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Im Verlies

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Zusammengekrümmt mit aufgeschrammter Haut an Knien uns Ellbogen liegt Joana auf dem Ding, das schon mehr als eine Nacht und wie es scheint schon mehr als einen Tag lang ihr Bett war. Die lädierten Stellen brennen wie Feuer. Der lose Beton in den Wunden tut das Seine.

Wenigstens hat sie jetzt Licht. Sie kann hin und her laufen und ihre Wunden waschen. Und sie erkennt ihre Uhr. So gesehen geht es ihr wahrscheinlich besser als jedem anderen Opfer eines dieser perversen Schweine, die ihre Geiseln anketten.

Sie hat keine Ahnung, ob sie richtig fühlt. Wenn sie seinen Worten folgt, ist er ein Schwein. Bis zu dieser Minute – die Uhr zeigt immerhin gleich Mitternacht – ist er noch nicht zurückgekommen. Beruhigend kann sie das nicht finden. Je später der Abend, desto gieriger diese abartigen Typen.

In ihr ist wieder die Angst, die dunkle bedrohliche Angst vor der Macht, die von diesem Kerl ausgeht.

Er hockt da oben irgendwo und brütet seine perfiden Ideen aus, was er alles mit dem ängstlichen Häschen im kalten Verlies anstellen kann.

Ihr scheuer Blick in alle Ecken dieses Kellers kann nichts erspähen, was ihr helfen könnte, sich zu wehren. Es ist vermutlich unklug, es noch ein einziges Mal körperlich zu versuchen. Was, verdammt, kann sie tun? Maximal subtil vorgehen. So ähnlich hat es ihr der Rechtsanwalt damals geraten, bei dem sie vorstellig werden musste, weil dieser Stalker mehr als nur lästig geworden war.

Joana spürt jede Minute, die ungewiss bleibt, was in Kürze mit ihr geschieht. Sie fühlt sich wie ein verängstigtes Kind, das nach einem bösen Traum keinen Schlaf mehr findet.

Neben dem Klo über dem winzigen Waschbecken hängt ein ebenso winziger Spiegel. Mühsam schleppt sie sich bis dorthin, weil ihre Muskeln den Dienst versagen, weil ihre Nerven den Körper vibrieren lassen. Kaum, dass sie ihr Gesicht vollständig betrachten kann, weiß sie sofort: Die Ausstrahlung einer selbstbewussten Frau, der man nachsagt, sie sei schön, ist dahin.

Warum weigere ich mich, ehrlichen Herzens zu glauben, es habe mit Luisa zu tun? Hat dieser Dreckskerl nicht selbst von Luisa geredet? Ist es so, wie vermutet? Aber warum tut er dann nicht, was Luisa bezweckt?

Von ihren eigenen Gedanken angewidert weicht sie zurück und fällt beinahe über die Kloschüssel. Das, woran sie gedacht hat, wird leider früh genug passieren, vermutlich öfter als sie ertragen kann. Da hilft nichts zu beschönigen, wenngleich er es sich fürs Erste anders überlegt hat. Es ist beängstigend, an eine Ausnahme zu glauben, zugleich schierer Selbstmord, an keine zu glauben.

Es wird einen Grund geben, dass er sie heute noch in Ruhe lässt. Es kann nur ein besonders boshafter, ein besonders niederträchtiger sein, ein schmerzlich entwürdigender … Er wird mich nicht in Ruhe lassen. Welchen besonderen Grund kann es also geben? Meine Eltern sind nicht so reich, dass es um Geld gehen könnte, und woher sollte dieser Kerl wissen, wo sie wohnen und wo er seine Erpressung erfolgreich platzieren kann? Die beiden haben sich ein wirklich schönes Leben aufgebaut. Wer lässt sich das gerne kaputt machen, noch dazu von einem solchen … Miststück …! Widerling…! Dreckskerl…!

Eine kleine Hoffnung sagt ihr, der Schlag in die Weichteile hat seinen Trieb unterbunden, abgeschnitten von seinem zwanghaften Willen.

