleine Vorspeisentisch nicht zu aller Zeit mit Umsicht und Liebe gerüstet stünde! Was ein Smörgasbord eigentlich wäre, wussten die beiden landfremden Hochzeitsmenschen noch gar nicht. Sie kamen sich bei ihrer Strandwanderung ein wenig entwurzelt und sehnsüchtig vor; denn sie waren an ihrem Reiseziel und waren es doch nicht. Sie hätten hinüberrufen können zu der Insel der Auferstehung, und dennoch lag die in dem dunkeln Wasser wie ein fernes, fernes Land. Es war, als müssten sie erst die Schneegefilde vom Folgefond, die sich vor ihnen in der Flut des Fjords spiegelten, überschreiten in langer, mühsamer Wanderung, um hinzugelangen. Aber als Nane Thords Boot gegen den Strand stiess, sprangen sie herzu wie Kinder, die ihre Mutter erwarten, und als wäre das Schifflein das Spielzeug, das sie ihnen mitgebracht hatte.

Nane Thord aber wunderte sich an der leuchtenden jungen Frau Do über die Massen. „Es wachsen viele blonde und hohe Mädchen an diesem Strande,“ sagte sie, „aber so hell ist keine von uns.“ Do sah aus wie ein Maitag, der über die Zinnen der Berge blüht. Dann redeten sie von Hanna und fanden sich darüber gleich gutbekannt zueinander.

Während Nane Thord ihren Einkäufen nachging, blieben die beiden im Boot. Sie machten es los und glitten vor dem sachten Morgenwind uferhin. Es dauerte zwei Stunden. Da lernten sie das Boot wenden und die Leinwand in den Wind stellen. Sie wurden kecker und fuhren ein wenig hinaus.

Es hatte sich nämlich ein Mensch zwischen dem Gesteine der Insel halb aufgerichtet und schaute ihnen unverwandt zu. „Ich glaube, dieser steinerne Gast ist Rolf Krake,“ sagte Do.

„Ach so — der Dichter, Träumer, Maler, Lautenschläger und Drechsler?“ fragte Jockele. Sie kannten seinen Namen und seine wunderliche Art von Hanna. Die hatte ihnen sein Bild nicht ohne Teilnahme gezeichnet und hatte gesagt, Rolf Krake wäre die einzige der Sturmschwalben, die Nane Thord über den Winter hätte Gesellschaft leisten wollen. Das einsame Eiland gehörte ihr, und ausser ihr wohnte niemand dort.

Von Rolf Krake stammte der Name der Insel und der Vereinigung. Von ihm rührte auch der Anbau aus Stämmen her, der dem kleinen Blockhause des Fischers Thord im vorigen Jahr angefügt worden war.

Dieser Anbau hatte, wie das alte Haus, ein Rasendach, tief herabgezogen und auf geschälte Birkenrinde gelegt. Aber während der Rasen auf dem alten ganz von Moos und Flechten übersponnen war und nun in der Morgensonne leuchtete wie dunkles Gold, blühte das neue wie ein Frühlingsanger von Gänseblumen, blauem Gundermann, roten Taubnesseln und Schaumkraut. „Man kann von den Dächern dieser Blockhäuser die ganze norwegische Flora zusammenstellen,“ sagte der Naturforscher Jockele.

Da sahen sie Nane Thord von der Sägemühle her wieder über das kurze Gras des Vorlands herabschreiten. Sie arbeitete mit dem freien Arm wie eine Windmühle mit ihren Flügeln; denn sie wollte sich den beiden bemerkbar machen. Also fuhren sie hinüber. Nane Thord ergriff Steuer und Segelleine. Und wie ein Renner, der sich wieder in sicheren Händen weiss, eilte das Fahrzeug nun über den Fjord.

Der Mann zwischen den Steinen kroch hervor und machte das Boot fest. Es war aber nicht Rolf Krake, sondern Henrik Tofte, der Maler, der auf seinen alten Käse gewartet hatte. „Nane Thord hat mir den Tag zerdonnert,“ sagte er. „Wissen Sie, auf mich haben alte Käse die Wirkung wie auf Ihren Dichter Schiller die faulen Äpfel. Eigentlich wollte ich heute das Bild für Johnny fertigkriegen — es ist nämlich eine Sonnenstimmung aus dem frühen Tage ... Nun bin ich den Vormittag über zu Stein geworden.“ Dabei schob er einen halben Laib Brot aus der Hand Nane Thords in die Tasche seines Malkittels, nahm den Steinnapf mit dem Käse in Empfang und stieg wieder seinem vorigen Sitz in den Zacken entgegen.

