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Drittes Kapitel.

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Doktor Hauff wohnte in der Albrechtstrasse, nahe am Schiffbauerdamm. Er hätte es also nicht weit gehabt. Als er aber den Kanal entlang schritt, der Brücke zu, wurde er von einer sonderbaren Vorstellung gefoltert. Dieser Teil der Strasse lag schweigend und dunkel, nur von jenseits des Wassers leuchtete das abenderwachte Berlin herüber, über dem in der Nähe die elektrische Kugel des Lessingtheaters wie ein Stern mit tausend Strahlen hing.

Was geschah? Drohte ihn sein Gedächtnis zu verlassen? Er hatte die Empfindung, die Gegend nicht mehr genau zu kennen, trotzdem er hätte schwören mögen, sie jedermann mit geschlossenen Augen bezeichnen zu können. Sein Blick hatte die Klarheit eingebüsst, Flimmern schwamm vor seinem Auge, und die Einbildung peinigte ihn, seine Sinne könnten sich plötzlich verwirren.

Der Anblick des schwarzen Wassers zu seinen Füssen stimmte ihn noch trauriger, und so eilte er hastig den Lichtern des Lehrter Bahnhofes zu, wo er den Kutscher einer leeren Droschke anrief. Er befahl, rasch zu fahren. Kaum sass er eine Weile drin, so beunruhigte ihn die Enge des geschlossenen Raumes. Er glaubte ersticken zu müssen und atmete erst auf, als er die eine Scheibe heruntergelassen hatte.

„Wenn ich nur erst zu Hause wäre,“ war fortwährend sein Gedanke, als er die Strassenbilder an sich vorüberziehen liess und das Getöse der Wagen mit seinem zitternden Geräusch seine Nerven widerwärtig berührte.

Er bewohnte im zweiten Stockwerk eines alten Hauses drei möblierte Zimmer, die er von der Witwe eines höheren Subalternbeamten abgemietet hatte, die sich mit ihrer angejahrten Tochter durch diese Beihilfe das Leben angenehmer zu machen suchte, da die kleine Pension für beide nicht ausgereicht haben würde.

Die Frau Rechnungsrat Kolbe war eine behäbige, gutmütige Dame, die „ihrem Doktor“, wie sie von Hauff stets sprach, sehr gewogen war, um ihm das Wohnen bei ihr aus erklärlichen Gründen so angenehm als möglich zu machen, und zwar noch mehr seit dem Tage, wo er mit seiner einstigen Braut schlimme Erfahrungen gemacht hatte. Dadurch hoffte sie Gewähr zu haben, ihn noch recht lange als Junggesellen bei sich zu sehen.

„Ich habe Ihnen ja immer gesagt, Herr Doktor, Sie sollen nicht so viel arbeiten,“ sagte sie, als er sich ächzend in einen Fauteuil geworfen hatte. „Vormittags in der Bibliothek, dann die vielen Ausstellungen und schliesslich bis in die Nacht hinein schreiben — das würde kein Riese ausgehalten haben.“

„Die Arbeit allein hat’s nicht gemacht,“ wehrte er ungeduldig ab.

„Na ja, ich glaube es ja. Die dumme Geschichte steckt Ihnen immer noch im Kopf. Einmal aber muss man doch vergessen. Sie haben sich doch ein ganzes Jahr lang betäubt.“

Er winkte ihr ab, und sie sprach nicht weiter darüber. Er wusste am besten, weshalb er die Erinnerung nicht zu bannen vermochte, die mit ihrem schwermutsvollen Gesicht immer wieder zurückkehrte und eine Zufluchtsstätte in seinem Herzen fand. —

Er ging früh zu Bett, ohne etwas zu essen, weil er keinen Appetit verspürte. Trotzdem der Spaziergang ihn ermüdet hatte, vermochte er nicht den Schlummer zu finden. Der Körper war matt, aber der Geist blieb frisch. Jedesmal, wenn er glaubte, langsam einzuschlafen, schreckte er jäh zusammen. Sein Herz schlug erregt, und so wälzte er sich, in Schweiss gebadet, stundenlang auf seinem Lager.

Von Angst gepackt erhob er sich, zündete die Lampe an und ging eine halbe Stunde lang durch das Zimmer, weil er hoffte, dadurch ruhiger zu werden. Vergebene Mühe. Kaum im Bett, floh ihn wieder der Schlaf. Abermals erhob er sich und öffnete das Fenster, um seinen aufgeregten Nerven die frische Luft zuzuführen.