Er wird es ihr heimzahlen. Er wird sie bestrafen mit allem, was in seiner Macht steht. Das ist beileibe nicht wenig …

Sie greift nach dem Korb mit all den Dingen, die er für sie schon in der letzten Nacht bereitgestellt hat, aber vergessen hatte, das Licht anzulassen. Einer, der ehrlich gewollt hätte, dass sie nicht hungert oder durstet, hätte daran gedacht …

Sie schleudert diesen lausigen Trick vorgetäuschter Menschlichkeit in die linke Ecke, wo keines der Gegenstände steht, die ihre kalte, widerwärtige Bleibe füllen, für die sich der Kerl so viel Mühe gegeben haben will. Es scheppert so laut, dass sie leichenblass für gefühlte fünf Minuten die Luft anhält und gebannt nach oben starrt, wo die Luke jeden Moment aufgehen und die ekelhafte Fratze herunter glotzen wird.

Wahrhaftig, sie sollte etwas essen, aber sie traut dem Widerling nicht über den Weg. Irgendwie – durch irgendetwas – muss er es schließlich geschafft haben, sie zu betäuben und in dieses Verlies zu schleppen. Ihr Körper zeigt nirgendwo einen Einstich …

Ihre Lippen sind blutleer. Sie weiß, sie bräuchte auf diesen Schreck etwas Alkoholisches, was wenigstens für diese Nacht die Schärfe aus der widerlichen Lage nehmen könnte. Davon hat der Mistkerl leider nichts eingepackt – jedenfalls allem Anschein nach, sofern sie den Haufen Matsch aus Brotresten, Wurst und Käse, eingeweicht in etwas bräunlich Flüssigem, weil es sich offenbar beim Aufprall mit Honig vermischt hat, nicht missdeutet. Dieses bräunlich eklige Chaos klebt inzwischen dort in der Ecke, drapiert mit etlichen Glas- und Porzellanscherben.

Zögerlich gleitet Joana zurück auf die Liege. Zum ersten Mal weint sie still in sich hinein. Die raue Decke um ihren Leib geschlungen, krümmt sie sich zu einem hilflosen Embryo. Irgendwie ist ihr, als sei der Tag gekommen, sich innerlich von ihrer geliebten Welt zu verabschieden. Beißender als Hunger und Durst sind die Einsamkeit wie die Ungewissheit, ob sie draußen vermisst wird. Wenn sie nur wüsste, welche Rolle Luisa spielt.

Wie sie es auch dreht, nur Luisa wusste von ihrem Date mit Fabian. Und nur Luisa hatte dagegen Bedenken. Ein herber Schlag, wie man von einem so glücklichen Abend in einen so verdammt schmerzlichen Morgen kommen kann …

Was dieser miese Kerl vorhat, der irgendwo über ihr seine Wunden leckt, weiß sie nicht. Zu vermuten ist vieles. Das Schlimmste ist der Gedanke an erzwungene Sexualität. Schon immer war ein solcher Gedanke ein Alptraum für sie. Seit sie das Messer gesehen hat, kommt ein zweiter dazu. Warum ihr ausgerechnet Luisas Spruch einfällt, will sie gar nicht wissen. Er gehört zu ihrer Abscheu. Hätte sie etwas im Magen, wäre sie froh, es auskotzen zu können. Bei Schweinen dauert der Orgasmus eine halbe Stunde lang.

Sie weiß nicht, ob es eine Weisheit der Natur ist oder nur Ausdruck von Luisas Hass auf – wie sie einmal sagte - sexbesessene Hurensöhne. Sie will Luisas offenkundig absurdem Orakel keine Beachtung schenken, kommt allerdings nicht umhin, darüber zu grübeln, ob sie mit Fabian Sex hatte und wie es war mit ihm. Es muss etwas in ihr sein, was sie den Abend vergessen lässt. Da hat sich dieser Kerl getäuscht. Sie hat nur die wiederholbaren Dinge vergessen, die passiert sind, als sie selbst sich vergessen hatte. Sie sehnt sich so nach Fabian, er ist der größte Verlust.