„Man darf es mit Herrn Tofte nicht verderben,“ sagte Nane Thord geheimnisvoll. „Er ist ’n Kerl wie ’n Eichbaum; er kann malen wie der liebe Gott. Aber wenn er wild wird, geht er nieder wie eine Lawine.“

„Ein bisschen viel auf einmal,“ lachte Do. „Hat ihn eigentlich Fräulein von Fellner kennen gelernt?“

„Ah nein! Er ist doch erst mit den beiden Engländern James King und John Williams im August gekommen.“

Dann schritten sie vom Landeplatz den schmalen Steig zwischen Felsblöcken empor und traten in den neuen Teil des Blockhauses, den sie den Krakesaal nannten. Es war ein einziger grosser Raum mit zwei Reihen niederer Fenster an den Längsseiten, mit weissen Vorhängen und mit Blumen auf den Brettern. An der rückwärtigen Schmalseite lag eine Feuerstelle. Ein Kupferkessel hing an einer Kette über glimmender Torfglut. In der Mitte stand ein bedeutender runder Tisch. Dunkle geräumige Stühle waren im Kreise darum geordnet. Und beim ersten Fenster, vor der Staffelei, stand eine Malerin, die strich in heftiger Versunkenheit die goldene Dämmernis aus ihrem Pinsel. Sie dachte wohl: es ist Henrik Tofte, der mit der Fischerfrau hereinkommt. Deshalb wandte sie sich nicht um. Aber als sie Nane Thords feiertägliche Sprache hörte, wagte sie einen Blick aus ihrer Lichtfreude. Und ...

„Jockele! Do, goldene Do!“

„Gwendolin Vogelgesang!“

Es folgte ein ungeheurer Zusammensturz. Zuerst rissen sich Gwendolin und Jockele an die Herzen. Dann warf Do ihre Arme um beide. So jauchzten sie ihre Glückseligkeit von heissen Lippen und aus quellenden Augen übereinander dahin. „Gwendolin, du ewiges Licht, du Zauberin!“ Und genau wie damals in der Stube der kleinen Wirtschaft im Webicht bei Weimar, als die lange Gwendolin dem Jockele die Bilder zum „Armen Heinrich“ verkauft und ihm sein erstes selbstverdientes Geld in blauen Scheinen gebracht hatte — genau wie damals schossen diese ranken jungen Menschen durcheinander wie Waldbäume und verflochten sich mit Wurzeln und Ästen. Aber nun waren es ihrer drei. Und genau wie damals stand eine Wirtsfrau zwischen Tür und Angel, kriegte die Verklärung und schrieb unter das Bild in Lebensgrösse „Ein Wiedersehen nach langen Jahren“. Aber nun hiess die Wirtsfrau Nane Thord.

Grosser Gott, wie klein ist deine Erde!

Henrik Tofte bekam durch das offene Fenster hinaus eine Ahnung der Ereignisse. Sollte der Herr, der sich ihm als Doktor Sinsheimer vorgestellt hatte, einer der vielen sein, die Gwendolin Vogelgesang einmal schön gefunden hatten? Und einer von denen, die sie hernach gehen hiess mit hochmütigem Munde — „ich kenne diesen Menschen nicht“?

Henrik Tofte, der ährenblonde Skalde, schritt zweimal ums Haus, um sich zu überzeugen, ob es dadrinnen einen Streit gäbe oder eine ausgelassene Freude. Er entschied sich für die Freude und kam herein. „Tofte, herrlicher Tofte, das ist doch der Jockele und seine Frau Do!“ jubelte Gwendolin.

„Ach soo!“ brummte der Maler. Dann vollbrachte er eine fast ehrfürchtige Verbeugung vor Do. Aber den Jockele nahm er in seine beiden Hände ... „Herr, Herr —“

„So redet er sonst nur den lieben Gott an,“ rief Gwendolin dazwischen.

„Herr, Herr, hätten Sie sich nicht mit einem falschen Namen eingeführt drunten am Inselrande, so hätt’ ich Sie auf meinen Armen in dies Haus getragen. Ja, wenn Sie der Jockele sind, Sie Seligster unter den Menschen! Sie kennen wir hier besser als uns selber. Na, und nun können Sie ja mit Gwendolin und Ihrer blonden Frau wieder durch die Welt ziehen wie auf dem Umschlagbilde des Buches ‚Jockele und die Mädchen‘. Ein gelbes Kleid und einen Wildrosenhut hat die lange Gwendolin nämlich wieder ... Und jetzt, Mutter Thord, bringen Sie Sekt, viel Sekt! Hätten Sie heut morgen alten Käse gehabt statt Quark, so wäre mein Bild jetzt fertig, und Mister Johnny hätte mir eine Anzahlung gemacht, bis dass es trocken ist. Nun aber schreiben Sie den Sekt so lange auf.“

„Geld hat er nie,“ erklärte Gwendolin. „Und doch verdient er schrecklich viel. Ich sag’ euch: er kann malen ...“

„Wie ein Gott!“ unterbrach sie Do.

„Nein, er kann malen, dass man sich schämt, neben ihm einen Pinsel anzurühren. Geld hat er nie. Aber er ist der Schönste unter den Menschen.“ Dabei wandte sich Gwendolin ab, aber nicht, weil sie rot wurde, sondern weil sie ihren Malkittel abstreifte und an den Haken hängte. „Kommen Sie, Tofte,“ sagte sie dann und zog ihm den Linnenrock aus, „Sie gehen ja daher, als wären Sie von Stein.“ Gwendolin hatte nun wirklich das gelbe Kleid an und sah aus, als liefe sie gerade aus dem Bilde vom Jockelebuch.

