Читать книгу Die Madonna vom Grunewald - Max Kretzer - Страница 9
Viertes Kapitel.
ОглавлениеInzwischen erfreute sich Doktor Nelius’ Auge an den Liebhabereinbänden der Bibliothek, die in einem grossen, offenen Regal fast die ganze mächtige Hinterwand des Arbeitsraumes einnahm. Das tat er jedesmal, sobald er bei Hauff anwesend war. Er gehörte zu den unruhigen Geistern, die sich, um ganz bei der Sache zu bleiben, immer mit nebensächlichen Dingen beschäftigen müssen. Aber seine Nervosität war von jener harmlosen, ungefährlichen Spielart, die bei geistigen Berufsmenschen während des Winters eigentlich nur auftaucht, um durch die sechswöchentliche Erholungsreise im Sommer vertrieben zu werden, bis sie allmählich wiederkehrt.
Doktor Nelius war ein eleganter, zur Korpulenz neigender Herr, nicht über die Mittelgrösse hinausragend, der stets auf tadellose Kleidung hielt und mehr eitel auf seinen wohlgepflegten, stark entwickelten Blondvollbart sein durfte als auf seinen Schädel, der nur noch von einigen verlassenen Härchen getrübt wurde. Beides passte aber vortrefflich zusammen, denn man hätte sich diese Glatze nicht ohne Bart und diesen Bart nicht ohne Glatze vorstellen können.
Er hatte, da er reich mit Mitteln ausgestattet war, als Junggeselle und Assistenzarzt einer bedeutenden medizinischen Grösse etwas flott gelebt, war dann aber schon als Dreissigjähriger in die Ehe gesprungen und wiegte sich nun bereits in dem Stolz eines „vierfachen“ Vaters. Von Natur aus witzig veranlagt, trug er beizeiten grosse Offenheit zur Schau, die ihn bei vielen seiner „eingebildeten Kranken“ gefürchtet gemacht hatte. Trotzdem besass er viel Gemüt, das er bei seinen ärmeren Patienten in einen regen Wohltätigkeitssinn umzusetzen pflegte.
Nach einigen Minuten stellte er den Prachtband wieder in die entstandene Lücke, entledigte sich seines Frühjahrpaletots und ging dann nachdenklich in dem grossen Balkonzimmer umher, ohne all die Dinge weiter zu betrachten, die er hier bereits unzähligemal gesehen hatte: den prächtigen Stich der Schule von Athen Raphaels über dem Schreibtisch, den mächtigen Zeuskopf, der die Bibliothek krönte, eine gelungene Ölkopie der Hexe von Franz Hals, die oben aus der einen Wandecke des Zimmers herauszuspringen drohte, und die vielen anderen grossen und kleinen Kunstgegenstände, die überall umherstanden und hingen, wo nur Platz dazu war.
Es sah sehr zwanglos-künstlerisch in diesem Zimmer aus, in dem Hauff alles zusammengetragen hatte, was sein Vermögen ausmachte und ihm das Geistesbrot seines Berufs war: Aufmerksamkeiten befreundeter Maler und Bildhauer („ohne Bestechung“, wie er scherzend zu sagen pflegte), kleine Erinnerungen von zarten Frauenhänden, den massiv geschnitzten Arbeitstisch, den antiken Lutherstuhl, das Pantherfell zu Füssen, die beiden alten Glasmalereien, die die Höhe der Fensterscheiben nicht ganz erreichten, und einen hübschen Rauchtisch im japanischen Stil —, ein Weihnachtsgeschenk der „Pikanten“, mit der schönen Widmung auf der Platte: „Nimmst du mich, so hast du mich“, was eigentlich sehr doppelsinnig klang, trotzdem es ein Selbstbestimmungsspruch der Zigarren sein sollte.
Es roch nach „Kunst und Persönlichkeit“, wie Doktor Nelius diese Stimmung näher bezeichnete. Augenblicklich hatte er aber keinen Sinn dafür, denn seine Gedanken bewegten sich in einer ganz anderen Richtung, trotzdem er zum zweitenmal an die Bibliothek getreten war und nun ein anderes Buch für würdig hielt, seinen goldstrotzenden Rückentitel von ihm betrachten zu lassen.