Sie sucht nach Bildern, die der Abend in ihr hinterlassen hat. Sie sucht nach Worten, die er ihr zugeflüstert hat, zärtlich, ohne anzügliche Blicke oder Andeutungen, ohne jegliche Beteuerungen. Fabian ist wirklich etwas Besonderes. Es muss ein Engel im Himmel seinen Dienstplan geschrieben haben, als er an ihrem Tresen stand und nach dem Patienten fragte, den er zu besuchen habe. Es war offenbar ein Notfall, denn der Mann wurde sofort mitgenommen. Wenn Fabian wüsste, warum sie so auf ihn abgefahren ist. Für eine kurze Zeit war es ihr sogar peinlich, später war sie sogar ehrlich froh über seine Ähnlichkeit mit Felix. Womöglich hätte sie niemals die Initiative ergriffen.

Mit Felix hatte sie zwar innerlich abgeschlossen, aber es tat noch immer weh. Nicht, weil er ihr ein heimliches Verhältnis zugetraut hatte, schlimmer war, dass er sie verlassen hat, als alle Welt wusste, es handelte sich um einen krankhaft Verliebten.

In ihrem Dilemma kann sie nicht anders denken, als dass Männer, deren Namen mit einem F beginnen, ihr womöglich kein Glück bringen.

Ganz fest will sie glauben, bei Fabian sei es anders. Fabian hatte – wie jeder andere Mann es getan hätte – die Gelegenheit genutzt, die sie ihm geboten hatte.

Später war er noch einmal an den Empfangstresen gekommen, weil er gerade in der Nähe zu tun gehabt hat. Ihr war in diesem Moment, als würde sie etwas Wichtiges im Leben verpassen, wenn sie nicht tut, was sie normalerweise verabscheut.

»Wenn Sie in der Nähe sind, kommen Sie gerne mal auf einen Drink herein, Herr … «

Gerade rechtzeitig konnte sie »Doktor« unterdrücken. Zum Glück. Es wäre fatal gewesen, ihn glauben zu lassen, sie spricht ihn nur an, weil sie nach einem gutsituierten Mann sucht, was bei ihrem täglichen Umgang mit Menschen größter Anspruchshaltung verständlich wäre. Die Gäste ihres Hauses haben in der Regel eine große Anspruchshaltung.

Joana spürt, wie die Gedanken an das wirkliche Leben ihre Misere überdecken. Sie muss ein Weilchen an das Schöne im Leben denken, sonst wird sie verrückt.

Die Erinnerung an den ersten vorsichtigen Abend mit Fabian kommt wesentlich schleppender in ihr Gedächtnis zurück …

Sie saßen in der Piano-Bar. Das war unverfänglich. Hier gehörte sie hin, obwohl es das erste Mal war, dass sie in Begleitung das Haus ihres Dienstherrn zu ihrem Vergnügen besuchte. Kein Gedanke, sie hätte sich wegen Luisa für das eigene Haus entschieden. Immerhin hatte Luisa so viel Einsehen hier noch nie aufzukreuzen. Sogar ihr spätes Heimkommen hat sie vor Luisa gut begründen können. Nicht, dass sie es müsste. Es gehörte zu ihrer Freundschaft, sich viel vom Tage zu berichten. Luisa wusste, es gab mehrmals Abende, wo sie nicht vor Mitternacht zu Hause sein konnte.

