Читать книгу Die Madonna vom Grunewald - Max Kretzer - Страница 7
Zweites Kapitel.
ОглавлениеAls er den Zaun hinter sich hatte, atmete er die frische Luft wieder mit vollen Zügen, aber doch nicht mit der glücklichen Heiterkeit, die ihn sonst beseelt hatte. Der starke Kaffee hatte seine Nerven belebt, bald aber merkte er, dass dieser Zustand nur ein künstlich geschaffener war. Denn kaum war der mächtige Schlot seinem Auge entschwunden, als er die Stille des Waldes wie einen dumpfen Druck auf seine Nerven empfand.
Die Sonne hatte sich aufs neue verfinstert, und so erweckte das graue Licht, das in der Entfernung den fahlen Dunst des Abends schuf, in seinem Gemüt die Vorstellung von einem neuen Anfall. Die Eintönigkeit der schweigenden Kiefern lastete auf ihm, und je tiefer er in den Wald hineinging, nur begleitet vom Schall seiner Schritte, je mehr peinigte ihn die Furcht, die Finsternis könnte ihn umgeben, bevor er sein Ziel erreicht habe. Diese vielen Bäume, die er früher wie seine Freunde betrachtet hatte, erschienen ihm nun wie drohende Gespenster, die ihm jeden Augenblick den Weg versperren wollten. Er empfand das stille Grausen eines Menschen, der nicht weiss, was kommen wird.
Er wollte umkehren, um sich doch noch irgend eine Begleitung auszubitten. Als er aber zehn Schritte zurückgegangen war, blieb er wieder stehen, denn er schämte sich seiner Schwäche.
„Du wirst dich lächerlich machen,“ waren seine Gedanken. Und so nahm er seine ganze Kraft zusammen und ging weiter, mit der Empfindung eines gewissen Hemmnisses in seinen Beinen, das er vordem nie gekannt hatte. Wiederholt blickte er sich um, als könnte er einen Verfolger hinter sich haben. Irgend ein schwaches Geräusch hatte seine erregte Phantasie mit plötzlichem Schrecken erfüllt.
Der Schatten, der in der Entfernung zwischen den Bäumen hing, wurde dunkler. Die Stämme hoben sich schwärzer aus der Dämmerung hervor, die seinen Blick verwirrte. Die heisse Sehnsucht nach dem Klang einer menschlichen Stimme erwachte in ihm, und damit verband sich die Gedankenfrage: „Wo ist sie eigentlich?“ Er meinte die Unbekannte, nach der er sich vergeblich umgeschaut hatte.
Er wunderte sich, sie nicht mehr zu sehen, da man ihm versichert hatte, sie habe denselben Weg hier eingeschlagen. Vielleicht war sie schnell gegangen oder war irgendwo abgebogen, wo sie es näher zu haben glaubte. Plötzlich, als er eine Weile unsicher weitergeschritten war, den Blick immer vor sich auf den Weg gerichtet, der kaum noch zu erkennen war, bekam sein Herz einen jähen Ruck, so dass er seinen Schritt bannte. Vor sich sah er eine schwarze Frauengestalt dahinwandeln. Das konnte nur sie sein, er fühlte es sofort an einer gewissen Beruhigung, die ihn überkam.
Sein Entschluss war gefasst, er wollte nicht an ihr vorübergehen, ohne sie angesprochen zu haben. Und so begrüsste er sie mit einer scherzhaften Wendung. „Also habe ich Sie doch noch eingeholt.“
„Ah, Sie sind’s, mein Herr. Ich konnte mir denken, dass Sie mir nachkommen würden.“ Sie hatte seinen Gruss nur leicht durch ein Kopfnicken erwidert und ging nun mit ihm weiter.
