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Joana

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Sie fühlt sich müde und so schwer, dass sie nicht gerne die Augen öffnen möchte. Wenn nur der eigenartige Geruch nicht wäre …

Irgendetwas riecht nach Zement, irgendwie auch nach Hund. Sie fröstelt, will die Decke höher bis zu den Ohren ziehen, obwohl die Nacht so herrlich mild nach dem wärmsten Tag dieses Sommers war. Der schönste Tag ihres Lebens, wenn sie es richtig bedenkt.

Diese Decke? Welche Decke hat sie da bloß gegriffen? War sie so betrunken? Trunken vor Glück. Oh ja. Das wird Luisa nicht glauben …

Über ihre Haut zieht ein merkwürdiger Schauer. Ob sie Fieber hat? Eine Sommergrippe ist nicht das, was sie jetzt braucht. Nicht jetzt …

Verdammt, warum ist es heute Nacht so dunkel?

Die Ziffern ihres Weckers kann sie gar nicht erkennen. Im Halbschlaf will sie auf den verchromten Fuß der Nachttischlampe schlagen. Dieses Modell reagiert auf bloße Berührung, und dieser Umstand ist für eine Eule unerlässlich. Eule, so wird sie von ihrer Freundin Luisa genannt, weil sie morgens so schwer eine Orientierung bekommt.

Sie schlägt ins Leere und langsam beginnt das Erwachen.

Mannomann? Sekt und in Schokolade getauchte Erdbeeren… Das konnte nicht gut gehen …

Da muss sie durch. Es gibt wahrlich Schlimmeres, schließlich war es einfach himmlisch mit Fabian. Endlich ein Mann, der nicht ihren Körper beschwert, sondern ihren Geist beflügelt. Himmlisch

beflügelt. Das Kuriose ist, er ähnelt Felix ein wenig, anderenfalls wäre er ihr womöglich gar nicht aufgefallen. Felix hatte sie verlassen, wegen dieses zudringlichen Stalkers. Inzwischen ist sie darüber gar nicht mehr so traurig.

Halbwach tastet sie über ihren Körper. Nackt ist sie nicht. In der Regel erinnert sie sich an das erste Mal mit einem Mann. Dieses Mal nicht.

Noch einmal versucht sie sich zu orientieren. Wohl ist ihr nicht mehr.

Irgendwo in der Nachbarschaft schlägt ein Hund an. Ein dumpfes Bellen dringt durch die Wände.

Joana. Joana. Nicht einmal das Fenster hast du geöffnet.

Niemals zuvor hat sie dieses Bellen gehört. Kleine Köter gibt es viele in der Nachbarschaft, Schoßhunde, die von ihren Frauchen lächerlich herausgeputzt mehrmals am Tag auf die angrenzende Rasenfläche vor dem Kulturhaus geführt werden, auf dessen Dach sie aus ihrer kleinen Wohnung schaut. Dieses dumpf-donnernde Bellen gab es bisher nicht.

Schwerfällig setzt sich Joana Marley auf. Zum ersten Mal spürt sie, dass es nicht ihr Bett ist. Dass es nicht ihr Zimmer ist. Nicht ihre Wohnung mit den großen Fenstern zur pulsierenden Stadt, durch die immer ein Lichtschein fällt. Immer … Sogar in jener Nacht, als die Stadt ins totale Blackout fiel, zeichnete das Fenster beim Blick zum Himmel ein helles Rechteck in die Dunkelheit …

Ein Geräusch! Eine Art Schleifen, ein merkwürdiges Knacken. Es scheint, als kommt es von oben. Kürzlich ist über ihr ein Behinderter eingezogen. Sie glaubte lange, er lebt allein, dabei wusste ihre Nachbarin, er pflegt seine todkranke Mutter …

So sehr sie sich wünscht, sie möge nicht mehr alleine sein, so sehr fürchtet sie sich vor dem, was sie zu ahnen beginnt. Irgendetwas stimmt nicht …

Jemand atmet schwer ganz dicht bei ihr. Blitzartig fährt Joana herum und tastet um sich. Hier, wo sie ist, ist nichts als Dunkelheit und Fremde.

Sie ist hellwach. Es ist ihr eigener Atem, der sie erschreckt hat, weil er in einem vermutlich hohlen Raum hohl klingt.