Endlich gegen Morgen, als die ersten rötlichen Strahlen der Sonne sich ins Zimmer hinein verirrten, fand er den bleiernen Schlummer des abgematteten Menschen. Und so lag er bis gegen Mittag, erwachend aus einem wüsten Traum. Wundersame Dinge hatten sich abgespielt, auf die er sich allmählich erst besinnen musste, als er, die Hände unter dem Kopf verschränkt, einen dumpfen Druck hinter der Stirn verspürend, nach der weissen Zimmerdecke starrte.

Er hatte die Unbekannte im Walde gefunden, krank wie er, und plötzlich war seine verflossene Braut dazwischen getreten, war ihm um den Hals gefallen und hatte ihn mit sich fortgerissen, die Unglückliche mit Schmähungen überhäufend. Und so waren sie beide Arm in Arm fortgegangen und hatten die Leidende hilflos zurückgelassen. Die schwarze Nacht war herabgesunken, und stundenlang waren sie so gewandert, bis sie an einen tiefen Abgrund kamen, in den er allein hinunter sollte, und bei diesem schrecklichen Gedanken war er jäh erwacht.

Noch empfand er die Nachwirkung dieses letzten Vorgangs so sehr, dass er erst allmählich zu sich kam. Was für Tollheiten der unruhige Schlaf schuf. Aber er wurde nicht heiter dadurch gestimmt. Seltsam, dass die Traumwelt diese beiden Frauen zusammenführte, von denen die eine ewig für ihn verloren war und er die andere vielleicht niemals wiedersah. So spielte die erregte Phantasie dem gesunden Organismus die tollsten Possen. Aber es war doch ein schönes Gefühl gewesen, als er Thea Rossig wieder in seinen Armen gehalten, ihren heissen Atem verspürt und die alten Worte der Treue aus ihrem Munde gehört hatte.

Er wusste, nie würde diese Traumszene wieder verwirklicht werden. Würde seine Seele Befriedigung finden, wenn dieser Zufall einträte? Das freudige Gefühl, das einen Augenblick in ihm aufhellte, verlor sich sofort in seiner dunkeln Stimmung. Ein schwerer Seufzer irrte wie klagend durchs Zimmer.

Er sah wieder den Tag, wo er sie am Kurfürstendamm kennengelernt hatte. Im Hause der Riemanns, die alle Welt zu sich luden, um eine möglichst bunte Salontapete zu haben. Er nannte sich Fabrikant, machte aber stark „in Häusern“ und war in gesellschaftlicher Beziehung nur der Ja- und Neinnachbeter seiner Frau, die ihre Lebensaufgabe darin erblickte, Pärchen zusammenzuführen, deren gegenseitige Neigung sie witterte und von denen sie annahm, sie könnten zeitlebens zueinander passen. Alles hübsch in Ehren, ohne Provision und moralische Verpflichtung.

In dieser Beziehung hatte Frau Riemann immer das schöne Wort von ihrer grossen Lebensaufgabe bereit — frei nach Ibsen. Es gab mageres Büfett, schlechten deutschen Sekt und zum Schluss ein kurzes Tänzchen. Aber man ging doch gern hin, weil die Lustigkeit vorherrschte, immer etwas Neues zu sehen war und die girrenden Täubchen ein- und ausflatterten. Selbstverständlich unter einwandfreiem Familienschutz.

Es wurde auch musiziert und gesungen, und der Mittwoch-Abend war in dieser Beziehung der Schrecken der Nachbarschaft. Alles, was Talent in sich fühlte, konnte flöten, geigen und klavierfimbeln, wie der terminus technicus der boshaften Salonstreicher lautete, die sich vor jedem derartigen Angriff in die „Katakomben“ zurückzogen —, in die zwei dem Musikzimmer entferntest liegenden Räume, deren Türen mit Polster versehen waren, und wo der dicke Hausherr bei einer guten Importierten und echtem Hennessy sein beschauliches Dasein führte. Auf gute Zigarren und guten Kognak hielt er etwas, die Abfütterung überliess er seiner Frau, denn an solchen Abenden hatte er in der Regel schon vorher gut gespeist.