Er stutzte und gab dann verwundert zurück: „Sie konnten sich denken? Wieso?“
„Gewiss, mein Herr, Sie hatten eine Begleitung nötig. Ich kenne das Gefühl, unter dem nervenschwache Menschen in der Verlassenheit leiden. Obendrein hier, mitten im Walde. Sie klammern sich da an den ersten besten an, der ihnen über den Weg läuft und den sie vielleicht in gesunden Tagen niemals beachtet hätten.“
Er erschrak förmlich vor diesem sicheren Erkennen seines Zustandes, so dass er sie von der Seite betrachtete, um irgend einen hämischen Zug an ihr zu entdecken. Aber in ihrem Gesicht, das unter dem Schleier hervorleuchtete, regte sich nichts.
„Sie scheinen sich in meinem Zustand doch zu irren, meine Gnädige,“ sagte er ärgerlich.
„Aber so lassen Sie doch, bitte, das ‚Gnädige‘. Ich sprach doch schon im Forsthaus darüber. Hier im Walde klingt es mir wie eine Beleidigung der Natur.“
„Bitte um Verzeihung — ich hatte ganz vergessen. Es soll gewiss nicht wieder vorkommen.“
„Dann werden wir auch bis zum Bahnhof viel besser auskommen.“
Er glaubte aus den Worten „bis zum Bahnhof“ eine Betonung herauszuhören, durch welche sie ihn auf eine gewisse Schranke zwischen sich und ihm aufmerksam machen wolle.
„Also — mein ‚Fräulein‘, wenn Sie gestatten,“ warf er um so höflicher ein.
Schweigend gingen sie eine Weile weiter. Es war, als wären sie von derselben Empfindung beseelt: nun, wo der Zufall sie wieder zusammengeführt hatte, sich nicht besonders zu beeilen. Die Ruhe, die von ihr ausging und sich gleichsam auf ihn übertrug, berührte ihn wohltuend. Merkwürdig, wie das Angstgefühl von ihm wich, wie er sich befreiter fühlte, wie der schweigende Wald mit seinen drohenden Stämmen ihm weniger unheimlich vorkam.
„Weshalb soll ich mich in Ihrem Zustand geirrt haben?“ begann sie wieder. „Ich sah Ihnen schon am Teufelssee an, was Ihnen fehlt. Ich merkte es an dem Fettglanz auf Ihrer Stirn, überhaupt an der ganzen Hast Ihrer Bewegungen.“
„In welchem Krankenhause waren Sie denn barmherzige Schwester?“ hatte er schon auf den Lippen, als sie ihm wieder zuvorkam.
„Sie leiden an Zwangsvorstellungen und haben Angst vor dem Alleinsein. Und das kann nur durch Willenskraft überwunden werden. Weniger arbeiten und mehr ruhen. Gewiss sind Sie geistig zu stark beschäftigt. Vielleicht haben Sie auch seelischen Kummer gehabt.“
„Woher wissen Sie das?“ unterbrach er sie zaghaft.
„Ich denke es mir, denn wie jemand, der toll gelebt hat, sehen Sie mir nicht aus,“ gab sie ruhig wie zuvor zurück.
„Manchmal irrt man sich in der Diagnose, mein Fräulein — auch wenn sie von gescheiten Damen gestellt wird.“
Sich durchaus nicht getroffen fühlend, lachte sie vergnügt auf, so dass er ihre Zähne blitzen sah. Dann sagte sie gelassen: „Ich irre mich nie, mein Herr. Unser ganzes Leben besteht aus einer Kette von Erfahrungen, und ich trage sie unsichtbar mit mir herum.“
„Was für Erfahrungen mögen das sein?“ war sein Gedanke, als er sie abermals musterte. Sie war nur wenig kleiner als er, aber kräftig und fest gebaut. Trotzdem hatte sie einen leichten, fast schwebenden Gang, was ihm mehrmals auffiel. Kaum, dass er ihren Tritt hörte, während sie, immer zu seiner Rechten, mit ihm langsam dahinschlenderte. Abermals schwieg er sich aus und suchte aufs neue nach Worten. Fast verspürte er einen männlichen Zug in ihr, der aber sofort wieder verdrängt wurde durch den Schmelz ihrer Stimme, der etwas von einem vollen Glockenton hatte. Sie sprach schön und klar, als wäre sie auf jedes Wort vorbereitet. Und wenn sie ihre Hand dabei bewegte, so geschah es ungezwungen, wie in anerzogener Schönheitsform.