»Was machen Sie außerdem so …? Model, wie ich vermute«, flüsterte Fabian lächelnd. Seine dunklen Augen strahlten kleine silberne Sternchen über den Tresen und sein schmal gefaltetes Einstecktuch passte im Ton genau zum Hemd unter dem dunkelblauen Sakko. Neidlos musste sie zugeben, dass die wenigsten Männer diese Kombination wählen. Die meisten kaufen Krawatte nebst Einstecktuch im gleichen Farbton, worüber sich Herr von Perl maßlos echauffiert. Herr von Perl ist der neue Empfangschef, der vom Mutterkonzern in den Osten geschickt wurde, um das Gesicht des Unternehmens zu formen, wie er es formuliert. Ein Teil des Gesichtes dieses Unternehmens antwortete dem faszinierendsten Gesicht, das sie je bei einem Mann gesehen hat, unter Herzklopfen: »Mit Schleimspuren hätte ich bei Ihnen nicht gerechnet.«

Kaum hatte sie die Worte gesagt, bereute sie. Er hatte seinen Kopf gesenkt und sein Mund nahm eine Traurigkeit an, die sie gottlob zwischen Zärtlichkeit und Nachsicht einzuordnen verstand.

»Womit hätten Sie eher gerechnet? «

»Das weiß ich nicht. Sie sind ja nicht irgendein Müllfahrer oder Bierkutscher …«

Joana müht sich ab, all die Erinnerungen in ihrem Kopf zu ordnen. Minutiös ist das unter diesen Umständen zwischen ängstlichem Lauschen nach oben und ihrem sturen Willen zum Widerstand nach innen kaum möglich. Warum sie solch seltene Schwierigkeiten hat, klar zu denken, liegt auf der Hand: Dieser Mistkerl hat sie willenlos gemacht mit irgendeiner Substanz! Sie hat dieser Substanz noch keine Chance gegeben, sich zu verdünnisieren. Seit dem Abend mit Fabian hat sie noch keinen Schluck getrunken und das, was sie hätte trinken können, fließt braun und eklig gerade hinter ihr über den rohen Beton.

An etwas erinnert sie sich, obwohl sie nicht weiß, warum Fabian sie das hat fragen können.

»Wie kommt es, dass eine wie Sie allein lebt?«

Dass sie allein lebt, hatte sie bestimmt nicht leichtfertig ausgeplaudert. Da war sie ein gebranntes Kind. Ganz gewiss hatte sie mindestens Luisa erwähnt. Die Angst vor dem Stalker war sicher einer der Gründe, warum sie Luisas große Nähe weder ablehnte noch verschwieg, obwohl es durchaus ein µ weniger Nähe sein könnte. Zugegeben, es gab Situationen, wo sie Luisa gerne vorschob, um sich vor einer klaren Ablehnung zu drücken. Bei Fabian war alles anders. Dennoch bluffte sie, ohne zu wissen, nur um zu erfahren:

»Das frage ich mich in Ihrem Fall auch – oder wollen wir Du sagen?«

Auf ihre versteckte Frage nach dem Du antwortete er nicht. Ihr war es, als nahm sein Mund – sein ganzes Gesicht – den Ausdruck von Beschämung an.

»Gilt ein Mann schon deshalb als verdächtig, nur weil er allein lebt. Muss man dafür Ausreden erfinden oder sich gar entschuldigen?«

Über das Alleinsein wollte sie mit ihm nicht reden, obwohl er darüber offenbar weniger beschämt sein würde. Ihm diesen Vorschlag zum Du zu machen, war schließlich allein ihre Sache, nicht seine.

Es war genau der Moment, in dem ihre wohltuende Empfindung einem ersten starken Bedürfnis gewichen war, dem Bedürfnis, er möge ihr Gesicht in seine zärtlichen Hände nehmen. Beim Du küsst man sich gewöhnlich …

Joana schaut sich um. Es gibt kein Fenster und keine Tür, nur die Luke über ihrem Kopf zeichnet ein kaum merkliches Viereck in die Decke. Insofern hatte dieser Dreckskerl Recht. Ohne ihn ist kein Entkommen, aber ohne weibliche List besteht nicht einmal die minimale Chance für eine Chance. Sie ist weggesperrt von ihrem Leben, von ihrem Beruf, von ihren Lieben. An ihre Eltern mag sie gar nicht denken. Sie kennt ihre Mutter. Sie war schon einigermaßen kopflos, als ihre einzige Tochter ausgezogen war. Später, als sie ausgerechnet in den »lausigen Osten« zog, wäre Mutter prompt in ihre Nähe gezogen. Zum Glück ist ihr Vater ein durch und durch rationaler Typ, ein Versteher, ein Erklärer. Auch wenn sie in diesem Moment beide sehr vermisst, am meisten vermisst sie inzwischen Fabian…