„Seien Sie vorsichtig, lieber Doktor, denn Thea hat ihre Mucken,“ hatte Frau Riemann zu Hauff gesagt, „Geld ist da, und Neigung für Sie auch, aber sie schielt gern nach anderen. Nur nicht lange bei der Vorrede aufhalten.“

Die Folge davon war, dass er sich nur noch rasender in Thea verliebte, in diese überschlanke Dunkelbrünette, die ihr Vogelköpfchen kokett nach allen Seiten wiegte, während sie so tat, als scherzte und spräche sie nur mit ihm allein. Sie war die Tochter eines Ingenieurs, dessen Fach Entwässerung war und der sich daher viel auf Reisen befand. Dadurch war ihre Erziehung etwas entgleist, und so nippte sie mit ihrer vergnügungssüchtigen Frau Mama in allen Salons herum.

Hauff gab seinen würdigen Eltern in Magdeburg den nötigen Wink, und so tanzte der asthmatisch veranlagte Obersteuerrat a. D. nebst Gattin eines Abends bei Riemanns an, um die Ausersehene diskret in Augenschein zu nehmen. Hauff senior gefiel nur der „Dreisternige“ und die Importierte mit der Leibbinde — für das übrige hatte er keinen Geschmack.

Um so behaglicher fühlte sich die Frau Steuerrat, die das Leben hier mit dem bekannten Dasein des lieben Gottes in Frankreich verglich. Die Hummermayonnaise, die bis zum Überdruss das kalte Büfett zierte, hatte es ihr besonders angetan. Sie fand zwar Thea etwas „windig“, um so angenehmer aber die Frau Ingenieur, deren riesige Brillantboutons ihren Blick immer aufs neue bannten. „Du musst es ja am besten wissen, mein Junge, wenn du sie liebst ...“ war schliesslich ihr letztes nachgiebiges Wort.

Die Verlobung kam auch richtig zustande. Drei Monate schwelgte Hans in stiller und lauter Wonne, als er einen anonymen Wink bekam, auf Thea ein aufmerksames Auge zu haben. „Machen Sie Ihrem Fräulein Braut nächsten Sonnabend zwischen elf und zwölf Ihre Aufwartung, dann werden Sie das Wunder erleben,“ schloss die ungelenkige Handschrift, bei deren Lesen ihm die Glühhitze ins Gesicht getreten war.

Er wollte es nicht glauben und wehrte sich mit der ganzen Macht des Mannes von anständiger Gesinnung gegen die Zumutung, die aus den fünf Zeilen sprach. Er zerriss den Wisch in Fetzen, der jedenfalls von irgend einem Dienstboten stammte, der einen Kaufmannsjüngling zum Schreiben bewogen hatte. Aber der Zweifel stieg wie ein dumpfes Etwas in ihm empor und begann die Eifersucht langsam zu nähren, bis sie seine guten Grundsätze wankend machte.

Zu derselben Stunde am Sonnabend wollte Mama Rossig mit ihrer Tochter ausfahren — das hatte man ihm zu verstehen gegeben. Beide wussten, dass er um diese Zeit gewöhnlich in der Königlichen Bibliothek war. Der Zweifel siegte über den Abscheu vor namenlosen Verdächtigungen. Am anderen Tage war man im Theater, wo er sich nichts merken liess. Aber am nächsten Tage, dem Sonnabend, eilte er zur angegebenen Stunde nach der Lützowstrasse. Sofort sah er dem Hausmädchen an, dass sie nicht recht wusste, wie sie sich zu verhalten habe. Das gnädige Fräulein sei unpässlich, so dass die gnädige Frau allein habe ausfahren müssen.

Er winkte die Anmeldung ab, klopfte leise, vertraut mit allen Räumlichkeiten und Gewohnheiten des Hauses, sofort an die erste Tür links, hinter der er Stimmen gehört hatte, und trat rasch ein. Wie aufgescheuchte Verbrecher stoben sie auseinander, Thea und ein bärtiger Herr, den er noch nie gesehen hatte. Ein hochgewachsener, hübscher Kerl, etwas viel Modekupfer mit einem Stich ins Schwerenöterische, und dem ewigen verbindlichen Lächeln.

Gegenseitige Verlegenheit, dumpfe Pause und Suchen nach Worten von seiten des Fräulein Braut. Um so mehr kraterte es aber in ihm, so dass er seine Fragen heiss hervorpolterte.