Alles das nahm er voll Interesse wahr, während er still gegen diese Art der Überlegenheit ankämpfte, die ihn zugleich anzog und doch seinen Unmut erweckte.
„Verzeihen Sie, wenn ich nochmals darauf zurückkomme,“ begann er wieder. „Weshalb soll ich gerade die Absicht gehabt haben, Sie einzuholen?“
Sie lachte abermals leicht auf. „Das haben Sie noch nicht verschmerzt? Mein Gott, das ist sehr einfach —: Sie konnten eben keine andere Begleitung finden. Und die mussten Sie doch haben. Ich bin nicht so eitel anzunehmen, dass Ihr Interesse meiner Person galt. Stellen Sie sich vor, Sie wären einem alten Grossmütterchen begegnet. Wären Sie nicht ebenso zufrieden gewesen?“
Es ärgerte ihn wieder, dass sie ihn wie einen durchsichtigen Glasmenschen behandelte, aber er unterdrückte seinen Groll und zwang sich zur Höflichkeit. „Ich will Ihnen nicht unrecht geben, mein Fräulein.“
„Nun, sehen Sie. Ich treffe immer das Richtige. Leute, die Ihr Leiden haben, suchen um jeden Preis Gesellschaft,“ fuhr sie lebhaft fort. „Dann fühlen sie sich sicherer. Sind sie wieder allein, beginnt aufs neue der alte Zustand. Immer grübeln sie über ihr Leiden und kriegen’s mit der Angst. Das ist aber alles nicht so schlimm. Wenn nur der Organismus gesund ist, und hoffentlich ist’s bei Ihnen der Fall. Vor allem dürfen Sie nicht die Einsamkeit aufsuchen. Und dann meiden Sie nervöse Menschen, denn so etwas steckt an.“
Er glaubte seinen Arzt zu hören, der ihm schon vor Wochen dieselben Ermahnungen erteilt hatte, als er zu ihm von einem „Knacks“ sprach, den er eines Tages wegbekommen könnte. Und so fühlte er sich verpflichtet, für ihre Ratschläge zu danken. Er träfe sich sonst immer mit einigen Herren hier im Grunewald, gerade heute aber habe er das Pech gehabt, niemand von ihnen zu sehen, da er mit einem späteren Zug gefahren sei.
Ihr Gespräch stockte wieder, und so erging er sich in Gedanken über dieses merkwürdige Zusammentreffen, durch das er heilsame Lehren empfing. Mit dem Trost, den sie ihm gab, liess sie auch gleich eine schlimme Aussicht durchblicken. Ein leises Grauen packte ihn, als er daran dachte, das gewisse wohlige Gefühl, das er jetzt empfand, könnte schon in der nächsten Stunde in das gerade Gegenteil Umschlagen.
„Es wird heute früh dunkel,“ unterbrach er dann das Schweigen, als mit der Dämmerung im Walde die Stämme hinten sich nur noch wie Schatten verwoben.
„Ja, die Sonne ist hinter den Wolken untergegangen,“ erwiderte sie, wobei ihre Fussspitzen mit einer Wurzel in unangenehme Berührung kamen. Unwillkürlich streckte er die Hand nach ihr aus, um sie vor dem Stolpern zu bewahren.
Sie dankte mit einem leichten Lachen, wich ihm aber sofort aus, was er als einen Wink aufnahm, das zweite Mal eine voreilige Hilfe zu unterlassen. Er hörte, wie ihr Atem schneller ging, und so malte er sich in seiner Einbildung aus, sie könnte plötzlich errötet sein bei dem Drucke seiner Hand, unter dem er die Rundung eines vollen Armes verspürt hatte.