Der Zustand Hauffs machte ihm Sorge. Er würde sich aber hüten mit der ganzen Wahrheit herauszurücken, denn er wollte bessern und nicht verschlimmern. Während er noch darüber nachdachte, trat Hauff, seine Haussammetjoppe an, ein seidenes Tuch lose um den Hals geschlungen, hastig herein, so dass er die Tür förmlich hinter sich zuschlug.
„Na, Sie tun ja gerade so, als verfolgte Sie jemand,“ sagte Nelius heiter.
„Es war auch beinahe so. Wissen Sie, es ist merkwürdig —, ich konnte plötzlich nicht mehr allein im Zimmer bleiben.“
„Trinken Sie nur erst Ihre Mehlsuppe, dann werden Sie schon ruhiger werden,“ gab der Arzt trocken zurück.
Es hatte geklopft, und die Frau Rechnungsrat trat ein, die es sich heute nicht nehmen lassen wollte, selbst einmal aufzuwarten, um sich zugleich nach dem Befinden ihres Mieters zu erkundigen. Es gab einige beruhigende Redensarten, wonach die beiden Freunde wieder allein waren.
„Sie können gut scherzen,“ sagte Hauff wieder, während er sich über die erste Tasse mit einem Gesicht hermachte, von dem sich der Arzt eine Momentaufnahme wünschte. „Kriegen Sie erst einmal solchen Zustand.“
„Was für einen Zustand denn?“ fragte Nelius gut geheuchelt zurück. „Sie halten sich wohl für krank?“
„Selbstverständlich, mein Bester. Sehen Sie sich doch einmal meine blauen Lippen an. Wenn das noch nichts sein soll —.“
„Blaue Lippen. Wo denn? Sie waren doch sonst nie so farbenblind? Soviel ich sehen kann, haben Sie die schönsten roten Lippen von der Welt. Ich wollte, ich hätte immer solche.“
„Sie werden mich darüber nicht hinwegtäuschen können. Sehen kann ich wenigstens noch, und der Spiegel im Schlafzimmer hat sehr weisses Glas.“
„Das konnte ich mir ja denken, dass Sie sich eingehend beäugeln würden,“ sagte Nelius lächelnd. „Nehmen Sie sich um Gotteswillen vor der Spiegelkrankheit in acht. Das ist die gefährlichste ... Sitzen geblieben! Sonst wird die Suppe kalt.“
Hauff hatte sich erhoben mit der unverkennbaren Absicht, einen kleinen Stellspiegel herbeizuholen, der auf einem Notenständer neben dem Schreibtisch stand. Sofort drückte ihn der Arzt auf die Sofaecke nieder, indem er fortfuhr: „Daraus wird nichts, lieber Freund und Kupferstecher. Sie haben mir zu glauben und nicht Ihrem getrübten Blick. Das bitte ich mir von heute ab ein für allemal aus. Sonst nehme ich die Feder in die Hand und schreibe ein Feuilleton über farbenblinde Kunstkritiker, die als solche das Publikum jahrelang getäuscht haben.“
„Sie behandeln mich ja heute ausserordentlich liebenswürdig, erwiderte Hauff, indem er sich zur Heiterkeit zwang.
„Es soll ja erst losgehen, lieber Freund.“
„Aber wenn Sie meinen, dass mein Blick heute getrübt sei, will ich mich Ihnen gern fügen,“ fuhr Hauff unbeirrt fort. „Es ging mir schon gestern abend so, die Häuser standen, und sie standen auch nicht.“
„Na, sehen Sie ...“
„Ich glaubte, verrückt zu werden.“
„Bilden Sie sich nur nicht solche Torheiten ein. So ’was dürfen Sie überhaupt gar nicht aussprechen — es ist strafwürdig.“
„Man kann doch nur einen Zustand schildern, wie man ihn empfindet. Und das tut man am besten durch das allein zutreffende Wort.“
„Dann sage ich Ihnen als Arzt, dass Sie von medizinischen Seelenzuständen so gut wie gar nichts verstehen,“ fiel ihm Nelius trocken ins Wort. „Das Verrücktwerden sieht man nicht kommen. Verrückt wird man, ohne dass man es weiss. Dafür lasse ich Ihnen meinen Kopf zum Pfande.“
„Das wäre ja entsetzlich, lieber Doktor. Was sollte meine Wirtin sagen, wenn sie Sie so herauslaufen sähe.“ Er lachte leicht auf, so dass der Arzt mit einfiel.