„Nun, du zu Hause? Du sagtest mir doch —.“

„Ich fühlte mich nicht ganz wohl —.“

Ihr Stammeln bestärkte ihn in seinem Verdacht, und so war er kaum Herr seiner Sinne. „Ich finde, dass du sehr wohl aussiehst.“ Dann mit einer Seitenwendung zu dem anderen, sich vorstellend: „Doktor Hauff.“

Sie schnell einfallend: „Gestatte, dass ich dir vorstelle: Herr, von Bülow, mein Cousin. Nach längerer Abwesenheit heute eingetroffen.“

Sofort wusste er, dass sie log, denn das irrende Lächeln auf dem Gesichte des anderen gab ihm die Ergänzung. Das Blut stieg ihm noch heller in die Wange, und er fühlte brennend, wie der bisherige Zweifel sich in sinnlose Kälte umsetzte. Das Schlimme war, dass er sie schöner fand, denn je. Heisse Leidenschaft loderte in ihm. Seine Knie zitterten, und seinen ganzen Körper durchzog jenes Erbeben, das das Unbegreifliche hervorruft.

„Seit wann hast du denn einen derartigen Cousin? Darüber hast du ja nie zu mir gesprochen.“

„Ich muss doch bitten,“ warf der andere ein.

„Bitten Sie später, ich werde Ihnen Gelegenheit dazu geben,“ hielt er ihm kurz entgegen. Dann wiederholte er um so eindringlicher seine Frage an sie.

„Mein Gott, man kann doch einen Cousin haben, den selbst ein Bräutigam noch nicht zu kennen braucht,“ gab sie zurück, gefasster geworden.

„Gewiss, das kann man,“ presste er bebend hervor. „Dann braucht man aber seinen Cousin nicht zu verheimlichen. Ihm vor allen Dingen kein tête-à-tête hinter dem Rücken von Mama und mir zu geben. Obendrein seine Anwesenheit durch Unpässlichkeit zu verdecken. Ich will dir die Wahrheit sagen: Fräulein Thea Rossig hatte die Liebenswürdigkeit, mich mit ihrem sogenannten Herrn Cousin in fein ausgeklügelter Weise zu hintergehen.“

„Herr —!“ brauste der andere wieder auf.

Hauff mass ihn stumpf vom Kopf bis zu den Füssen, zuckte mit den Achseln und wandte sich wieder an Thea.

„Wir sind noch nicht verheiratet,“ kam es kurz von ihren Lippen. Sie hatte sich rasch in alles gefunden, hob die Schultern und ging mit gemachtem Stolz durchs Zimmer.

Ihm war es, als risse man ihm langsam eine Binde von den Augen, was ihm Schmerzen bereitete. Lange starrte er sie sprachlos an, immer auf Worte wartend, die das Gehörte wieder gutmachen könnten. Dann, als er sich bewusst wurde, nicht falsch gehört zu haben, fand er allmählich seine Würde wieder, die ihm künstliche Ruhe gab.

„Sie haben recht, mein gnädiges Fräulein, wir sind noch nicht verheiratet. Wenn sich hinter diesen Worten ein Wunsch versteckt haben sollte, so soll Ihnen derselbe erfüllt werden. Da aber meine Ehre bei dieser Angelegenheit im Spiele ist, so werden Sie mir gestatten, noch eine letzte Auseinandersetzung mit Ihrer Frau Mama haben zu dürfen. Natürlich auch mit Ihnen, mein Herr.“

Eine stumme Verbeugung von seiten des anderen, ein kurzes: „Aber Hans, bist du toll!“ von Theas Lippen, das sich wie ein Vorschlag zur Versöhnung anhören sollte, und dann ging er mit einer Verbeugung nach zwei Seiten, ein Gefühlsgemisch mit sich hinaustragend, das aus Kummer, Ekel und nagender Eifersucht bestand.

Noch am selben Nachmittage liess sich Frau Rossig bei ihm melden. Es gab Auftritt Numero zwei, in dem eine tiefbetrübte Mutter, die ihre Tochter auf Irrwegen sieht, die Hauptrolle spielte. Thea hatte es vorgezogen, der zu erwartenden Anklage mit einem Geständnis zuvorzukommen. Hauff musste eine lange Rede über sich ergehen lassen, deren Kern darin bestand, dass Herr von Bülow ein entarteter Sprössling seines Namens sei, sich bereits früher stark für Thea interessiert habe, dass der Papa Ingenieur aber von einer Verbindung mit ihm durchaus nichts habe wissen wollen. Trotzdem habe Bülow Thea auf Schritt und Tritt verfolgt und förmlich eine Suggestion auf sie ausgeübt, so dass der Familienzwist nicht aufgehört habe.