Zum erstenmal blieb sie stehen, dabei vernahm er, wie sie mit grossen Zügen die Luft einsog. Dann sagte sie: „Ich habe den Kiefernduft zu gern. Namentlich nach einem Regen. Sie sollten auch noch ein paar kräftige Züge nehmen. Das ist gesund für die Nerven. Wie lange dauert’s, und man muss wieder die stickige Luft in den Strassen atmen.“
Er glaubte ihr einen Gefallen tun zu müssen, und so tat er dasselbe wie sie.
Näher erschallte das Fauchen der Lokomotive, deren leichten Pfiff man vernahm, und vor ihnen in der Ferne lag nun der schwache Schein der beginnenden Lichtung.
„Lieben Sie Berlin?“ sagte sie dann wieder, als sie weitergeschritten waren.
„Manchmal hasse ich es,“ gab er zurück, um ihren Widerspruch herauszufordern. „Es zerreibt die Kräfte mehr als jede andere Stadt.“
„Aber es hat einen grossen Vorzug,“ sprach sie weiter, „man kann nirgends einsamer sein als unter einer Million Menschen, die man nicht kennt und von denen man nicht gekannt wird. Dabei hat man das schöne Gefühl, niemals allein zu sein. Das werden Sie auch schon noch empfinden — gerade jetzt bei Ihrem Leiden. Passen Sie auf.“
„Und doch gehen Sie hier allein spazieren,“ wandte er ein.
„Um neue Kräfte für den täglichen Kampf zu sammeln. Und ich liebe diesen täglichen Kampf, weil man an ihm seine Kraft erproben kann. Das wird Ihnen vielleicht etwas wunderlich klingen, weil eine Frau es sagt, aber es ist so. Es wird jetzt soviel von dem sogenannten Milieu gesprochen, das die Menschen umwandle. Das sagen immer diejenigen, die für ihre Energielosigkeit eine Entschuldigung haben wollen. Ich bleibe dabei, dass der Wille alles macht, vorausgesetzt, dass ein gesunder Organismus vorhanden ist. Willensstärke gibt auch Seelenreinheit. Der Mut ist immer der bessere Teil der Kraft.“
Weshalb sagte sie das alles gerade ihm? Hatte sie schon so manchen Spezialfall erlebt, aus dem sie die Berechtigung herleitete, ihre Erkenntnis in kleinen Dosen zum besten zu geben? Gar zu gern hätte er etwas Näheres darüber erfahren, er machte auch mehrmals während der gleichgültigen Unterhaltung, die nun folgte, eine dahinzielende Wendung, der sie aber jedesmal geschickt auswich. Sie schien keine Neigung zu haben, auf ihre Verhältnisse einzugehen.
„Hätten Sie sich nicht gefürchtet, allein zum Bahnhof zu gehen? Es ist doch bereits finster geworden,“ sagte er plötzlich, weil er schon längst darauf zurückkommen wollte.
„Fürchten? Weshalb? Ich habe ja gesunde Nerven.“
Er schwieg. Am liebsten hätte er ihr gesagt, dass sie zu beneiden sei, aber er dachte es nur und verlor sich in Gedanken.
„Es ist auch nur der reine Zufall, dass es heute so spät geworden ist,“ fuhr sie währenddessen fort. „Ich weiss wohl, dass es nicht gerade angenehm auffällt, wenn eine Dame allein so weite Spaziergänge macht, aber ich bin nun mal ganz selbständig. Auch in solchen Dingen. Früher ging ich oft mit meinem seligen Vater, aber nun — —.“
Er glaubte einen ähnlichen leichten Seufzer zu vernehmen, wie sie ihn bereits im Forsthause ausgestossen hatte. Ohne Zweifel musste sie stillen Kummer haben, den sie aber tapfer zu verbergen trachtete. Er wusste nicht, wie es kam — aber es war ihm nicht unangenehm, dass der „ältere Herr“, von dem die Frau Förster gesprochen hatte, jedenfalls der Verstorbene gewesen war.