Zum Glück gibt es die Hoffnung, dass er Himmel und Hölle in Bewegung setzt, sie zu finden. Zum Glück hat sie ihm zu verstehen gegeben, dass mit ihnen beiden etwas werden kann …

Warum musste sie gleich darauf an diesen Mistkerl geraten – oder er an sie, wie auch immer. Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Die erste scheint plausibel: Als Fabian gegangen ist, hat er die Tür nicht gut genug zugezogen. Ganz sicher hat er gewartet, bis sie schläft oder er war bei ihr geblieben, musste aber sehr früh zum Dienst … Sie weiß es einfach nicht, das macht sie so kirre.

Die zweite ist so widerwärtig, dass sie daran einfach nicht glauben will: Luisa hat sich heimlich einen Schlüssel … Nein, wie kann sie nur so etwas denken? Falls Luisa sich diesen üblen Scherz erlaubt hat, sie würde niemals einem so miesen Kerl die Gewalt über ihre besten Freundin überlassen …

Seit Luisa in ihr Leben getreten war, bestand die Zeit nicht aus den Dingen zwischen morgens und abends, sondern aus den Dingen zwischen Luisas Kommen und Luisas Gehen. In all der Hartnäckigkeit, in der die neue Freundin an ihr klebte, fasste sie eine merkwürdige, beinahe herzliche Zuneigung zu dem blonden, zarten Mädchen … Sie hatte nicht wirklich wissen können, dass die Gewohnheit einmal so klebrige Blüten trägt. Vielleicht war es das hoffnungsvolle Lächeln in Luisas Gesicht, das ihr sagte: Es ist besser, eine nützliche Freundin zu haben, als tausend untaugliche Liebhaber.

»Was hast du für Träume, Luisa?«, hat sie an einem sehr sonnigen Tag gefragt, an dem sie beisammen saßen und jeder still seine Sehnsüchte über den Fluss auf die andere Seite der Stadt sendete. »Hast du eigentlich einen Freund?«

Den letzten Teil der Frage musste Luisa großzügig überhört haben. Immerhin zögerte sie lange, ehe sie erwiderte: »Mit dir hier zu sitzen und zu reden, übersteigt meine Träume.«

Ihre zarten Worte passten nicht zur Urform Luisa Maritha, dennoch fielen sie wie Maiengrün auf Joanas wohlgeformte Schulter und ergossen sich bis in ihr mitleidiges Herz.

Das Bild des anhänglichen Mädchens, das vorzugsweise weiße Kleidung trägt, steht trotz der Düsternis dicht neben ihr. Sie kann sie überall sehen. An den grauen Wänden, auf dem rauen Boden. Sogar in ihren zerrissenen Gedanken tauchen jene zwei Silben wiederholt auf: Lui – sa. (Sie hatten sich gestritten. Luisa meinte, es seien drei Silben und Joana hat es großzügig hingenommen.) Im Moment kommt ihr Luisas Antwort viel eindringlicher vor als an jenem Tag: »Es ist sonst keiner da, der gut zu mir ist.«

Sie hat den Sinn dieses Satzes nicht sofort verstanden. Erst jetzt fällt ihr dazu etwas ein: Luisa hat Angst, eines Tages abermals alleine dazustehen, ohne eine Freundin. Ohne einen Freund.

Hat sie deshalb so vehement gegen Fabian gewettert?