Nun sei er plötzlich wieder aufgetaucht, nachdem er sich ein Jahr lang irgendwo im Auslande herumgedrückt hatte, weil „er musste“. Sie, Frau Rossig, sei ganz unglücklich darüber, denn sie sei völlig unschuldig an dieser Zusammenkunft in ihrer eigenen Wohnung, die Thea „dem Menschen“ nur noch einmal bewilligt, weil er sie darum inständigst gebeten habe. Sie habe mit Thea deswegen eine fürchterliche Szene gehabt und sich für verpflichtet gehalten, sofort zu ihm zu eilen, um ihn nicht in schlimmen Gedanken sitzen zu lassen.

Frau Rossig hatte sich so in Szene gesetzt, dass ihr die hellen Thränen flossen. Hauff war aber plötzlich ernüchtert. Er blieb auch fest, als er erfuhr, dass Bülow Berlin wieder verlassen habe, und als am anderen Tage ein langer Brief Theas kam, der viel von Reue und heiligen Versprechen enthielt. Frau Rossig hatte von ihrer Tochter nur gehört, er aber hatte gesehen, und dieser Eindruck in seiner Seele war nicht mehr zu verwischen. Der unzarte Trotz, den sie ihm entgegengesetzt hatte, war ihm wie die kalte Berechnung einer unverbesserlichen Kokette erschienen. Wenn sie ihn schon als Braut so hinterging, wie würde sie ihn erst als Frau betrügen.

Er hob die Verlobung auf. Es gab neue Thränen der Mama Rossig, aber er blieb standhaft. Thea fügte sich merkwürdig rasch in das Unvermeidliche, und das gerade gab seinem Herzen einen neuen Stoss. Hätte sie anhaltende Reue empfunden, so würde er wenigstens die Genugtuung mit sich herumgetragen haben, auch sie nicht ganz glücklich zu sehen. Ihre Gleichgültigkeit jedoch erfüllte ihn mit um so tieferem Schmerze, da er zum erstenmal wirkliche Liebe an ein Weib verschwendet hatte.

Er floh Berlin und ging nach Italien, wo er die Kunststätten durchzog und darüber für eine weit verbreitete Wochenschrift Reisebriefe schrieb. Er wollte überwinden, aber es gelang ihm nicht. Und so kam er als ein stiller Mann zurück, reicher an Kenntnissen und Erfahrungen, aber ärmer an Glauben an die Menschheit. Ein Schatten war in sein Gemüt gefallen, den niemand sah, dessen stete Begleitung er aber verspürte. Er wurde menschenscheu, kannte nur noch die Arbeit und passte sich mit innerem Widerwillen jener Geselligkeit an, der er von Berufs wegen nicht gut entgehen konnte.

Dann kam eine Zeit, wo er wie zum Trotz gegen sich selbst zu leben begann, um nicht ganz zu verdummen, wie er sich einredete. Eine kleine pikante Frau hatte es ihm angetan, die Gefallen an seiner Trübsal gefunden hatte. Ihr verheissungsvolles Lächeln war das Sesam, das ihm die verhaltene Lebenslust erschloss. Er folgte ihr wie ein Hündchen von Fest zu Fest durch die erlaubten Orgien der Berliner Gesellschaft, wartend auf den heissersehnten Lohn.

Es waren immer dieselben Wandelbilder: Salonstatisterie, verlogene Verbindlichkeit nach allen Seiten, Handküsse auf nicht mehr einwandfreies dänisches Leder, wenn’s hoch kam auf einen erhitzten Oberarm, Wein- und Sektrausch, dazu die bekannte Abfütterung grossen oder kleinen Stils, der herkömmliche Reigen, der die jungen Mädchen erhitzte und die „Drückeberger“ abkühlte. Die letzten Morgenstunden in irgend einem Café oder Pilsener, und dann bleierner Schlaf bis Mittag, wo statt des Appetits der Moralische kam, der bis zum Abend währte.

Einen ganzen Winter hindurch ging es so, Hauff kam aus dem Frack kaum heraus, so dass er sich einbildete, in ihm zu schlafen. Und als er dann die Belohnung von der „Pikanten“ weg hatte, die ihm sehr alltäglich vorkam, erschien ihm plötzlich alles wieder sehr schal und nüchtern, so dass er die Saisonrechnung noch einmal überflog und zu dem Ergebnis kam, wenig gearbeitet, aber viele Schulden gemacht zu haben.