Sie habe sich übrigens heute mit einer anderen Dame verabredet gehabt, die aber plötzlich verhindert gewesen sei, fuhr sie fort. Sie habe aber dabei nicht viel verloren, denn die Betreffende sei etwas geschwätzig, und das verderbe ihr manchmal die ganze Stimmung. Der Weg bis zum Teufelssee sei in der Regel immer belebt, und sie wundere sich selbst, dass sie heute so wenig Menschen begegnet sei. Die lieben Berliner wüssten eben gar nicht, was sie auch in der Woche an ihrem Grunewald hätten.
Hauff gab ihr zu verstehen, dass sie sich, falls sie Lust dazu hätte, getrost den Herren anschliessen könnte, mit denen er sonst hier seine Wanderungen unternehme. Es seien allerdings einige alte Brummbären darunter, mit denen sie schon vorliebnehmen müsste.
Sofort fiel sie ihm mit der Bemerkung ins Wort, dass er gar nicht wissen könne, ob er in den nächsten Tagen den Mut finden werde, den Wald wieder aufzusuchen. Mit den Nervenanfällen sei es wie mit dem Feuer, das man scheue, wenn Man sich einmal verbrannt habe. Man meide den Ort, wo einem so etwas passiert sei. Die Zukunft würde ihm beweisen, dass sie recht gehabt habe.
„Ich danke Ihnen jedenfalls sehr für Ihre Liebenswürdigkeit,“ schloss sie. „Wenn der Zufall es einmal so macht, will ich mich Ihnen gern anschliessen. Hoffentlich dulden mich dann die Herren ein wenig.“
„Aber ich bitte Sie —!“ wandte er zur Beruhigung ein.
„Bitten Sie lieber nicht, Sie könnten bei der Majorität doch auf Widerstand stossen.“
Sie hatten die Lichter des Bahnhofs vor sich und mussten sich nun beeilen, um den Zug noch zu erreichen. Der Zufall wollte es, dass sie allein in einem Wagenabteil zweiter Klasse fuhren. Sie hatte ihm gegenüber Platz genommen, und als sie den Schleier wieder über den Hut schob, weil sie es nach dem andauernden Gehen warm fand, hatte er jetzt erst Gelegenheit, sie im hellen Lichte aufmerksam zu betrachten. Der flüchtige Eindruck, den er von ihr im Forsthause empfangen hatte, war verwischt, und so wunderte er sich nun, sie ganz anders zu finden, als wie er sie sich im Dunkel des Waldes ausgemalt hatte.
Entschieden hatte sie etwas Kluges in ihrem Gesicht, was auch die auffallende Weichheit ihrer Linien nicht verdrängen konnte. „Ich hätte sie mindestens für Dreissig gehalten,“ dachte er, „aber sie kann doch höchstens Mitte der Zwanzig sein. Das macht wohl die Art ihres Auftretens.“
Während sie an ihren Handschuhen nestelte und den Blick dabei gesenkt hielt, so dass er die langen, seidenartigen Wimpern bewundern konnte, setzte er seine heimliche Beobachtung fort. Die Base war vielleicht zu wenig fein, der Mund nicht klein genug, um für tadellos schön zu gelten, dafür aber war der Schwung der Lippenlinien edel und herausfordernd. „Zum Küssen“, fügte er seiner Gedankenbeschreibung hinzu. Das Ohr war zierlich und anliegend, so dass es ihm wie eine rosige Fleischmuschel erschien. „Auch Kinn und Hals sind ganz mollig,“ dachte er weite.