Über ihrem Kopf erneut dieses Schleifen. Es kommt ihr auch vor, als bellt der Hund besonders tief und mit viel Resonanz direkt vor ihrer Tür. Absurd der Gedanke, sich rasch irgendwo zu verkriechen. Wo denn bloß?

Offenbar ist sie in einer fremden Umgebung. Sie weiß nicht, wo ihre Kleider sind und sie weiß nicht, wohin sie womöglich fallen könnte, sollte sie sich nur einen Schritt von dieser Stelle weg bewegen. Bisher war sie hier offenbar sicher.

Sie hätte sofort laut rufen sollen. Inzwischen ist da draußen Ruhe, es wird sie wahrscheinlich niemand hören. Ein leises Krächzen löst sich von ihren Stimmbändern, die nie so verkatert klangen wie eben jetzt, wo sie kräftig schreien sollten.

In ihrer Anspannung hat sie gar nicht gespürt, wie ihr Herz rast und bei jedem Schlag hart gegen die Rippen pocht. Kein guter Moment, um klar denken zu können. Sie muss all ihre Sinne zusammennehmen. Was ist geschehen …?

Luisa hatte am Abend angerufen. Wie so oft hat sie gewettert: Du kennst den Kerl doch gar nicht!

Luisa war in ihr Leben gestolpert, wie Luisa zumeist zu stolpern beliebt. Sie sahen sich eines Tages ganz unverhofft, wie ihr schien. Luisa lächelte, als blickte sie in das Gesicht köstlichster Kindheitserinnerungen. Sie war in strahlendes Weiß gekleidet. Ihre Augen leuchteten wie Vergissmeinnicht im Abendlicht und die perlweißen Zähne hinter den tiefroten Lippen waren makellos. Was Luisa von ihr wollte, weiß sie bis heute nicht. Immer wenn sie sie fragt, weicht Luisa lächelnd aus. Sie weiß noch genau, wie das fremde Mädchen ohne Unterlass redete, derweil ihr eigenes Höchstmaß an Mitteilung darin bestand, den Kopf zu schütteln oder dem aschblonden Mädchen nickend zuzustimmen. Manchmal vor Staunen beides zugleich.

Tatsächlich gelang es Luisa, dass sie so etwas wie Freunde wurden. Sie war nicht gerade der Typ Mädchen, mit dem sich Joana eine Blutsbruderschaft erträumt hätte. Illusionen macht sie sich keine, dass ihr ideeller Menschentyp zuhauf zu finden wäre. Zu zweit in einer fremden Stadt ist es allemal besser als ganz allein, einsam und womöglich verbiestert. So sah es nach ihrer Flucht von zu Hause schließlich aus. Nicht vor dem Zuhause war sie geflüchtet, auch wenn sie überstürzt die neue Stelle in der Lausitz angenommen hatte. Es war dieser Stalker, der sie beunruhigt hat. Leider ebenso der Ärger über Felix, der ihr den Stalker nicht glauben konnte …

Auf irgendeine Weise fühlt sie sich in dieser dunklen Stunde – oder sind es schon zwei oder drei? – wie damals beunruhigt. Was gibt es nur für perfide Methoden, einen Menschen von seinem Glück abzuhalten. Erst dieser Stalker, und jetzt …? Luisa? … Wahrscheinlich …!

Nach langem Grübeln und ermüdenden Blicken ins völlige Dunkel, gelangt Joana zu der Erkenntnis, dass ein Streich längst beendet sein müsste. Ein Streich ist ein Streich, keine Martyrium.

Langsam geht ihr die Sache zu weit. Aufkeimender Zorn schmerzt wie eine frische Wunde. Dahinter regt sich die erste Änderung, die sie hartnäckig in ihren Kopf hämmern muss, damit sie nicht in Vergessenheit gerät: Luisa darf sie nicht zu beherrschen trachten. Eine aufmüpfige Freundin kann ihrer jungen Liebe zu Fabian nur abträglich sein.