Marit, das Hausmädchen, hatte inzwischen das Smörgasbord hergerichtet; und Jockele und Do erfuhren, was es damit für eine Bewandtnis hatte. Dieser Vorspeisentisch stand an der anderen Schmalseite des Saales, der Feuerstelle gegenüber, und wies, sauber zugeschnitten, alle Herrlichkeiten auf, die Nane Thord an den Vormittagen drüben in der Welt erhandelte. Es standen Teller dabei. Jeder nahm sich so viel und wonach er Lust hatte.

Henrik Tofte hatte draussen gefrühstückt. Er beschied sich bei einem Vortrunk Pomerans und Finkelbränvin. Dann sassen sie um den Tisch her. Tofte konnte tagelang zugeschlossen sein wie die Memnonssäule; aber heute klang er sein Glück in die Welt in ewigem Sonnenaufgang. „Herr, Herr, ich habe Mortsrespekt vor Ihnen,“ sagte er zu Jockele, „aber dies erste volle Glas bring ich Ihrer herrlichen Frau! Frau Do, wissen Sie, dass Sie einen finsteren Winter lang der hohe Stern dieses Hauses gewesen sind?“

Da die Hauptmahlzeit erst des Abends um sieben Uhr genommen wurde, hatte man Musse, alles zu erfahren, was man voneinander wissen wollte. Jockele und Do würden auch Gelegenheit haben, alle Sturmschwalben kennenzulernen, die in diesen Tagen im Hardanger Fjord wohnten, sagte Gwendolin. „Sie fliegen nämlich herum, wo sie wollen — auf, in die Fjelds oder gar hin zu den Firnen, weit ins Land, zu den Wasserfällen in die Schluchten, oder sie segeln den Fjord entlang. Nur zu Tisch erscheinen sie des Abends alle mit Pünktlichkeit.“

Hanna von Fellner und Gwendolin kannten sich übrigens nicht. Auch hatte sich seit Hannas kurzem Aufenthalte manches geändert; denn Henrik Tofte und Gwendolin wohnten nun doch auf der Insel bei Nane Thord. Durch den Anbau waren in dem Fischerhause zwei kleine Räume dafür frei geworden.

Neben dem Wiedersehen erstaunte Jockele am stärksten über das Verhältnis Dos zu Gwendolin. Er musste jenes Tages auf dem Ettersberge bei Weimar gedenken, an dem sie Gwendolin malend im Walde getroffen hatten. „Jakobus Sinsheimer,“ hatte Do damals zu ihm gesagt, „diese da ist Gwendolin Vogelgesang, eine Böhmin, und sehr jung. Die Männer finden sie hübsch, und sie kann etwas.“ So war das Bild Gwendolins rasch und zutreffend von ihr gezeichnet worden. Aber zu einer herzlichen Zuneigung war es zwischen den Mädchen nie gekommen. Und als der Jockele in seinem jungen Unverstand an das heisse Abenteuer mit Gwendolin geraten war, hatte ihn Do sogar mit eifersüchtigem Spott überschüttet, und sie hatten einander den Frieden auf ein paar Wochen gekündigt.

Nun, Gwendolin war im Hardanger Fjord noch genau so verführerisch wie im Sommerwalde des Ettersberges. Ja sie war vielleicht noch gewalttätiger geworden in ihrer Sieghaftigkeit und Sinnenfreude. Aber Do brauchte sie heute nicht mehr zu fürchten. Und sie war auch inniger und fraulicher — natürlich nur, was ihr Herz anlangte; denn die schlanke Biegsamkeit des Leibes und das ganze betörende Feuer ihrer zwanzig Jahre schienen ihr unveränderliches Eigentum.

Den Samowar, den Gwendolin damals in einer Nebelnacht für Jockeles kleines Heim gestiftet, hatten sie mitgebracht. Von ihm war nun die Rede.

„Ach, der Teekessel!“ jauchzte Henrik Tofte. „Das ist ja eine famose Geschichte!“

„Die kennen Sie auch?“ wunderte sich Do.

„Kunststück! Alles kennen wir — als hätten wir’s miterlebt!“ gestand der Maler. „Wir wissen sogar, dass Jungjockele in jener verbiesterten Nacht zweimal den Namen Gwendolin Vogelgesang über die schöngemusterte Teedecke losgelassen und gesagt hat, es kröchen nun zwei Schlangen auf dem Tisch herum.“

Gott, wie lustig sich die Welt von damals jetzt ausnahm aus der gesicherten Entfernung heraus!

So lag das Lebensbuch des Jockele aufgeschlagen zu tiefster Vertraulichkeit für alle, die es sehen wollten. Und weil man auf der Insel einen Winter lang wissbegierig darin gelesen hatte, leistete sich der Jockele auch seinerseits gleich die vertrauliche Frage: „Henrik Tofte, wollen Sie Gwendolin Vogelgesang heiraten?“

„Jawohl, was mich anlangt,“ sagte der. „Wir haben davon mehrfach miteinander geredet. Aber mit der Gwendolin ist ja nichts anzufangen, wenn sie nicht will.“

„Und — sie — will — nicht?“ forschte Jockele aus drohender Versteinerung heraus.