Am meisten gefiel ihm die Zartheit ihrer Gesichtsfarbe, in die das Laufen die gesunde Wangenröte getrieben hatte. Fürwahr, es war ein merkwürdiger Typus, über den er als Kunstschriftsteller nicht so leicht hinwegkommen konnte. Sie erschien ihm wie ein Gemisch von Weib und Kind — wie eines jener seltsamen Geschöpfe, deren Äusserungen dem Aussehen ganz widersprechen. Wenn sie schwieg, glaubte er sie für unbedeutend zu halten, sprach sie dann aber in ihrer gemessenen, wohlüberlegten Weise, so hätte er am liebsten die Augen schliessen mögen, um sich in der Einbildung zu wiegender habe eine reife, lebenskundige Frau vor sich.
Ihre Hände machten ihm besonders zu schaffen. Sie hatte die Handschuhe abgestreift und in ihren Schoss gelegt. Da sie die Empfindung hatte, dass ihr der Hut nicht recht sitze, so nahm sie ihn ab, nachdem sie sich vergeblich bemüht hatte, die lange Nadel gefügiger zu machen. Glänzend-braunes Haar leuchtete ihm entgegen, das in der Mitte glatt gescheitelt war, sich nach den Ohren zu leicht kräuselte und am Hinterkopf in einen üppigen Flechtenkranz auslief. Während sie mit der Hand darüber hinfuhr und den losen Knoten fester steckte, kamen ihm die beweglichen Finger wie weisse Schlangen vor, die sich durcheinander wühlten. Fast aufdringlich musterte er sie, so dass er vermeinte, ihre Rote setzte sich bis in die Stirn fort, als sie sich beobachtet fühlte.
„Was für schöne Hände Sie haben,“ sagte er unwillkürlich, hingerissen vom Schauen, „ein Maler könnte seine Freude daran haben.“
„Meinen Sie? Dann muss ich sie mir selbst einmal ansehen.“ Mit einem kurzen Lachen brachte sie beide Handflächen zusammen und musterte sie mit der Neugierde eines Kindes.
Sie erschien ihm plötzlich freundlicher, nicht mehr so würdevoll wie im Waldes weicher und weibischer in ihrem Wesen. „Die Gioconda von Leonardo da Vinci hat solche Hände.“
„Ach was. Nie etwas davon gehört.“
„Gerade so spitz auslaufend, geschmeidig, fast ohne Knochen.“
„Finden Sie das schön?“ fragte sie zurück, indem sie die Hände rasch wieder erhob.
„Ich muss wohl, sonst würde ich es nicht sagen.“
„Sie malen wohl nebenbei auch?“
„Ich interessiere mich wenigstens für Kunst,“ gab er herausfordernd zurück, da er in ihrem Lächeln leichten Spott zu bemerken glaubte.
„So schreiben Sie wohl darüber?“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Ich nehme es an. Sie haben so etwas, wie soll ich sagen — so etwas Kritisch-Spintisierendes.“
„Danke für gütige Anerkennung.“
„Es wird Ihnen zwar nicht recht sein,“ fuhr sie fort, „aber ich kann mir nicht helfen: ich habe keine grosse Meinung von den Kritikern. Ich sehe lieber aufbauen, als herunterreissen.“
„Gut gesagt.“
„Kritiker sind in der Regel unproduktive Menschen. Sie wollen immer mehr sehen als andere und entdecken lieber Schwächen als Vorzüge.“
„Dann müsste ich eigentlich in Ihren Augen ganz bedeutend steigen,“ wandte er ein, „denn ich habe an Ihnen bisher nur Vorzüge entdeckt. Zum Beispiel, was die Hände anbetrifft.“
„Ach gehen Sie doch mit meinen Händen.“ Trotzdem sie die Lippen aufwarf und die Unwillige spielte, schien sie innerlich von seinen Worten nicht unangenehm berührt zu sein. Das schloss er daraus, dass sie die weissen Finger aufs neue in ihrem Haar spielen liess.