Diese entscheidende Konsequenz muss sie unbedingt in ihrem Bewusstsein verankern …

Im letzten Jahr war ihre Freundschaft mehr auf Abhängigkeit gegründet, als auf Eigenständigkeit oder gar Toleranz. Vermutlich ist das der Grund, dass sie das ganze Jahr über keinen einzigen Typ kennen gelernt hat – keinen, der es näher als eine Armlänge an sie heran geschafft hat. Als sie endlich begriffen hatte, dass sie von Luisa nie loskommen würde, dass sie nie einem Mann allein begegnen, schon gar keinem näher kommen würde, gab es diesen Wandel. Letztlich war es ein guter. Dennoch gab es einen ganz bestimmten Grund, warum sie sich - darin hatte Luisa Recht: Hals über Kopf – auf Fabian eingelassen hat …

Fabian. Ein seliges Lächeln löst sich von ihren Lippen. Sie spürt es genau, wie sie sanftmütig und locker wird ... Wärme fließt durch ihren Körper … Die Wärme des bezauberten Abends … Schon nach wenigen Stunden sehnt sie sich danach, dass sie dasselbe Gefühl noch oft erleben kann. Ihre innere Einsamkeit war wie weggewischt von seiner Nähe. Alles an ihm war ihr so vertraut, dass sie keine Sekunde zögerte. Im Gegenteil. Sie wartete nur darauf, dass er sich zu etwas Schönem bekannte. Sie musste ihm verschweigen, warum das so war. Nichts liegt ihr so fern, wie Aufdringlichkeit, egal in welchem Zusammenhang. Menschen, die ihr Innerstes ungefragt nach außen kehren, machen ihr Angst, wie dieser Stalker, dessen Namen sie nie mehr über ihre Lippen geschickt hat.

Dennoch: Etwas war anders als bei Felix, den sie geliebt hat, von dem sie letztlich enttäuscht wurde. Erst bei ihrem Date in ihrer Wohnung war es ihr aufgefallen. Fabians dunklen Augen und das exakt gestylte schwarzbraune Haar hatte wohl ihren Blick für den Unterschied verstellt. Fabians Mund scheint etwas zu sein, was man traurig schön nennen kann. Ebenso küsst er … Etwas unterscheidet ihn überdies von Felix. Seine sparsame Zärtlichkeit machte sie für einen kurzen Moment ganz traurig, ohne zu wissen, warum.

Noch immer kann sie ihre Gedanken nicht losreißen von seinem Angesicht, kann ihr Gefühl nicht verdrängen, wie sie seinen Schutz genossen hat, seine Wärme und Güte, seine nachtwandlerischen Schritte. Wenn er wüsste, wie sehr sie ihn jetzt vermisst …

Joana setzt sich auf die Kante des Bettes oder worauf immer sie aus einem komaartigen Schlaf erwacht ist. Sie zieht die Beine an und schlingt beide Arme um die Knie. Die Erinnerung an den Abend ist das Beruhigende, das Schöne, das Zuversichtliche. Das lässt sie Luisa dummen Streich verzeihen. Zugleich macht die Sache den Verlust der Freundin leichter. Tief unter der Haut fröstelt ihr dennoch. Sie weiß nicht, ob es die Kühle des Raumes ist, oder die quälenden Gedanken sind, die sie nicht zulassen will, nicht gegen Luisa …

Noch nicht.

Es gibt zu viele Fragen, mit deren Beantwortung sie nicht im Reinen ist. Weshalb ist Luisa an diesem Abend – nicht wie vermutet – bei ihr aufgekreuzt, um Fabian in Augenschein zu nehmen? Zumindest hatte sie wie erwartet unter einem Vorwand angerufen – vor dem Date.

»Du machst also ernst.« Ihre Stimme klang scharf. Immerhin war das Vibrieren tief in Joanas Herz gedrungen. Niemals würde sie leichtfertig tun, was ihre Freundin tief verletzen könnte, aber in diesem Falle …?

Luisa ist für viele ihrer Lebenspläne ein unsicherer Kandidat, wenngleich sie eine treue Freundin gewesen ist – bis jetzt.