„Will nicht!“ bestätigte Tofte und zog die Schultern.

„Will nicht?“ sagte Gwendolin. „So ist das nicht richtig! Nur — ich habe gelernt, mir diese Dinge zu überlegen. Man weiss, ich bin nicht ohne Erlebnisse. Und immer musste ich es sein, die zur Vernunft kam, wenn es höchste Zeit wurde. Daher ist die Rede unter den Menschen: die Gwendolin Vogelgesang verleugnet nach vier Wochen kaltherzig jede Liebe ... Nicht wahr, Jockele?“ fragte sie in Erinnerung an den Zwetschengarten von Ettersburg.

„Es war das närrische Jungsein,“ sagte Jockele.

„... das ich mein Lebtag nicht loswerden kann,“ ergänzte Gwendolin. „Aber ich bin höllisch klug geworden und auf der Hut vor mir selber. Dürfte ich anders den Mut haben, mich — als das einzige junge Mädchen — in den Ring der Männer zu wagen, die des Abends hier zu Tische sitzen?“

Man merkte dies Gespräch war die ganz persönliche Angelegenheit Gwendolins und Henrik Toftes. Es brach jäh ab, als sich die Tür öffnete.

Rolf Krake kam herein.

Er ging ein wenig vornübergebeugt und sah aus, als wollte er dem Geheimnis Gott auf den Grund kommen; und so, als wüsste er, dass es nur noch eins gebe, das unergründlicher sei: nämlich er selbst. Aber das wusste er nicht. Er hatte ein schmales, bartloses, scharfmodelliertes Gesicht mit einer auffällig hohen Stirn. Darüber dünnes blondes Haar, nach rückwärts gestrichen. Es schien zu wehen, so oft er in innere Erregung geriet. Ein anderes Zeichen dafür gab es an diesem besinnlichen, etwas übernächtigen Kopfe nicht. Denn die Augen lagen ihm unter der kraftvollen Stirn — grau und gross, und wer diese Augen zum erstenmal sah, der dachte, es gebe auf der Welt keine, die ruhevoller wären. Weit offen — und dennoch Rätsel, die kein Mensch je gelöst hat ... wenn man nicht sagen will, dass dies dem Schwurgerichte gelungen sei, vor das Rolf Krake hernach gestellt wurde. Augen, wie diese, hatte niemand. Nicht einmal Nane Thord. Denn die von Nane Thord waren zwar auch grau, gross und ruhevoll, aber sie leuchteten jeden Tag über einen Wunderglauben. Deshalb konnte Nane Thord zuzeiten in die Welt schauen wie ein Kind, welches den lieben Gott sucht und meint, er stehe hinter der nächsten Ecke und spiele mit ihm Verstecken. — Seine Lippen waren schmal, aber nicht verkniffen; sondern dieser Mund sah aus, als könnte er sich nur mit Rolf Krake unterhalten. Und doch hatte Rolf Krake keinen Feind auf der Welt als sich selber. Aber er war der Meinung: er selbst wäre sein bester Freund. In diesem Wahne litt er sich an den Rand des Verderbens; denn sein bester und edelster Freund war sein Bruder Woldemar. Der war aber noch niemals im Hardanger Fjord gewesen; denn Rolf Krake hatte ihm, in seiner Einbildung von der Feindschaft des Bruders, seinen Aufenthalt schon seit Jahr und Tag verschwiegen. Nur manchmal, manchmal bekam er eine so heftige Sehnsucht nach ihm, dass er Mister Johnnys Segelboot losmachte — mitten in der Nacht — und den ganzen Fjord lang segelte — mitten in der Nacht — bis hinaus gegen den Bömmelsund, wo das Meer offen wird. Das tat er, weil er auf diese Weise den grossen und schnellen Dampfer erreichte, der im Morgengrauen von Norden kommt und nach Kiel fährt. Von dort aus reiste er seiner unheimlichen Sehnsucht nach, in einem fort bis Jena, wo sein Bruder Woldemar studierte. Aber wenn er ihm dann die Hände schüttelte, dachte Rolf Krake: „Es ist doch so — dieser Mensch ist mein schlimmster Feind.“ Und in der nächsten oder in der folgenden Nacht reiste er ohne Abschied wieder von ihm weg. — Bei alledem hielt kein Mensch seine Sinne sorglicher zusammen als Rolf Krake.

Was die Leute von ihm wussten, und wie sie sich das Geheimnis Rolf Krake ausdeuteten — das kannten Do und Jockele von Hanna. Es war vielerlei, aber es war nicht viel. Und die Deutung war flach.