„Sie können noch Witze machen, ei, sehen Sie mal an. Und dann tun Sie wunder wie schwer krank Sie seien?“
„Bei solcher Mehlsuppe muss einem ja der Galgenhumor kommen.“
„Gefällt mir sehr. Trinken Sie also getrost noch die dritte Tasse. Und dann wollen wir einmal vernünftig reden.“
Hauff erzählte umständlich alles das, was ihm am Nachmittage des vergangenen Tages passiert war, auch die Begegnung mit der unbekannten Dame erwähnte er, aber nur oberflächlich, soweit es für den Arzt von Interesse sein konnte. Doktor Nelius unterbrach ihn fortwährend, was Hauff bei sich unausstehlich fand, da er seinen Bericht in eine gewisse novellistische Form gekleidet hatte, wodurch er sich mit einem Schimmer des Martyriums umgeben glaubte. Er hielt sich wirklich für schwer krank, und so vermochte er nicht zu begreifen, dass der Arzt nicht sofort in eine Trauerhymne ausbrach. „Sie finden das wohl noch lächerlich, lieber Freund?“ fragte er etwas erbost.
„Wieso?“
„Nun, Sie lächeln ja fortwährend.“
„Über Ihre Behauptung, dass Sie schwer herzleidend seien.“
„Bin ich auch — seit gestern.“
„Doch nicht infolge der neuen Damenbekanntschaft?“
„Machen Sie doch nicht solche Witze! Mein Herz schlägt mir tatsächlich bis zum Halse, und im Kopfe ist mir ganz dumm. Ich fürchte einen Schlaganfall.“
Doktor Nelius lachte schallend auf. „Alles Rache Ihres Magens für die schlechte Behandlung, die Sie ihm haben zuteil werden lassen. Ich habe Ihnen schon früher einmal gesagt, dass die Magennerven kleine Bestien sind.“
„Davon habe ich auch den ergiebigsten Gebrauch gemacht. Sogar die biederen Waldarbeiter wissen es schon.“
„Diese kleinen Bestien rächen sich nun,“ fuhr Nelius fort, „sie telegraphieren ans Herz, und das Herz gibt die Depesche ans Gehirn weiter.“
„Sehr poetisch ausgedrückt.“
„Aber auch sehr naturalistisch.“
„Und was steht in dieser Depesche?“
„Dass die kleinen Bestien die subtilste Behandlung verlangen, um die Bewohner der beiden oberen Etagen in Ruhe zu lassen. Das heisst mit anderen Worten, Sie müssen so diät als möglich leben. Und nun, bitte, ziehen Sie einmal die Kleedage ab.“
Doktor Nelius setzte sein Hörrohr an, lauschte aufmerksam, beklopfte den Oberkörper hinten und vorn und schmunzelte befriedigt. „Alles in Ordnung. Sie können ganz beruhigt sein,“ sagte er dann, „nur das Herz hat zuwenig Energie. Ein bisschen Magenerweiterung, aber das wollen wir schon kriegen ... Immer ruhig, immer ruhig! Deswegen brauchen Sie nicht gleich aufzufahren. Sie leiden hauptsächlich an nervöser Dyspepsie.“
„Was ist denn das?“
„Eigentlich Verdauungsschwäche, eigentlich auch nicht. Das ist ja auch ganz Nebensache, die Patienten brauchen nicht alles zu wissen. Die Hauptsache ist, dass Sie alles befolgen, was der Arzt Ihnen verordnet.“
„Sie sind bezaubernd gütig.“
„Wie immer,“ gab Nelius spöttisch-verbindlich zurück.