„Wenn das Koketterie sein soll, dann ist es jedenfalls eine süsse,“ dachte er und musste sich dabei gestehen, dass ihr Kopf mit dem ovalen Gesicht schöne, abgeschlossene Linien zeige. Nun, da ihr Scheitel frei war, sah er plötzlich ein anderes Bild, das lichten Mädchenschimmer trug. Er zerbrach sich den Kopf, wo er es schon gesehen haben könnte. Nicht in der Wirklichkeit, aber von irgend einem alten Meister wieder gegeben, er wusste nur nicht von wem. Giovanni Bellinis Madonnen mit ihren verschleierten Augen schwebten ihm vor. Das willensstarke Kinn fiel ihm ganz besonders auf. Vorher, als sie den Hut noch trug, war es ihm etwas zu massiv erschienen, nun aber passte es sich wohlgefällig dem schöngerundeten Oberkopf an. Wie so ein dummer Hut doch entstellen konnte. Und sofort malte er sich in seiner erregt gesteigerten Phantasie aus, wie alle Madonnen verlieren würden, wenn man plötzlich auf die verrückte Idee käme, ihnen die Hirnauswüchse der Putzmacherinnen durch die Farbe aufzudrängen. Unwillkürlich geriet er in stille Heiterkeit darüber, so dass sie ihn fragte, worüber er lache.
„Über den Witz unserer Kultur,“ erwiderte er. „Ich stellte mir soeben die himmlische Sixtina mit einer Wippe vor.“
„Und darauf sind Sie gewiss durch den Anblick dieser alten Kiepe gekommen. Gestehen Sie es nur ein.“
„Offen gestanden, ja,“ gab er verlegen zurück, wieder erstaunt über ihren Scharfblick. „Das heisst, ich finde den Hut noch sehr schön, aber wenn man solches Seidenhaar hat, ist es eigentlich eine Sünde, es zu verdecken.“
„Nun aber gerade.“ Lachend steckte sie den Hut wieder fest und zog den Schleier herunter. „Für den Grunewald geht er noch immer,“ sagte sie dabei, während er sich beeilte, ihr zur Beruhigung zu verstehen zu geben, dass er ihre Auffassung darüber nicht teilen könne.
„Ach, das glauben Sie ja selbst nicht,“ hielt sie ihm kurz entgegen, griff zu ihren Handschuhen und glättete sie, ohne jedoch Miene zu machen, sie überzustreifen. Sie schien verletzt zu sein, und so machte er den Versuch, sie durch neues Plaudern zu versöhnen. Als sie aber einsilbig blieb, nahm er sich vor, ein anderes Mal nicht zu vergessen, dass man den Hut einer Dame nicht ungestraft lästern dürfe.
Schweigend blickten sie in den dunkeln Abend hinaus und liessen die irrenden Lichter an sich vorüberziehen, die dem Zug entgegenzuwandern schienen, bis sie hinter den Bäumen ganz verschwanden oder durch das Laubwerk wie zerstreute Funken blinzelten.
Halensee tauchte auf, und die erleuchteten Fenster winkten wie ein kleines Sternenmeer, das in der Luft lag. Dann wurde der Horizont lichter, Berlin sandte seine nächtliche Helle voraus, die wie der falsche Glorienschein einer grossen Sünderin über der Stadt lag. Durch die Spalte des wenig geöffneten Fensters drang die Luft nicht mehr so kühl und rein wie zuvor, man merkte bereits den wärmen Odem des Häuserriesen, der seine Fühlhörner bis weit in das Land hinausstreckte.
„Nun, fühlen Sie sich schon besser?“ fragte sie wieder.
Ihr Sprechen tat ihm wohl, und so nickte er stumm. In Wahrheit kam er sich plötzlich unbehaglich vor, da er in seiner Vorstellung wieder im Walde war. Seine Gedanken wurden nicht mehr abgelenkt, und so machten sich seine Nerven wie ein grosses Heer unruhiger Gespenster bemerkbar. Das Geräusch des Zuges klang ihm widerlich in den Ohren und erzeugte den alten dumpfen Druck unter seinem Schädel.