Rolf Krake dichtete und malte. Rolf Krake studierte dickleibige theologische Schriften, aber mit gleichem Eifer Darwin, Büchner und Haeckel. Er hatte zwar den Anbau zu Nane Thords Fischerhütte errichten lassen, aber er wohnte in der Sägemühle am Eingange des Seitentales, hinter welcher der Skjoldefoss sechzig Fuss hoch über die Steilwand herabschiesst. Es war dort so: der Wassersturz hing vor der Wand in der Luft. Wenn der Wind von Norden dagegenstiess, wehte er wie ein Schleier; denn der Felsen hatte oben eine Nase, die bei zehn Fuss hervorragte. Über diese Nase brauste die Flut hernieder. Deshalb konnte Rolf Krake zwischen der Bergwand und dem Falle stehen mit verschränkten Armen und konnte — hinter sich den Fels und vor sich die brüllende Allmacht des Sturzes — fürchterlich einsam sein.

Er sagte, er wohne in der Sägemühle, weil er dort an seiner Drehbank drechseln könne, ohne dass er mit seiner Liebhaberei jemandem auf die Nerven falle. Aber es geschah auch deshalb, weil die Sägen, Räder und aufgeregten Wasser lauter redeten als die vielen Stimmen, die in ihm waren.

Nach alledem könnte man denken, Rolf Krake wäre feindselig gegen seine Mitmenschen gewesen. Aber auch das traf nicht zu; ja es lässt sich sagen, dass er von allen Sturmschwalben der Wohltemperierteste und in seiner Art Liebenswürdigste war. Und der Rücksichtsvollste. Das liess sich schon daran erkennen: er hatte an diesem Vormittage den Gesellschaftsrock angelegt. Es hatte sich in den Strandhäusern wohl herumgesprochen, dass die schöne lichte Frau Do nach der Insel gesegelt sei.

Do hatte mancherlei Aufträge von Hanna für ihn. Sie spazierte also im Saale mit ihm hin und her. Henrik Tofte trank indessen sehr viel Sekt. Darüber wurde er aber nicht lauter als sonst, und seine Augen verloren nichts von ihrer stahlblauen Klarheit. Wenn er früh zu trinken begann, trank er in der Regel bis in die Nacht, ohne dass seine Hünenkraft erkennbar erschüttert wurde.

Dieser Vollnatur gab sich Jockele in heller Aufgetanheit hin. Es gab an ihr nichts zu raten. Do aber wurde von Rolf Krakes rätselhaften Dämmerungen aufs tiefste gefesselt. Sie dachte: weder Hanna noch irgendeiner aus diesem Tal ahnt sich heran an seine Seele — und Rolf Krake stand in der Fülle des Lichts, das von ihr ausging, und vergass darüber die Welt und sich selber.

Nach einer Weile kamen Mister Johnny und Mister James. Beide in grosskarierten hellen Anzügen und in gelben Kalblederschuhen mit dicken Sohlen. Beide in Sportmützen, beide gleich hochaufgeschossen und beide gleich blond und tadellos in der Aufmachung. An dem Malzeug, das sie bei der Tür ablegten, war zu sehen, dass sie Künstler waren oder werden wollten. Zu dieser Zeit waren sie englische Staatsstipendiaten, die von Henrik Tofte jedes Bild von der Staffelei weg erstanden, vorausgesetzt, dass er es nicht mit seinem Namen zeichnete. Mit dem reichlichen Gelde, das sie ihm dafür bezahlten, erwarben sie das Recht, die Bilder als ihre eigenen auszugeben und als Belege ihres Fleisses und Könnens nach England zu senden.

Dieser Brauch hatte sich aus ihrer Bequemlichkeit einerseits, aus dem andauernden Geldbedarfe Henrik Toftes andererseits entwickelt. Beide Teile fanden ihn angenehm. Aber es war eines der Wasser, die zwischen Gwendolin und Tofte rannen, und über die Gwendolin nicht zu ihm kommen konnte.

Ihre Shagpfeifen legten sie an diesem Tag auf dem kleinen Tische neben dem Eingang ab.

„Es ist ein lächerlich schöner Morgen gewesen,“ sagte James King, „ein Morgen mit einer lächerlichen Fülle von Farben.“

Do und Rolf hatten sich wieder zu dem runden Tische gesetzt; und der Doktor hatte Mühe, sich nicht ausgelassen zu wundern, weil Mister James den Tag und seine Farbenfülle lächerlich fand.

„Sie malen also eine Nebelstimmung?“ fragte er.

„Im Gegenteil,“ behauptete James, „dieser lächerliche Reichtum von Licht ist mir erwünscht.“

„Lächerlich ist das einzige schmückende Beiwort, dessen sich Mister James bedient,“ erklärte Henrik Tofte.

„Ah soo!“

„Treten Sie mit ihm in den Metzgerladen, so fragt er: Was kostet diese lächerliche Wurst? Machen Sie mit ihm eine Hochtour, so redet er von lächerlichen Gletschern und Schründen und von einer lächerlichen Herrlichkeit in dem Augenblick, in dem er überwältigt vor der Welt steht. Er hat die Bedeutung dieses Wortes zu eigenem Gebrauch umgeprägt, und es ist für ihn zu einem Universalausdruck seines uneingeschränkten Wohlgefallens geworden. — Dies ist die einzige nennenswerte Eigentümlichkeit an dem grossen Künstler James King.“

Henrik Tofte allein durste sich eine solche Erklärung erlauben. Er trieb es mit den Menschen, wie er wollte; und man ertrug seine Allmacht. Nur in Gwendolin war eine Kraft über ihn gekommen, vor der diese Allmacht versagte.