Vater Steuerrat, dem gebeichtet werden musste, half aus, wofür Hans das heilige Versprechen geben musste, in die alte Bahn zurückzukehren. Schon der Nerven wegen! Denn damit hatte es plötzlich zu hapern begonnen, was Nelius, Hauffs Freund und ärztlicher Berater, durchaus nicht sehr wunderlich fand. Wenn das so weiter ginge, könnte „Hänschens“ einmal die Telegraphendrähte in seinem Körper summen hören, und das würde gerade kein angenehmes Gefühl in ihm erwecken, hatte der Praktikus hinzugefügt.

Alles das zog wie ein grosser Geistesflug an Hauff vorüber, während er nach oben ins Wesenlose starrte.

Die Stimme seiner Wirtin im Nebenzimmer und gleich darauf lautes Klopfen hinderten ihn am weiteren Träumen mit offenen Augen. Es war Doktor Nelius, der den Kopf hereinsteckte und dann, als er den Patienten munter erblickte, mit einem dröhnenden „Guten Tag“ ins Zimmer trat.

„Nun, die Kunstkritik liegt ohne Kater im Bett? Da ist das Stadium wohl bedenklich?“ begann er gemütlich, nachdem er Hauff die Hand entgegengestreckt hatte.

„So ist es, lieber Doktor, sie nimmt einen visionären Charakter an.“

„Das hat sie eigentlich schon in gefunden Tagen gehabt,“ fiel Nelius lachend ein und legte den glänzenden Zylinderhut nebst Stock mit silberner Krücke beiseite.

„Aber erlauben Sie mal.“

Doktor Nelius winkte ab. „Ich weiss schon, lieber Freund, was Sie sagen wollen. Auch was Sie bei sich denken. Ich sei natürlich wieder ein Böotier, der von den heiligen Aufgaben der Kritik nichts verstünde. Na ja, mag sein. Ich mache mir eben meine Kritik ganz allein. Den armen Kerl, den Sie neulich da heruntergerissen haben, der tut mir wirklich leid. Mir haben die Bilder sehr gut gefallen. Wenn Sie’s nicht geschrieben hätten, wäre ich überhaupt nicht hingegangen. Aber ich ahnte schon das Visionäre bei Ihnen. Es konnte ja auch gar nicht ausbleiben. Nach solchem Schlemmerleben ... Weiss schon, weiss schon — ich weiss überhaupt alles!“

Er winkte abermals ab. „Einen Augenblick.“ Er öffnete die Tür wieder und rief ins Nebenzimmer: „Er lebt, Frau Rat, keine Sorge. Edles Unkraut vergeht nie. Bitte also die Roggenmehlsuppe kochen zu lassen. Etwa drei kleine Tassen. Etwas durchschlagen.“

„Soll alles prompt besorgt werden, Herr Doktor,“ klang es zurück.

Dann klappte die Tür wieder, und Doktor Nelius stellte sich nun dicht an das Bett, betrachtete Hauff prüfend und fühlte dessen Puls, während er auf seine Uhr blickte. Frau Kolbe hatte bereits am frühen Vormittag aus Sorge um ihren Mieter zu ihm geschickt und ihm die nötige Aufklärung gegeben.

„Was soll ich trinken? Mehlsuppe?“ fragte Hauff etwas verblüfft.

„Aus Roggenmehl sogar, lieber Freund,“ fiel ihm Nelius, ernst ins Wort. „Wir fangen genau wieder damit an, wo wir vor einem Jahre aufgehört haben. Ihre Zunge sieht nicht sehr vertrauenerweckend aus, und der Puls soll durchaus nicht so bleiben. ,Der Magen ist der Tyrann des Menschen‘, sagte der selige Homer schon, aber wir wollen ihn schon kriegen — den Tyrannen nämlich ... Nun aber schleunigst heraus, wenn ich bitten darf. Die Nerven sind nicht dazu da, durch Stilliegen gemästet zu werden. Das sind Revolutionäre, denen man am besten durch Bewegung die Mucken austreibt. Geheime Versammlungen werden hier nicht geduldet. Daraus entsteht nur eine gesundheitswidrige Grübelsucht. Also wenn ich bitten darf — stöhnen Sie nicht, ächzen Sie nicht, sondern erheben Sie Ihren kunstbegeisterten Korpus so schnell als möglich. Ich werde mir einstweilen nebenan Ihre Bücher von aussen ansehen. Dabei kommt man manchmal auf bessere Gedanken, als wenn man sie liest.“

Er griff wieder zu Hut und Stock und verschwand im Nebenzimmer, während Hauff, ermutigt durch diese humoristische Unterhaltung, sich schleunigst erhob, um sich zweckmässig anzukleiden.

Die Madonna vom Grunewald

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