Sie hatte zu früh angerufen. Fabian kam kurz nach zehn. Sie hat gesagt, sie hätte Angst um mich. Es war rührend. Luisa hatte jedoch keine Angst. Sie war wütend, und vielleicht war es das, was mir gesagt hat: Jetzt erst recht. Niemand hat ein Recht darauf, einem Menschen, den er als Freund ansieht, das Glück zu versagen. Niemand. Nicht einmal der ärgste Feind …

Im Nachhinein begreift Joana, dass ihre abstrusen Gedanken über Luisa eine tiefe Berechtigung haben. Sie ahnt, dass genau dieser Zustand typisch für ihre Freundschaft werden könnte – sofern die Freundschaft überhaupt noch länger Bestand haben kann. Wenn Luisa nicht bald kommt und Schluss mit dem Blödsinn macht, kann sie für nichts garantieren …

Die Nacht muss längst vorüber sein. Wie spät kann es sein? Egal. Luisa wird gleich kommen und sie wird sehr theatralisch erzählen, wie sie mich aus den Klauen eines mädchenverschlingenden Ungeheuers befreit hat. Diesmal werde ich nicht über ihre Dreistigkeit hinwegsehen. Diesmal nicht … Fabian wird es verstehen. Fabian ist anders als alle Männer vorher.

Ganz sicher macht Luisas dummer Streich die Sache mit Fabian einfacher. In diesem Falle kann Joana ihrer Freundin einmal die kalte Schulter zeigen und sich ihre eigenen Sehnsüchte erfüllen, in denen Luisa nur mittelbar vorkommt. Seit kurzem hat sie Fabian und sie ist so froh, einen so sanften, gutherzigen und äußerst ansehnlichen Mann getroffen zu haben …

Warum sie dennoch umdisponiert hatte, wie Luisa es nennen würde, bleibt unergründlich. Aber sie hat. Sie war nicht zu Fabian gegangen, wie er es vorgeschlagen hatte. Sie hat ihn zu sich kommen lassen. Gegen jede Gewohnheit…

Wie viele Stunden wartet sie nun schon in dieser widerlichen Dunkelheit? Vorsichtig setzt sie einen Fuß auf den Boden. Den zweiten. Zentimeter für Zentimeter tasten ihre nackten Zehen den Untergrund ab, derweil die Arme weit ausgestreckt den oberen Spielraum ertasten. Nach einem halben Meter schlägt ihr Schienbein gegen etwas Knisterndes. Sie stößt es beiseite. Es scheppert. Nach Minuten sinnlosen Fühlens trifft ihre Handfläche auf eine kalte Wand. Diese Kühle sagt ihr, sie befindet sich nicht auf gleichem Niveau wie das Leben an sich. So, wie sie sich nicht auf gleichem Niveau versteht, das Luisa zu diesem blöden Scherz veranlasst hat.

Bei dem ganz banalen Gedanken an Luisa zuckt ihr Körper. Auf ihrer Kopfhaut bilden sich kleine Pusteln.

Was, wenn Luisa etwas zugestoßen ist. Es kann nur so sein. Wie schnell erwischt es einen Menschen und er kann nicht zu Ende bringen, was er leichtfertig angezettelt hat …Vielleicht ist sie verletzt … gestürzt … im Aufzug stecken geblieben…

Wieder das Schleifen und der Hund bellt aufgeregt. Das Knacken über ihrem Kopf gleicht dem eines Mauerbruches. Instinktiv hebt sie beide Arme und schützt ihren Kopf … Unverhofft trifft sie ein Lichtschein, der weniger Hoffnung bringt, als zu erwarten wäre. Er trifft ihre Augen und schmerzt wie Messerstiche. Willenlos vergräbt sie ihr Gesicht in die eiskalten Hände. Sie krümmt sich in die schützende Dunkelheit, kann ein Jammern nicht mehr unterdrücken. Durch den winzigen Zwischenraum ihrer Finger erkennt sie, wie von oben her eine Metallstiege herunterstößt, in deren Sprossen ein Seil klemmt. Sie hört diesen Hund. Er bellt jetzt nicht, er knurrt ärgerlich, wie sie meint. Sie sieht, wie ein Fuß rücklings die erste Sprosse erreicht und sie hört, wie ein Mund etwas flucht …

Ganz langsam gewöhnen sich ihre Augen an dieses Licht, das oberhalb der Luke den nahenden Körper umspielt, als sie die Hand am rechten Holm ausmacht, die eine stählerne Klinge umschließt …

Im Verlies

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