Mister Johnny dagegen fürchtete den starken Henrik noch aus einem anderen selbstsüchtigen Grunde: der Liebe zu Gwendolin. Run ja, die Bilder des Norwegers waren wohl zu allen Zeiten mit Geld zu erkaufen. Und selbst, wenn Tofte der Wandertrieb überkäme, oder wenn er — was noch schlimmer war — sich eines Tages von Gwendolin bereden liesse, seine Lieferungen einzustellen: in einem nahen Augenblick würde er doch an seinen leeren Geldbeutel fassen. Und dann konnte für Tofte und seine beiden „Schüler“ die Sache wieder von vorn anfangen. Aber die lächerlich hübsche, die lächerlich gescheite und die lächerlich mächtige Gwendolin hatte das Schicksal von James und Johnny in der Hand, wenn es ihr einfiel, den genialen Henrik eines Tages zu heiraten!

Am einfachsten wäre es gewesen, Gwendolin hätte ihre Bilder mit der gleichen stillschweigenden Abmachung dem James und dem Johnny überlassen. Aber die hatte vortreffliche Beziehungen in Deutschland, sie behielt keine fertige Tafel lange im Hause; und zweitens brauchte sie lächerlich wenig Geld.

Heute morgen hatten James und Johnny droben auf dem Fjeld gelegen, angeblich malenshalber, und hatten sich gesonnt. Dabei hatten sie erwogen, dass sie das mühselige Werken mit Pinsel und Farbe aufgeben und dennoch die berühmtesten Maler Englands werden könnten — nämlich: wenn der starke Henrik ihnen für ein paar Jahre sein Genie verkaufte. Und wenn es nur das war, was er leichtherzig „Kitsch“ nannte ... Seiner Ansicht nach malte Henrik Tofte — wenigstens in dieser Zeit und für James und Johnny — überhaupt nur Kitsch. Er prahlte nie mit seiner Kunst. Aber Gwendolin versicherte den Sturmschwalben: was Henrik eigentlich könne, das wisse kein Mensch, und auch er selbst nicht ... Nun, die Gefahr, dass es die Menschen so bald erführen, war nicht gross; denn was er aus seinem genialen Pinsel strich, das trug einstweilen die Namen John Williams oder James King. Haha! Die beiden hatten in London eine Ausstellung gehabt von „ihren“ Bildern, waren daran zu grossem Ruhme gelangt und waren mit einem Schlage die gesuchtesten Maler ihres Landes geworden. Davon erzählten sie natürlich im Fjord kein Sterbenswörtchen; und es schien, als ob der geniale Henrik nicht einmal die richtige Berachtung für sie aufbrächte.

Es war ein fabelhafter Bluff. Aber er war lächerlich ungefährlich, solange James und Johnny das Meer zwischen sich und die gläubige Heimat legten und — solange diese Gwendolin Vogelgesang den schönen Pott nicht in Scherben schlug. — Da musste etwas geschehen.

Jockele und Do, Henrik Tofte und Gwendolin verliessen die erlebnisreiche Tafelrunde schon gegen Mittag; denn Sinsheimers wollten ein Boot kaufen. Die Lockungen des Fjords waren mit unwiderstehlicher Macht über sie gekommen. Aber sie wollten auch nicht immer abhängig bleiben von Nane Thords Fahrzeug, so oft ihnen der Sinn nach der Insel stehen würde.

Gwendolin musste mit. Das entsprach dem Wunsche Henriks. Wenn er sie nicht in seiner Nähe wusste, geriet er aus seiner „lächerlichen Wurstigkeit“ — wie James King den Normalzustand Henriks in tiefer Bewunderung nannte. Aber wenn er gar einmal nicht wusste, wo sie war, wurde er unfähig zum Schaffen. Dann war ihm sein guter Stern vom Himmel gefallen ... Die Leute wussten das von einem Ende des Fjords bis zum anderen. Sie wussten: dieser Mann, auf den sich die Augen aller richteten, weil er daherschritt wie ein Sieger, konnte Felsen zerdrücken in seinen Händen, und er konnte vor Gwendolin beten. Aber sie hörte ihn nicht. Es war das lauterste Verhältnis, das je zwischen zwei Menschen bestand, und doch wurde zu Land und zu Wasser kaum eines ohne das andere gesehen. Keines betrat die Stube des anderen, die ihnen Nane Thord von ihrem einsamen Fischerhäuschen vermietet hatte. James und Johnny konnten dieses Platzmangels wegen nicht aus dem Eilande wohnen. Die beiden hausten drüben am Festland unter dem Dache der alten Bolette Steensgard, die auch eine Fischerswitwe war. Sinsheimers behalfen sich einstweilen im Gehöft Krokengaard mit zwei kleinen Stuben, die nach dem Fjord hinauslagen. Und Rolf Krake sinnierte in der Sägemühle. —