„Und es wird mir wirklich nichts passieren?“
„Was sollte Ihnen passieren? Wenn Sie alles das tun, was ich Ihnen verordne, kann Ihnen mit derselben Sicherheit etwas passieren, mit der ich etwa die Treppe herunterfalle oder von einem Omnibus überfahren werde. Hoffentlich sind Sie nun zufrieden. Und plagen Sie sich nicht mit Einbildungen, denn die Einbildungen sind Ihr gefährlichster Feind. Den müssen Sie vor allem überwinden, dann wird auch das andere allmählich kommen. Verschreiben tue ich Ihnen vorläufig nichts. Sie sind auf natürlichem Wege krank geworden und sollen auf demselben Wege auch wieder gesund werden. Hoffentlich sind Sie nun von meiner guten Meinung für Sie überzeugt.“
„Ich würde Sie küssen, Doktor, wenn Sie ein hübsches Mädchen wären.“
„Derartige Gedanken lassen Sie vorläufig, das rate ich Ihnen ausdrücklich. Beschäftigen können Sie sich, aber höchstens zwei Stunden täglich. Mit dem vielen Arbeiten hat’s vorläufig ein Ende.“
Doktor Nelius war ernst geworden. Er setzte sich an den Sofatisch, machte sich Notizen in seinem Taschenbuch und schrieb dann auf einem Blatt Papier, das er sich ausgebeten hatte, die Diätverordnung nieder. Plötzlich sprang er auf. Hauff hatte die Gelegenheit benutzt, sich wieder an den kleinen Spiegel zu stehlen, den ihm nun Nelius entriss. „Ja, wenn Sie nicht auf mich hören wollen, dann suchen Sie sich, bitte, lieber einen anderen Arzt,“ sagte er mit gemachter Wut. „Begucken Sie sich lieber in Ihren Kupferstichen, das zerstreut. Und zerstreuen sollen Sie sich ... Das Glas wird konfisziert und Ihrer Wirtin übergeben, die es bei Todesstrafe einschliessen muss.“
„Vielleicht lassen Sie die Wandspiegel auch einschliessen,“ fiel ihm Hauff ärgerlich ins Wort.
Doktor Nelius lachte. „Die können Sie wenigstens nicht in die Hand nehmen. Und so dicht können Sie sich darin auch nicht beäugeln. Aber wenn Sie wollen, kann ich sie auch verhängen lassen. Dann machen Sie es einfach wie die alten Deutschen. — Sie bespiegeln sich im Wasser, wenn Sie sich kämmen wollen.“
„Wissen Sie, Sie sind ein schrecklicher Herr.“
„Ich will Sie gesund machen, das ist das Ganze.“
Hauff setzte sich wieder, und Nelius erläuterte ihm die Verordnungen, denen er sich von jetzt ab täglich unterwerfen müsse. Währenddessen ging der Arzt seiner sonstigen Gewohnheit gemäss durch das Zimmer und nahm bald diesen, bald jenen Gegenstand in die Hand, um ihn flüchtig zu betrachten. „Vor allen Dingen müssen Sie wieder ruhig werden,“ schloss er seinen langen Erguss, „deshalb verschreibe ich Ihnen diese Diätkur. Nur leicht verdauliche Sachen essen, wenig, aber öfter. Alle zwei Stunden ungefähr. Sie müssen Ihren Magen wieder grosspäppeln. Das Rauchen stellen Sie vorläufig ganz ein. Und wenn Sie eine Bierkneipe sehen, dann gehen Sie lieber herum. Das Höchste, was Sie sich leisten dürfen, ist ein Glas leichter Mosel ... Hören Sie auch zu, was ich Ihnen sage?“ unterbrach er sich.
„Nein, das kann ich nicht,“ warf ihm Hauff entgegen. „Ihr Herumlaufen macht mich noch kränker. Sie berühren alle Gegenstände und setzen sie auf einen falschen Fleck. Sie sind ja noch nervöser als ich.“
Doktor Nelius blieb stehen und blickte ihn verblüfft an. „Ich, und nervös? Na hören Sie mal — ich bin der ruhigste Mensch von der Welt.“
„Das sagen alle nervösen Menschen.“
„Woher wissen Sie das?“ sagte Nelius diesmal gereizt.
„Aus Ihrem eigenen Munde, Verehrtester.“
Doktor Nelius hielt es für ratsam, in sich zu gehen. Denselben Vorwurf hatte er erst gestern von einem seiner Patienten bekommen, und so stellte er das Herumlaufen ein.
„Übrigens — Sie dürfen niemals vergessen, lieber Freund, dass zwischen nervös und nervenkrank ein grosser Unterschied ist,“ begann er wieder. „Nervosität ist prickelnder Sekt, Nervenkrankheit aber ist stagnierende Bärme, die ja einen verdammten Beigeschmack haben soll. Damit Sie’s wissen! Und nun auf Wiedersehen morgen. Ich werde draussen noch einmal mit der Frau Rat sprechen.“
Er war schon bis an der Tür, als er noch einmal stehenblieb. „Sagen Sie doch — was war das eigentlich für eine Dame gestern?“
„Eine Madonna,“ erwiderte Hauff, weil er sofort wieder an Giovanni Bellini denken musste.