Joana strafft ihren müden Körper. Ohnmächtige Wut ergreift ihr tolerantes Wesen. Mit all ihrer Kraft schreit sie das Vakuum zwischen ihren Ohren heraus: »Luisa! Lass endlich diesen Blödsinn. Es reicht …!«

Sie lauscht in die Dunkelheit. Nichts tut sich. Von der Anspannung schmerzen alle Muskeln und die Augen brennen wie Feuer. Sie sammelt den Restbestand ihrer verbliebenen Zuversicht ein, um die letzten Tage minutiös durchzugehen. Irgendetwas muss sie übersehen haben. Eine Kränkung wäre nicht ihre Art. Hat sie irgendetwas unterdrückt …? Unterdrückt! Sehr wohl hat sie etwas unterdrückt. Beinahe ihre eigenen Bedürfnisse. Beinahe wäre sie nicht mit Fabian zusammengekommen. Etwas gegen Luisa Gerichtetes kann sie bei all der Erkenntnis nicht ausmachen …

Luisa Maritha ist ihre einzige Freundin, seit sie in diese Stadt im tiefsten Osten geflüchtet ist. Nicht einmal zu Hause in Hamburg, wo sie verdammt viele Menschen kennt, hat sie einen wie Luisa gefunden, der so bedingungslos an ihrer Seite stand.

Es war kurz nachdem sie sich kennen lernten. Luisa wunderte sich, dass Joana sich wunderte.

»Hallo!«, hatte sie nur getönt. »Betone meinen Namen anders und sprich deutlich, dann weißt du, warum ich das für dich mache. Lui – Samaritha! Noch Fragen?«

Keine Fragen mehr, aber viele maßgeschneiderte Ratschläge von Luisa bekommt sie mit auf den Weg ….

Nach diesem kurzen Exkurs in ihr helleres Leben schaltet sich der Verstand wieder ein und sendet

einen Gedankenblitz: Bedingungslose Freundschaft ist das gar nicht. Hatte nicht Luisa eine Bedingung aufgemacht? Wenn du dich Hals über Kopf in ein Abenteuer stürzt, ohne mich! Und sage später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt …

Luisa kann sehr stur sein, wenn sie ein Ziel verfolgt.

Hat Luisa mit diesem Kerl einen Deal…? Warum sollte sie …? Immerhin. Dieses kleine Biest kann den Gedanken nicht ertragen, mich mit einem Mann teilen zu müssen.

Joana hatte sich beizeiten auf einiges gefasst gemacht – auf was genau, weiß sie gar nicht. Luisa konnte sie Tag für Tag aufs Neue verblüffen. Eines Abends türmte sie sich vor ihr auf und fragte, ob sie der Eindruck nicht täusche, dass sie – Joana – krankhaft introvertiert sei. Das war natürlich Unsinn, wenngleich das Gegenteil – das Extrovertierte - auf niemanden so zutraf wie auf Luisa. Besonders, wenn sie gerade eines ihrer Mantras bediente. Der Unsinn tat sein Übriges. Nach Sekunden atemlosen Schweigens, nach untauglichen Versuchen, sich die Lippen zu zerbeißen, hatte sie schließlich dieses Mädchen Luisa, das womöglich gar kein Zufall in ihre Hände gespielt hat, in den Arm genommen, versöhnlich. Das war der Beginn ihrer gar nicht so einseitigen Unzertrennlichkeit, die Luisa nun wegen Fabian verloren glaubt.

Zu jeder anderen Zeit würde sie Luisas absurde Idee als krank bezeichnen. In dieser totalen Abgeschiedenheit ist der erste Gedanke nicht der übelste: Das alles ist nur ein eifersüchtiger Mädchen-Streich.

Andererseits: Wenn es so wäre, hätte Luisa ganz bestimmt einen sympathischeren Kerl ausgesucht.

Was wird er da oben ausbrüten? Er kann sie wegsperren, er kann sie entmutigen, er kann ihr alles nehmen, nur nicht die Hoffnung.

Bevor sie endgültig der Schlaf übermannt, weiß Joana Marley tief in ihrem Herzen, dass es etwas gibt, was er ihr nicht nehmen kann und totsicher nicht nehmen will: Die Angst vor monatelanger Finsternis und Einsamkeit …

Im Verlies

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