Der Wind, der am Morgen die Flut gekräuselt hatte, lag irgendwo schlafen an sonnigem Hange. Deshalb mussten die Männer die Ruder gebrauchen. Es war eine feine Fahrt; denn der Schiffbauer wohnte zwei Stunden fjordabwärts. Darüber liess sich Jockele von Henrik Tofte vollends in der Behandlung solch eines Fahrzeugs einweihen. Do und Gwendolin aber sassen in der Mitte gegen die rotgepolsterte Rückenlehne — Do ganz in Weiss, Gwendolin in Gelb — und brachten den Menschen, die sie vom Ufer aus sahen, den jauchzenden Glauben bei, dass nun der Frühling in vollem Gange wäre.

„Jockele,“ sagte Gwendolin, „es ist furchtbar nett und delikat von euch, dass ihr vor der Mitwelt nicht ewig das Schauspiel der jungen Hochzeiter aufführt.“

„Der Mensch kann schliesslich nicht alles auf einmal tun,“ sagte Jockele. „Jetzt bin ich dabei, mir Quasen an die Hände zu rudern — siehste nich?“

Und: „Was meinst du, Jo — ist es nicht so herrlich und tatenreich hier, dass wir bis in den Herbst bleiben müssen?“ fragte Frau Doris.

„Ich habe allbereits den gleichen Wunsch,“ sagte Jo. „Es ist gut, dass ich meine Mikroskope eingepackt habe. Ich werde also versuchen, mein Werk über ‚die Flechten‘ dem Abschluss nahezubringen. Später — etwa im Riesengebirge — will ich es vollenden. Und zweitens werde ich eine ‚spezielle Naturgeschichte der europäischen Froschlurche‘ in Angriff nehmen. Es ist da eine Lücke in der Literatur.“

„Die Sache mit den Fröschen ist etwas Neues,“ warf Do überrascht ein.

„Ja. Der Gedanke dazu ist mir in diesem Boote gewachsen.“

„Indes werde ich mich mit der speziellen Naturgeschichte der ‚Sturmschwalben‘ beschäftigen,“ sagte Do mit bedeutendem Lächeln.

„Hm,“ scherzte Jockele, „hm — ich werde also darüber nachdenken, ob sich eine so junge Frau dem praktischen Studium dieses Objektes ohne Gefahr aussetzen darf.“

„Nun,“ rief Gwendolin in fröhlichem Verstehen, „man könnte ja im Notfalle dies gefährliche Studium durch eine jähe Abreise unterbrechen.“

Henrik Tofte wurde ganz still vor dem Glück, das mit ihm im Boote sass. Er dachte, es ahnte niemand, welch ungeheure Erlebnisse diese liebliche Fahrt in ihn warf.

Aber Gwendolin wusste es doch; denn Henrik Tofte war für sie nie beredter als in seinem Schweigen. Sie sah heimlich zu ihm hinüber und erkannte: das Glück dieser klaren und aufrechten Menschen nahm sein liebes und unstetes Herz in beide Hände und hielt es tief hinein in die Sonne. Und Henrik träumte das Märchen: es würde nie mehr ein Sturm durch dies Herz laufen. Ach, es war ein wunderschöner Traum!

„Weisst du, Jo,“ begann Do nach einer Weile, „es wäre wohl gut, wir liessen uns zu unserem Vorhaben ein gemeinsames Laboratorium von drei kleinen Zimmern auf der Insel errichten.“ Darüber zog der Doktor die Ruder ein, und Henrik Tofte trieb das Boot mit leisen Schlägen voran. „Nun, einesteils zum Arbeiten, andernteils zu unserer Bequemlichkeit; drittens als ein heimeliges Nest für ‚Sturmschwalben‘, die nach uns auf der Osterinsel hausen möchten und unser dabei freundlich gedenken können; und viertens: wir verbessern damit der eifrigen Nane Thord ihre wirtschaftliche Lage. Was meinen Sie zu diesem Plane, lieber Doktor Jockele?“ fragte Do.

Dem langen Henrik schauerte das Glück immer tiefer in sein grundgütiges Herz. Er liess die Ruder aus den Händen gleiten und vergass zu atmen — wie Lottchen, als es den ersten Christbaum sah.

Er dachte nicht daran, dass man ihn auf solchen weichen Regungen des Gemüts ertappen könnte. Es focht ihn überhaupt nicht an, was man ihm bei seinem eichbaummässigen Wuchs als Schwäche aufrechnete. Pah — in diesem Hünenkörper flossen so viel Sanftmut und Gewaltart, so viel Allmacht und Unmacht, so viel Genie und Hilflosigkeit ineinander — der Teufel mochte dies Wirrsal ausfitzen! Haha, der Teufel! Als ob der ein Interesse daran gehabt hätte, dies wunderliche Stück Dasein, das man Henrik Tofte nannte, anders zu machen! Just so, wie er war, war er ihm herrlich verfallen. „Auf meinen Feingehalt kannst nur du mich läutern, Gwendolin Vogelgesang!“ hatte er an einem Winterabend zu ihr gesagt, als sie miteinander bei der Feuerstelle gesessen und dem Schneesturme gelauscht hatten.