Der Arzt drohte mit dem Finger. „Sie reden schon von einer Madonna. Das ist verdächtig. Ist die alte Wunde schon vernarbt?“
„Madonnen sollen ja Wunder tun,“ gab Hauff zurück, während er sich müde auf den Tisch stützte. Dieser Einfall war ihm durch den Kopf geschossen, eigentlich mehr, um sich herauszureden.
Doktor Nelius lachte laut auf, ohne an den tieferen Sinn der Worte zu denken. „Ah, ich verstehe — Sie wollen neue Heilung für das alte Leiden haben.“ Sofort aber wieder ernst werdend, fügte er nachdrücklich hinzu: „Schlagen Sie sich alle diese Gedanken aus dem Kopf. Denken Sie vorläufig an kein Weib, denn Liebe schafft neuen Kummer, wie ich mal irgendwo von einem grossen Franzosen gelesen habe. Denken Sie nur an sich, denn Ihre Heilung ruht in Ihnen. Die Zeiten der Wunder sind vorüber.“
„Meinen Sie?“
„Ja, das meine ich. Es gibt nur noch ein grosses Wunder, und das ist die Natur. Alles andere ist vom Übel. Das weiss ich als Arzt am besten. Ich habe ja gar nichts dagegen, wenn Sie Ihre Gefühle von den gemalten Madonnen beeinflussen lassen, das soll ja ästhetisch wirken; aber die lebenden lassen Sie hübsch beiseite, es gibt eben keine mehr. Adieu, Sie gläubiger Apostel.“
Er war verschwunden. Hauff stand lange auf demselben Fleck, blickte ihm nach und geriet erst in Bewegung, als die Stimmen seiner Wirtin und des Doktors draussen verhallt waren. Kaum befand er sich fünf Minuten allein, als ihn eine unerklärliche Unruhe aus einem Zimmer ins andere trieb. Er öffnete die Balkontür und trat schliesslich hinaus. Der Anblick der Menschen unten stimmte ihn sicherer. Nun wusste er: nur die Anwesenheit Nelius’ hatte ihn ruhiger gemacht. Unwillkürlich trat er von der Brüstung des Balkons zurück. Merkwürdig — die Strasse erschien ihm heute viel tiefer, gähnender als sonst, so dass er förmlich Schwindel empfand. Und er hatte doch zuvor niemals daran gelitten.
Er flüchtete förmlich ins Zimmer, setzte sich auf das Sofa und versuchte die Zeitung zu lesen, aber die Buchstaben erschienen ihm sonderbar verschwommen. Er bildete sich ein, der Druck sei schlecht, endlich aber kam er dahinter, dass er seit gestern an einem nervösen Flimmern leiden müsse. Er warf das Blatt wieder beiseite und liess sich am Arbeitstisch nieder, um einige notwendige Briefe zu schreiben. Dadurch würde er gewiss auf andere Gedanken kommen.
Aber kaum hatte er die Feder angesetzt, als er eine gewisse Unsicherheit in seiner rechten Hand fühlte, die er vordem nie empfunden hatte. Sonst hatte er kräftige Schriftzüge, nun vermochte er die Buchstaben kaum auszuschreiben, so dass sie wie hingekritzelt aussahen.
„Dein Puls schlägt zu hastig,“ sagte er sich und begann an ihm zu fühlen. Die Neigung zum Weiterschreiben schwand, und er wollte nun alles bis zum Nachmittage aufschieben, wo er jedenfalls ruhiger geworden sein würde.
„Was sind das alles für Zustände?“ dachte er dann, als er aufs neue durch die Zimmer ging, unentschlossen, was er beginnen solle. Sein ganzer Körper schien aus Erregung zusammengesetzt zu sein. Er fühlte an seinem Herzen, das unheimlich rasch schlug, und tödliche Angst erfasste ihn wieder. Er wollte wissen, wie er aussähe, und suchte nach dem Stellspiegel, ohne ihn zu finden. Sicher hatte ihn Doktor Nelius mitgenommen, und so kam ein ärgerlicher Ausruf über seine Lippen.
Er eilte an den Wandspiegel und brachte sein Gesicht dem Glas ganz nahe. Hatte er blaue Lippen? Aber natürlich doch! Zum mindesten waren sie bläulich angehaucht. Er nagte an seinen Lippen, um mit Gewalt dadurch das Blut in Erregung zu bringen, und dabei entsann er sich der Bemerkung der Unbekannten gestern im Walde, dass er an Zwangsvorstellungen leide, und dass dies alles nur durch Willenskraft überwunden werden könne. Lebhaft stand sie vor ihm, mit ihrer Ruhe, ihrer abgemessenen Handbewegung.