„Nur nicht über Ihren Zustand grübeln, das verschlimmert die Sache,“ fuhr sie fort, als sie sein jähes Aufatmen bemerkte und nun sah, wie er sich wieder hastig mit der Hand über die Stirn fuhr.
„Das sagen Sie so, mein Fräulein.“
„Sie müssen immer denken, dass Ihnen nichts passiert und dass alles nur Einbildung ist. Dann werden Sie es auch bald überstehen. Überwinden heisst die Parole.“
Sie sprach weiter auf ihn ein, gütig und milde, und sah ihn dabei unausgesetzt mit ihren grossen Augen an, als wollte sie wie ein Arzt sein Aussehen prüfen. Und er fühlte den bestrickenden Reiz, der von ihren Worten ausging und ihm aufs neue wie Beruhigung dünkte.
Am Bahnhof Zoologischer Garten stiegen neue Fahrgäste ein, so dass sie nicht mehr so offen sprechen konnten. Am liebsten hätte er diesen gleichgültigen Leuten zu verstehen gegeben, sie möchten sich gefälligst in den nächsten Abteil bemühen, denn dort sei auch noch Platz genug. Der Anblick der fremden Gesichter steigerte die Unruhe in ihm, und so empfand er immer beängstigender den Wechsel zwischen der anfänglichen Stille und dem Geräusch der Grossstadt, deren hundertfältige Lebensfülle wie ein unruhiges Grollen hereindrang.
Die Luft im Wagen erschien ihm nun drückender, gleichsam zersetzter durch die Nähe anderer Menschen. Und dieses lastende Gefühl, das er vordem niemals so stark empfunden hatte, steigerte sich noch, als auf den beiden nächsten Stationen immer mehr Fahrgäste einstiegen, so dass der Wagenabteil plötzlich überfüllt war. Er roch förmlich die Menschen, von denen er sich einbildete, sie seien eigentlich nur dazu da, seine Stimmung zu verschlechtern. Ihre Bewegungen, ihr Räuspern brachten ihn in Verwirrung, so dass er diese Unruhe hundertfach auf sich übertragen fühlte.
Als er bemerkte, dass seine Bekanntschaft sich am Lehrter Bahnhof von ihm verabschieden wollte, stieg er ebenfalls aus, unter dem Vorgeben, auch an seinem Ziele zu sein. Eigentlich hätte er bis zur Friedrichstrasse fahren müssen, aber es war merkwürdig: wie ein dunkles Etwas, das er nicht zu beschreiben vermocht, hätte, packte ihn die Furcht vordem Alleinsein.
„Also nochmals, Herr Doktor — Kopf oben behalten,“ sagte sie, als sie sich unten am Ausgange von ihm verabschiedete.
„Ich werde Ihre Verordnungen gehorsamst befolgen,“ sagte er, sich zu einem Lächeln zwingend, „mein Wort darauf.“
Einer schnellen Eingebung folgend, ergriff er ihre Hand und drückte sie leicht. Er empfand das Bedürfnis, sie an seine Lippen zu ziehen, aber rasch entzog sie sie ihm mit einem „Nicht doch“, so dass er nur die trockene Wärme der zarten Finger einige Augenblicke verspürte.
„Ich würde mich sehr freuen, Ihnen wieder einmal zu begegnen,“ fügte er hinzu. „Darf ich hoffen?“
„Überlassen wir es dem Zufall. Also vielleicht auf Wiedersehen.“
Sie nickte ihm freundlich zu und entfernte sich rasch, und er blickte ihr nach wie jemand, der einen angenehmen Menschen von sich gehen sieht, von dem es ihm leid tun würde, ihn niemals mehr zu sehen.