Nun, die Gwendolin hatte schon vor vier Jahren felsensicher auf sich selber gestanden — damals, als Jung-Jockele an ihr in den purpurroten Untergang geriet und am anderen Tage der Do gelobte: „Diese Gwendolin werde ich heiraten; sie ist ein süsses und heisses Mädel ...“

Aber im Falle Henrik Tofte fehlte ihr das Vertrauen zu ihrer Kraft.

Jockele, der sich die Quasen unter der ungewohnten Tätigkeit nun errungen hatte, stieg nach vorn und setzte sich den Damen gegenüber. Sie besprachen den Plan. Do hatte die Sache ausgezeichnet bedacht. Der kleine Neubau sollte an die Westseite der Fischerhütte kommen, dem Krakesaal entgegengesetzt. Auf ein paar Stiegen sollte man von aussen hineingehen, aber man sollte durch Nane Thords Flur auch zum Saale gelangen können. Und es sollte alles stilecht aus Blockholz errichtet werden, und mit einem Rasendache.

Henrik Tofte ruderte sich darüber im Grunde genommen in tiefe Zwiespältigkeit. Aber er dachte, dieser Tag wäre die Glückseligkeit selber und wäre für ihn die Schwelle zu einem neuen Leben. Ja, solch ein Mensch war er nun!

Es fehlte auf der Leiter der Affekte, die die guten und schlimmen Mächte in ihn hineingestellt hatten, das Satansgeschenk des Neides. Dafür war bei den Übermassen seiner sonstigen Gaben offenbar kein Platz mehr gewesen. Und nicht vergeblich hatte für ihn das Doppelgestirn Do und Jo lange Winternächte hindurch im Haus auf der Insel geschienen — das hatte die berechnende Sorge Gwendolins getan. Nun fand er in diesen beiden alles, was ihm zu wünschen blieb.

Er fing das Wünschen auf dieser Bootfahrt überhaupt zum erstenmal an. Denn was er bis zur Stunde an anderen Menschen wahrgenommen, das besass er selber in Hülle und Fülle. Sogar Geld, so viel er wollte. Früher hatte er sich auch darum den Teufel gekümmert. Aber seit ihm das Schicksal James und Johnny gesandt — eine Berliner Sturmschwalbe hatte sie in scharfem Spotte „die beiden Jötter“ genannt — seitdem hatte er auch davon mehr, als nötig war. Er brauchte nur den Pinsel in sein Genie zu tunken und — er vermöchte in einem Jahre die gesamte Kulturwelt mit Begeisterung für ihn zu übermalen, behauptete Gwendolin. Und die musste das wissen. Sie war ihm eine strenge Richterin. Aber er fühlte dazu — als ein richtiges Genie — nicht das Bedürfnis. Na, und wenn schon! Was hätte denn das alles zu sagen gehabt gegen die Taten des einzigen Menschen Jockele? Was denn? Dieser Jockele hatte sich geboren werden lassen in eine Sommernacht mitten im thüringischen Bergwald. Dann hatte er sich von der Zigeunerin, die seine Mutter war, auf die Schwelle der gütigsten, sehnsüchtigsten und weisesten Tante Veronika legen lassen. Diese Tante setzte sich von Stund’ an mit all ihrer Weisheit und ihrem Gelde für ihn ein. Und so früh es nur anging, nahm ihn das Schicksal auf wie einen goldenen Ball und warf ihn schönen oder klugen Mädchen zu, die ihn mit geschickten Händen fingen. Als die letzte hatte sich dies Schicksal Doris Rinkhaus aufgehoben. Die war ausgemachtermassen so etwas wie die Krone unter den Frauen. Ja. War es denn anders möglich, als dass bei solch einem Lebenswandel der Zigeunerbub in ein paar Jahren sogar ein Doktor hiess? Und dass er nun — acht Tage nach seiner Hochzeit mit der gescheitesten Frau der Welt — im Boote den Hardanger Fjord entlangglitt und mit Do die Wohltaten erwog, die sie ihm und den Sturmschwalben angedeihen lassen wollte? Wenn diese beiden morgen nach Ägypten und in ein paar Tagen nach Hinterindien fahren wollten, so fuhren sie — das Schicksal würde nicht das mindeste dagegen einwenden.

Jawohl, Nührung und Freude weinte das lange Genie über diesen Erwägungen an die Ränder seiner Augen. So sah es nun in Henrik Tofte aus! In jeden Gedanken drängte sich der Begriff des Schicksals. Schicksal war das einzige Ding, vor dem der Riese auf der Osterinsel Respekt hatte — das heisst: wenn man Gwendolin Vogelgesang abrechnete. Schicksal — damit liess sich doch noch etwas anfangen! Aber bloss mit Genie? Pah! — Henrik Tofte war ein Fatalist.

Jockele und seine Frau

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