Der Drang nach frischer Luft und unter Menschen zu sein, erfasste ihn mächtig. Und damit verknüpfte sich die unbestimmte Sehnsucht, diesem seltsamen Weibe durch einen abermaligen glücklichen Zufall zu begegnen, um ihre Stimme wieder zu vernehmen.
Rasch rüstete er sich zum Ausgehen, wobei er eine Hast entfaltete, als stünden unsichtbare Verfolger hinter ihm, die ihn zur Eile antrieben. Seine Bewegungen waren zerfahren, alles nahm er mehrmals in die Hand, als wüsste er nicht, wozu er es gebrauchen sollte.
Er suchte die Seife, trotzdem sie vor ihm lag, vermisste das Handtuch, das wie immer an der alten Stelle hing, und kramte lange nach dem Anzug, den er heute anziehen wollte. Die kranken Nerven beeinflussten seinen Willen, so dass sein ganzes Tun in Auflösung war. Halb erst fertig, stürzte er wieder in das Arbeitszimmer und dann in den kleinen Nebensalon, weil ihn hier von den Mitbewohnern nur eine Tür trennte. Es war wie eine Flucht vor bösen Geistern, denen er nicht unterliegen wollte.
Schon hatte er die Absicht, nach seiner Wirtin zu klingeln, als er seine Schwäche siegreich überwand. Die Abschiedsworte der Unbekannten fielen ihm ein und das Versprechen, das er ihr gegeben hatte. Merkwürdig, dass er in diesem Augenblicke gar nicht an den Arzt dachte, sondern immer nur an sie, die ihm so grosse Teilnahme entgegengebracht hatte.
„Schäme dich, sei ein Mann,“ hallte es in ihm, und er biss die Lippen zusammen, betrat wieder das Arbeitszimmer und bannte mit Gewalt die folternde Angst. Als es aber klopfte und die Frau Rechnungsrat eintrat, atmete er erleichtert auf. Niemals hatte er die Anwesenheit seiner Wirtin so angenehm empfunden als gerade jetzt, und es schien ihm, als ginge ein gewisser Zauber von dieser alten Dame aus, für deren etwas plump geratene Gesichtszüge er sich nie hatte begeistern können, die ihm nun aber wie die erlösende Sonne entgegenstrahlten.
„Ei, ei, Frau Rat, was haben Sie für eine schöne Haube auf,“ plauderte er los.
„Gefällt sie Ihnen?“ gab sie verwundert zurück, da er sich noch niemals für derartige Dinge interessiert hatte.
„Sehr sogar, Frau Rat. Namentlich das lila Band kleidet Sie prächtig. Sie wissen, auf Farben verstehe ich mich.“
Nun schmunzelte sie geschmeichelt, und sie sah ihm an, dass es ihm ernst damit war.
Er hätte sich über die einfältigsten Dinge mit ihr unterhalten können, nur um auf andere Gedanken zu kommen. So sprach er denn noch weiter, mit einem Redefluss, den sie vorher nie an ihm gekannt hatte. Er wollte sie wenigstens so lange festhalten, bis er hinaus war.
„Sie sind also wieder ganz munter, Herr Doktor? Das freut mich aufrichtig,“ sagte sie abermals. „Ich wusste ja gleich, dass das vorübergehen würde.“
Doktor, Nelius hatte ihr draussen die nötigen Winke erteilt, die sie denn auch getreulich befolgte.
„Es geht mir wieder ganz gut, Frau Rat,“ log er tapfer, um sich selbst Mut zu machen. „Ich sehe doch auch gut aus?“ fügte er hastig hinzu.
„Sehr sogar, Herr Doktor.“
„Ist es auch wahr?“
„Aber Herr Doktor!“
„Wie sehen meine Lippen aus?“
„Rot wie Kirschen.“
Er betrachtete sie misstrauisch, dann aber, als sie auch seine gesunde Gesichtsfarbe pries, glaubte er ihr und plauderte gemütlich weiter. Sie besprachen die Verordnung des Arztes, und dann ging er. Die Mehlsuppe hatte ihm Appetit gemacht, und so wollte er heute früher als sonst das Restaurant aufsuchen, wo er täglich zu speisen pflegte und regelmässig alte Bekannte traf.